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welche das Prinzip der Legitimität vertreten und
infolge davon der rechtmäßigen Dynastie auch nach
der gewaltsamen Vertreibung derselben die Treue
bewahren.
Es liegt gewiß ein überaus schöner, edler
Charakterzug in dieser treuen Anhänglichkeit an
das angestammte Herrscherhaus, besonders wenn
dessen Geschichte mit der Geschichte des Vater-
landes seit Jahrhunderten innig verwoben war.
Gerade in der Stunde der Trübsal bewährt sich
diese Treue und Ergebenheit am reinsten und un-
eigennützigsten. Solange eine Dynastie die Macht
besitzt, die bewiesene Anhänglichkeit durch Aus-
zeichnungen und Vorteile zu belohnen, ist die Be-
wahrung der Anhänglichkeit und Loyalität nichts
Großes. Aber die anhängliche Treue auch dann
noch zu bewahren und offen zu bekennen, wenn
damit nicht nur keine Vorteile, sondern vielleicht
recht schwere Opfer, wie der Ausschluß von jeder
politischen Laufbahn, verbunden sind, ist aller
Ehren wert. Gewiß sind es nicht die edelsten
Menschen, welche so schnell und leichten Herzens
sich von dem verschwindenden Gestirne ab= und
der aufgehenden Sonne zuwenden.
In Bezug auf die öffentliche Gewalt, so be-
haupten die Legitimisten, kann eine Verjährung
nie eintreten. Denn zu einer Verjährung gehört
wesentlich die bona füdes, d. h. daß der Besitzer
der zu erwerbenden Sache an die Rechtmäßigkeit
seines Besitzes glaube. Ein Dieb kann nie und
nimmer das unrechtmäßig erworbene Gut durch
Verjährung zu seinem Eigentum machen. Außer-
dem ist zu einer rechtsgültigen Verjährung ein
genau bestimmter Zeitraum erforderlich. Nun
aber fehlen beim Usurpator beide Bedingungen.
Er ist sich des unrechtmäßigen Besitzes der frem-
den Krone bewußt, und die beständigen Proteste
der entthronten Dynastie lassen den guten Glauben
nicht aufkommen. Und welcher Zeitraum soll hier
zur Verjährung genügen? Durch das Naturrecht
ist hier nichts bestimmt, wie denn ja überhaupt
nach allgemeiner Ansicht die Verjährung erst
durch die positive Gesetzgebung zu einem recht-
lichen Erwerbstitel wird.
Diese Gründe beweisen nun allerdings, daß
bei einer bloß privatrechtlichen Beurteilung des
Erwerbes oder Verlustes der Staatsgewalt von
einer Verjährung derselben nicht die Rede sein
kann. Aber die Frage, ob eine Verjährung in Be-
zug auf den Besitz der Staatsgewalt möglich sei,
ist eine Frage des öffentlichen Rechts, läßt daher
eine solche Beurteilung nicht zu. Es handelt sich
ja in derselben nicht bloß um die Privatrechte der
beiden streitenden Regenten, sondern es kommt
auch das öffentliche Wohl des Staates in Be-
tracht. Will man daher zu einer endgültigen
Lösung derselben gelangen, so muß zuvor ent-
schieden werden, ob das öffentliche Wohl eines
ganzen Volkes unter Umständen eine Verjährung
der Rechte eines früher legitimen Regenten ge-
bieterisch verlangen könne, obwohl eine genaue
Legitimität.
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Bestimmung des Verjährungstermins und die
bona füdes nicht vorhanden sind? Diese ganz
ausnahmsweise Frage läßt sich nicht durch den
bloßen Hinweis auf die allgemeinen Erfordernisse
der Verjährung zum Austrage bringen.
5. Ungenügende Gegengründe. Das
kann man den Legitimisten zugeben, daß viele der
von ihren Gegnern zugunsten der Verjährung
vorgebrachten Gründe völlig ungenügend sind.
Die „Unmöglichkeit, ohne schweren Schaden für
die Gesamtheit den unrechtmäßigen Eindringling
wieder zu verdrängen“, beweist bloß, daß der
Prätendent augenblicklich sein Recht nicht mit Ge-
walt geltend machen darf, däß also auch in einem
solchen Falle die Untertanen einer Aufforderung
desselben zu bewaffneter Erhebung nicht Folge zu
leisten brauchen. Aber hört deswegen das Recht
selbst auf? Darf er nicht nach wie vor vernünftiger-
weise fordern, daß ihm der Usurpator selbst seine
rechtmäßige Stellung wiedergebe ?: Auch einem
Räuber gegenüber kann die Anwendung von Ge-
walt manchmal nutzlos, ja schädlich für den Be-
raubten sein. Dann ist es ein Gebot der Klug-
heit, von der Gewalt keinen Gebrauch zu machen.
Hört aber deswegen der Beraubte auf, der recht-
mäßige Eigentümer der ihm entwendeten Habe zu
sein? Kann er nicht sehr vernünftig auf der Fox-
derung bestehen, wieder in den Besitz seines Eigen-
tums gesetzt zu werden?
Die „völkerrechtliche Anerkennung der auswär-
tigen Mächte“ (Bluntschli a. a. O. II 186) mag
als erschwerender Umstand für die Möglichkeit der
Wiedereroberung in Betracht kommen; sie kann
doch unmöglich an und für sich den vertriebenen
Fürsten seines Rechts berauben. Oder sind etwa
die auswärtigen Mächte seine Vorgesetzten, deren
Urteil und Befehl er sich in seinen eignen An-
gelegenheiten zu unterwerfen hätte?
Wieder andere berufen sich zum Beweis der
Möglichkeit einer Verjährung der Regentenrechte
auf die ausdrückliche oder stillschweigende Ein-
willigung der Nation, welche im Fall der Unmög-
lichkeit eines Regierungswechsels dem neuen Re-
genten durch eine gewissermaßen nachträgliche oder
bestätigende Wahl die öffentliche Gewalt übertrage
und ihn so zum legitimen Herrscher mache. Diese
Beweisführung setzt aber entweder die sog. Über-
tragungstheorie vieler älteren Rechtslehrer oder die
wesentliche Volkssouveränität im modernen, Rous-
seauschen Sinne voraus, fällt daher mit diesen
Theorien. Auf die letztere Theorie des Genfer
Philosophen stützten sich die Komödien der Volks-
abstimmungen (s. d. Art. Plebiszit), mit denen
man im 19. Jahrh. in Frankreich und Italien die
Usurpationen nachträglich mit einem Anstrich von
Rechtmäßigkeit zu übertünchen und in den Augen
der Massen zu rechtfertigen suchte. — Unhaltbar
ist auch die Ansicht von L. Gumplowicz (Allgem.
Staatsrecht (1897] 342), der alles Recht, ins-
besondere auch die Staatsgewalt, auf die durch
Gewohnheit sanktionierte Ubergewalt gründen