Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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welche das Prinzip der Legitimität vertreten und 
infolge davon der rechtmäßigen Dynastie auch nach 
der gewaltsamen Vertreibung derselben die Treue 
bewahren. 
Es liegt gewiß ein überaus schöner, edler 
Charakterzug in dieser treuen Anhänglichkeit an 
das angestammte Herrscherhaus, besonders wenn 
dessen Geschichte mit der Geschichte des Vater- 
landes seit Jahrhunderten innig verwoben war. 
Gerade in der Stunde der Trübsal bewährt sich 
diese Treue und Ergebenheit am reinsten und un- 
eigennützigsten. Solange eine Dynastie die Macht 
besitzt, die bewiesene Anhänglichkeit durch Aus- 
zeichnungen und Vorteile zu belohnen, ist die Be- 
wahrung der Anhänglichkeit und Loyalität nichts 
Großes. Aber die anhängliche Treue auch dann 
noch zu bewahren und offen zu bekennen, wenn 
damit nicht nur keine Vorteile, sondern vielleicht 
recht schwere Opfer, wie der Ausschluß von jeder 
politischen Laufbahn, verbunden sind, ist aller 
Ehren wert. Gewiß sind es nicht die edelsten 
Menschen, welche so schnell und leichten Herzens 
sich von dem verschwindenden Gestirne ab= und 
der aufgehenden Sonne zuwenden. 
In Bezug auf die öffentliche Gewalt, so be- 
haupten die Legitimisten, kann eine Verjährung 
nie eintreten. Denn zu einer Verjährung gehört 
wesentlich die bona füdes, d. h. daß der Besitzer 
der zu erwerbenden Sache an die Rechtmäßigkeit 
seines Besitzes glaube. Ein Dieb kann nie und 
nimmer das unrechtmäßig erworbene Gut durch 
Verjährung zu seinem Eigentum machen. Außer- 
dem ist zu einer rechtsgültigen Verjährung ein 
genau bestimmter Zeitraum erforderlich. Nun 
aber fehlen beim Usurpator beide Bedingungen. 
Er ist sich des unrechtmäßigen Besitzes der frem- 
den Krone bewußt, und die beständigen Proteste 
der entthronten Dynastie lassen den guten Glauben 
nicht aufkommen. Und welcher Zeitraum soll hier 
zur Verjährung genügen? Durch das Naturrecht 
ist hier nichts bestimmt, wie denn ja überhaupt 
nach allgemeiner Ansicht die Verjährung erst 
durch die positive Gesetzgebung zu einem recht- 
lichen Erwerbstitel wird. 
Diese Gründe beweisen nun allerdings, daß 
bei einer bloß privatrechtlichen Beurteilung des 
Erwerbes oder Verlustes der Staatsgewalt von 
einer Verjährung derselben nicht die Rede sein 
kann. Aber die Frage, ob eine Verjährung in Be- 
zug auf den Besitz der Staatsgewalt möglich sei, 
ist eine Frage des öffentlichen Rechts, läßt daher 
eine solche Beurteilung nicht zu. Es handelt sich 
ja in derselben nicht bloß um die Privatrechte der 
beiden streitenden Regenten, sondern es kommt 
auch das öffentliche Wohl des Staates in Be- 
tracht. Will man daher zu einer endgültigen 
Lösung derselben gelangen, so muß zuvor ent- 
schieden werden, ob das öffentliche Wohl eines 
ganzen Volkes unter Umständen eine Verjährung 
der Rechte eines früher legitimen Regenten ge- 
bieterisch verlangen könne, obwohl eine genaue 
Legitimität. 
  
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Bestimmung des Verjährungstermins und die 
bona füdes nicht vorhanden sind? Diese ganz 
ausnahmsweise Frage läßt sich nicht durch den 
bloßen Hinweis auf die allgemeinen Erfordernisse 
der Verjährung zum Austrage bringen. 
5. Ungenügende Gegengründe. Das 
kann man den Legitimisten zugeben, daß viele der 
von ihren Gegnern zugunsten der Verjährung 
vorgebrachten Gründe völlig ungenügend sind. 
Die „Unmöglichkeit, ohne schweren Schaden für 
die Gesamtheit den unrechtmäßigen Eindringling 
wieder zu verdrängen“, beweist bloß, daß der 
Prätendent augenblicklich sein Recht nicht mit Ge- 
walt geltend machen darf, däß also auch in einem 
solchen Falle die Untertanen einer Aufforderung 
desselben zu bewaffneter Erhebung nicht Folge zu 
leisten brauchen. Aber hört deswegen das Recht 
selbst auf? Darf er nicht nach wie vor vernünftiger- 
weise fordern, daß ihm der Usurpator selbst seine 
rechtmäßige Stellung wiedergebe ?: Auch einem 
Räuber gegenüber kann die Anwendung von Ge- 
walt manchmal nutzlos, ja schädlich für den Be- 
raubten sein. Dann ist es ein Gebot der Klug- 
heit, von der Gewalt keinen Gebrauch zu machen. 
Hört aber deswegen der Beraubte auf, der recht- 
mäßige Eigentümer der ihm entwendeten Habe zu 
sein? Kann er nicht sehr vernünftig auf der Fox- 
derung bestehen, wieder in den Besitz seines Eigen- 
tums gesetzt zu werden? 
Die „völkerrechtliche Anerkennung der auswär- 
tigen Mächte“ (Bluntschli a. a. O. II 186) mag 
als erschwerender Umstand für die Möglichkeit der 
Wiedereroberung in Betracht kommen; sie kann 
doch unmöglich an und für sich den vertriebenen 
Fürsten seines Rechts berauben. Oder sind etwa 
die auswärtigen Mächte seine Vorgesetzten, deren 
Urteil und Befehl er sich in seinen eignen An- 
gelegenheiten zu unterwerfen hätte? 
Wieder andere berufen sich zum Beweis der 
Möglichkeit einer Verjährung der Regentenrechte 
auf die ausdrückliche oder stillschweigende Ein- 
willigung der Nation, welche im Fall der Unmög- 
lichkeit eines Regierungswechsels dem neuen Re- 
genten durch eine gewissermaßen nachträgliche oder 
bestätigende Wahl die öffentliche Gewalt übertrage 
und ihn so zum legitimen Herrscher mache. Diese 
Beweisführung setzt aber entweder die sog. Über- 
tragungstheorie vieler älteren Rechtslehrer oder die 
wesentliche Volkssouveränität im modernen, Rous- 
seauschen Sinne voraus, fällt daher mit diesen 
Theorien. Auf die letztere Theorie des Genfer 
Philosophen stützten sich die Komödien der Volks- 
abstimmungen (s. d. Art. Plebiszit), mit denen 
man im 19. Jahrh. in Frankreich und Italien die 
Usurpationen nachträglich mit einem Anstrich von 
Rechtmäßigkeit zu übertünchen und in den Augen 
der Massen zu rechtfertigen suchte. — Unhaltbar 
ist auch die Ansicht von L. Gumplowicz (Allgem. 
Staatsrecht (1897] 342), der alles Recht, ins- 
besondere auch die Staatsgewalt, auf die durch 
Gewohnheit sanktionierte Ubergewalt gründen
	        
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