Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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regierung stetig die Staatszuschüsse für die Ver- 
eine erhöhte, dieselben nicht zur Erfüllung der 
Aufgaben der Vereine hinreichten. Infolgedessen 
wurde schon von verschiedenen Seiten der Wunsch 
nach einer eigentlich berufsständischen Ver- 
tretung der Landwirtschaft mit Besteuerungs- 
recht ausgesprochen, welche in höherem Maße als 
die landwirtschaftlichen Zentralvereine in den für 
die Landwirtschaft wichtigen Fragen und Maß- 
regeln als beratendes und unter Umständen 
auch ausführendes Organ der Regierung 
zur Seite zu stehen geeignet wäre. So wurde 
unter dem 30. Juni 1894 das Gesetz betr. die 
Errichtung von Landwirtschaftskammern in Preu- 
ßen erlassen, welches zunächst die Errichtung der 
Kammern den Landtagen der einzelnen Provinzen 
fakultativ anheimgab. Allmählich sind in sämt- 
lichen preußischen Provinzen die Kammern ein- 
geführt. Auch eine Anzahl anderer Bundesstaaten 
außer Preußen sind zu der Einrichtung geschritten, 
so Baden. Hessen, Oldenburg, Braunschweig, 
Sachsen-Altenburg, Schwarzburg-Sondershausen, 
Anhalt. Andere Staaten werden nachfolgen. 
Als Aufgabe der Kammern wird in dem § 2 
des preußischen Gesetzes bezeichnet, „die Gesamt= 
interessen der Land= und Forstwirtschaft ihres Be- 
zirkes wahrzunehmen, zu diesem Behufe alle auf 
die Hebung der Lage des Grundbesitzes abzielenden 
Einrichtungen, insbesondere die weitere korporative 
Organisation des Berufsstandes der Landwirte 
zu fördern“. Wählbar in die Kammer sind nur 
ausübende Landwirte, und zwar Eigentümer, Nutz- 
nießer oder Pächter von Grundstücken, die zu- 
sammen mindestes eine Ackernahrung repräsen- 
tieren, sowie ehemalige Landwirte, sofern sie noch 
im betreffenden Bezirke wohnen, und Personen, 
welche mindestens zehn Jahre Vorstandsmitglieder 
bzw. Beamte von landwirtschaftlichen Vereinen, 
Genossenschaften und Kreditinstituten gewesen sind. 
Einzelnen Personen kann auch wegen ihrer Ver- 
dienste um die Landwirtschaft die Wählbarkeit 
verliehen werden. Außerdem hat jede Kammer 
das Recht, bis zu einem Zehntel ihrer Mitglieder 
nach beliebiger Auswahl zu kooptieren, während 
diese kooptierten Mitglieder aber nur beratende 
Stimmen haben. Das aktive Wahlrecht 
zur Kammer wird zunächst von den ländlichen 
Vertretern der Kreistage ausgeübt, nach § 9 des 
Gesetzes können die Kammern sich aber selbst auch 
ein anderes Wahlverfahren geben und in diesem 
Falle auch das Wahlrecht an kleinere Landwirte, 
die nicht im Besitz einer Ackernahrung sich befinden, 
verleihen. Wenn die Kammern eine umfassende 
Vertretung der gesamten Landwirtschaft bilden 
sollen, wird man mit der Ausdehnung des Wahl- 
rechtes nach unten recht weit gehen müssen. Die 
Kammern haben besonders auch das Recht, Aus- 
schüsse zu bilden, denen besondere Aufgaben zu- 
zuweisen sind. Die Kammern haben das Recht, 
zur Bestreitung ihrer Ausgaben bis ½% des 
Grundsteuerreinertrages von sämtlichen beteiligten 
Staatslexikon. III. 3. Aufl. 
Lassalle. 
  
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Landwirten einzufordern. In den meisten Landes- 
teilen, wo die Einrichtung der Landwirtschafts- 
kammern beschlossen worden ist, haben die letzteren 
die Funktionen der landwirtschaftlichen Zentral- 
vereine mit übernommen, und die letzteren sind in 
die ersteren aufgegangen. Die preußischen Land- 
wirtschaftskammern haben eine ständige Zentral- 
stelle mit eignem Generalsekretariat gebildet. Jähr- 
lich treten sie zweimal zu Konferenzen zusammen. 
Literatur. Mentzel u. v. Lengerkes Kalender; 
Jahresberichte der L.; Zeitschrift für Agrarpolitik; 
Korrespondenz der Zentralstelle der preuß. L. Vgl. 
auch Matthias Salm, Die deutschen L., in der So- 
zialen Revue, hrsg. von Retzbach IX (1909) 133 ff. 
LFaßbender.] 
Lassalle, Ferdinand, war am 11. April 
1825 zu Breslau von israelitischen Eltern geboren. 
Früh schon machten gewisse hervorstechende Cha- 
rakterzüge Lassalles sich bemerkbar: ein großes 
Maß von Selbstgefühl und Eitelkeit, ein bis zum 
unbeugsamen Eigensinn gesteigertes herrisches 
Wesen. Ursprünglich für den Handelsstand be- 
stimmt, machte er auf der Handelsschule zu Leipzig 
so geringe Fortschritte, daß der Direktor seine 
Entfernung von der Anstalt empfahl. Für das 
Universitätsstudium wurde er durch Privatunter- 
richt im elterlichen Hause vorgebildet. Nachtfrüh 
bestandener Reifeprüfung studierte er in Breslau 
und Berlin Sprachkunde sowie mit besonderem 
Eifer die Hegelsche Philosophie, welche einen großen 
Einfluß auf seine Entwicklung ausgeübt hat. Zu- 
gleich sog er die revolutionären Ideen des jungen 
Deutschland (s. Bd II, Sp. 593) ein. 
Nachdem Lassalle die Universität verlassen hatte, 
lebte er als Privatmann in Berlin und am Rhein, 
namentlich in Düsseldorf, der Heimat Heinrich 
Heines. Diesen lernte er (damals 20 Jahre 
alt) im Jahre 1845 in Paris kennen, wohin er 
sich begeben hatte, um das weltstädtische Leben zu 
genießen, aber auchum wissenschaftliche Forschungen 
in der griechischen Philosophie anzustellen. Heine 
fand großes Gefallen an dem geistreichen jungen 
Manne. Er nennt ihn das eine über das andere 
Mal seinen „liebsten, teuern Freund“. „Ich habe“, 
so schreibt er ihm, „noch bei niemand so viel Pas- 
sion und Verstandesklarheit vereinigt im Handeln 
gefunden. Wohl haben Sie das Recht, frech zu 
sein; wir andern usurpieren bloß dies göttliche 
Recht, dieses himmlische Privilegium. In Ver- 
gleichung mit Ihnen bin ich doch nur eine be- 
scheidene Fliege.“ In einem Briefe an Varnhagen 
von Ense (vom 3. Jan. 1846) entwirft Heine eine 
vollständige Schilderung von Lassalle. Er nennt 
ihn einen jungen Mann von den ausgezeichnetsten 
Geistesgaben, der mit der gründlichsten Gelehr- 
samkeit, mit dem weitesten Wissen, mit dem größten 
Scharfsinn, der ihm je vorgekommen, mit der 
reichsten Begabnis der Darstellung eine Energie 
des Willens und eine Habilitk im Handeln ver- 
binde, die ihn in Erstaunen versetze. Weiter findet 
sich in dem Schreiben die folgende bezeichnende 
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