Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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dukts und der Summe der Löhne und Ver- 
gütungen sämtlicher, auch geistiger Arbeiten, die 
in irgend welcher Weise zum Zustandekommen 
der Produkte beigetragen haben) zustehen solle." 
Im zweiten Teil seines Werkes versucht Lassalle 
eine neue Konstruktion des Erbrechts. — Bald 
nach Veröffentlichung des „Systems der erworbe- 
nen Rechte“ führte Lassalle eine außerordentlich 
heftige Polemik gegen die Literaturgeschichte von 
Julian Schmidt. 
Der Verfassungskonflikt der 1860er Jahre sah 
Lassalle auf der äußersten Linken; die Opposition 
der damals das preußische Abgeordnetenhaus be- 
herrschenden Fortschrittspartei war ihm viel zu 
zahm und platonisch. In verschiedenen Vorträgen 
über Verfassungswesen vertrat er den Satz, daß 
Verfassungsfragen nicht Rechts-, sondern Macht- 
fragen seien. Ein 1862 zu Berlin im Hand- 
werkerverein der Oranienburger Vorstadt gehal- 
tener Vortrag behandelte „den besondern Zu- 
sammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode 
mit der Idee des Arbeiterstandes“. Im Febr. 
1863 wurde Lassalle von dem Zentralkomitee zur 
Berufung eines allgemeinen deutschen Arbeiter- 
kongresses in Leipzig aufgefordert, ein politisch- 
soziales Programm für die Arbeiterorganisation 
zu entwerfen. Er tat dies durch das „Offene 
Antwortschreiben“, welches die Grundlage des 
am 23. Mai 1863 in Leipzig gegründeten All- 
gemeinen deutschen Arbeitervereins 
bildete, der ersten Organisation der sozialdemo- 
kratischen Partei in Deutschland. 
Der Ausgangspunkt aller Betrachtungen Las- 
salles in dem „Offenen Antwortschreiben“ war 
das sog. eherne Lohngesetz, das er nicht 
erfunden (s. d. Art. Lohn u. Marx), aber mit 
großer Zähigkeit verfochten und verarbeitet hat. 
„Das eherne ökonomische Gesetz“ bestehe darin, 
„daß der durchschnittliche Arbeitslohn immer auf 
den notwendigen Lebensunterhalt reduziert bleibt, 
der in einem Volke gewohnheitsmäßig zur Fri- 
stung der Existenz und zur Fortpflanzung er- 
forderlich ist. Die Folge dieses Gesetzes ist, daß 
von dem Arbeitsertrag dem Arbeiter nur die bare 
Notdurft als Arbeitslohn zukommt, der ganze 
Überschuß aber auf den Unternehmeranteil fällt. 
Mit der steigenden Produktivität der Arbeit ver- 
größert sich dieses Mißverhältnis zum Nachteil 
des Lohnes. Man möge dagegen nicht die besseren 
Einkommens= und Lebensverhältnisse unserer heu- 
tigen Arbeiter mit den Lohnverhältnissen der 
älteren Zeit vergleichen; solche Vergleiche sind 
wertlos. Was zu vergleichen ist, ist die Lage der 
arbeitenden Klasse mit der Lage ihrer andern Mit- 
bürger in der Gegenwart."“ 
Die Arbeiter sollen jeden, der zu ihnen spreche, 
fragen, ob er dieses eherne Lohngesetz anerkenne, 
und wie er dasselbe beseitigen wolle. Aus seiner 
elenden Lage könne der Arbeiter sich nur befreien, 
wenn er sein eigener Unternehmer würde, wenn 
die Arbeiter selbst in den Besitz von Kapital 
Lassalle. 
  
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gelangten, indem sie sich vom Unternehmertum 
emanzipierten. Als Ubergangsmaßregel schlägt 
Lassalle die Gründung von Produktiv-Asso- 
ziationen mit Staatshilfe vor. Auch hier stand 
er auf den Schultern anderer, namentlich des 
Franzosen Louis Blanc; aber er trug seine Ideen 
mit solcher Wärme und Entschiedenheit vor, daß 
er Männer wie den Bischof v. Ketteler und Dom- 
kapitular Moufang dafür gewann. Auch Fürst 
Bismarck erklärte noch am 17. Sept. 1878: die 
Gewährung von Staatsmitteln zu Produktiv- 
Assoziationen sei eine Sache, von deren Unzweck- 
mäßigkeit er noch heute nicht überzeugt sei. „Es 
scheint mir, daß in der Herstellung von Produktiv= 
Assoziationen die Möglichkeit lag, das Schicksal 
des Arbeiters zu verbessern, ihm einen wesentlichen 
Teil des Unternehmergewinnes zuzuwenden.“ Für 
Preußen, so meinte Lassalle, würde eine Staats- 
beihilfe von 100 Mill. Talern zur Bildung einer 
Produktivgenossenschaft ausreichen, welche 400 000 
Arbeiter beschäftigte. Niemals ist ein Versuch in 
größerem Stile mit der Gründung solcher Ge- 
nossenschaften gemacht worden; Versuche, welche 
noch zu Lebzeiten Lassalles mit Unterstützung der 
königlichen Kasse unternommen wurden, scheiterten 
vollständig. 
Die heutige Sozialdemokratie hat, wie schon 
der Hallesche Parteitag außer Zweifel stellte, den 
den tatsächlichen Verhältnissen widerstreitenden 
Grund= und Kardinalsatz Lassalles vom „ehernen 
Lohngesetz“ vollständig preisgegeben und will auch 
von den Produktivgenossenschaften als Ubergangs- 
maßregel nichts wissen. Sie erwartet, soweit sie 
noch auf dem Boden des Marxismus steht, das 
Heil lediglich von der völligen Beseitigung des 
Privateigentums in seiner heutigen Gestalt durch 
den Übergang aller Produktionsmittel: Grund 
und Boden, Rohprodukte, Maschinen, in den 
Kollektiobesitz der Gesamtheit, des Staates. Las- 
salle hat dagegen die Berechtigung des Privat- 
eigentums in der bestimmtesten Weise anerkannt 
und vertreten. In seiner Verteidigungsrede vor 
dem Berliner Kriminalgericht berief er sich gegen- 
über der Anklage: die besitzlosen Klassen zu Haß 
und zur Verachtung gegen die besitzenden öffent- 
lich angereizt zu haben, emphatisch auf folgende 
Säte seines angeschuldigten Vortrages: „So sehr 
der Arbeiter und der Kleinbürger, mit einem 
Worte: die ganze nicht Kapital besitzende Klasse 
berechtigt ist, vom Staate zu verlangen, daß er 
sein ganzes Sinnen und Trachten darauf richte, 
wie die kummervolle und notbeladene materielle 
Lage der arbeitenden Klasse zu verbessern und wie 
auch ihr, durch deren Hände alle die Reichtümer 
produziert werden, mit denen unsere Zivilisation 
prunkt, deren Händen alle die Produkte ihre Ent- 
stehung verdanken, ohne welche die gesamte Gesell- 
schaft keinen Tag existieren könnte, zu einem reich- 
lichen und gesicherten Erwerbe und damit wieder 
zu der Möglichkeit geistiger Bildung und somit 
erst zu einem wahrhaft menschenwürdigen Dasein 
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