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will. Die bloße Gewohnheit, mag sie noch so alt
sein, kann aus sich kein Recht erzeugen. Jeden-
falls tut man nicht gut daran, sich heute, wo sich
mächtige Parteien zum Umsturz der bestehenden
staatlichen Ordnung zusammenscharen, auf die
bloße Gewohnheit zu berufen.
6. Positive Darlegung. Jedoch so un-
befriedigend auch die meisten gegen die absolute
Geltung des Legitimitätsprinzips vorgebrachten
Gründe sind, so glauben wir uns doch für die Mög-
lichkeit einer der Verjährung analogen Erwerbs-
weise der Rechtsansprüche auf den Besitz der öffent-
lichen Gewalt aussprechen zu müssen. Solange
ein Usurpator oder dessen Erben die Staatsgewalt
dem rechtmäßigen Träger derselben ohne schwere
Schädigung der Gesamtheit zurückerstatten können,
gleichviel ob sie es wollen oder nicht, ob man sie
dazu zwingen kann oder nicht, sind sie als illegi-
time Herrscher zu betrachten und zur Abdankung
verpflichtet. Aber es können Umstände eintreten,
welche eine Veränderung der Dynastie ohne
schweren Schaden für die Gesamtheit überhaupt
moralisch unmöglich machen, und in einem solchen
Falle erlöschen die Ansprüche des Prätendenten
und seiner Erben, und die tatsächlich regierende
Dynastie wird legitim. Die Usurpation wird dann
zwar nicht ungeschehen gemacht, aber in Bezug auf
die Rechtswirkung geheilt oder aufgehoben. Denn
einen rechtmäßigen Herrscher muß es in jedem
öffentlichen Gemeinwesen geben. Sind nun der-
artige Verhältnisse entstanden, daß nicht bloß
augenblicklich, sondern für die Dauer die regie-
rende Dynastie nicht mehr entfernt werden und
auch selbst nicht mehr abdanken kann, ohne den
Staat den größten Gefahren preiszugeben, so muß
sie als die rechtmäßige anerkannt werden. Die
vertriebene Familie wird dann definitiv in die
Unmöglichkeit versetzt, je wieder in ihre Stellung
einzutreten oder von ihrem Rechte Gebrauch
machen zu können; daher erlischt dasselbe und
geht auf die neue Regentenfamilie, als die unter
den obwaltenden Umständen allein zur Regierung
befähigte, über. Dem Gesamtwohl muß das
Privatinteresse des entthronten Fürsten weichen,
oder wir müßten denn die Möglichkeit annehmen,
daß ein Land dauernd zugleich zwei zum Herrschen
berechtigte Dynastien haben könne, die eine kraft
der Notwendigkeit derselben für die Gesamtheit,
die andere kraft eines von ihren Vorfahren ererbten
Rechts. Ein solcher Zustand wäre aber eine immer-
währende Gefahr für den Frieden und die Wohl-
fahrt eines Landes. Hier tritt daher das Recht
des entthronten Fürsten mit dem höheren und
wichtigeren Rechte eines ganzen Volkes auf die
öffentliche Wohlfahrt für die Dauer in Konflikt
und ist deshalb als aufgehoben zu betrachten.
Wir geben gerne zu, daß derartige Zustände,
welche sowohl die gewaltsame Absetzung als die
freiwillige Abdankung moralisch unmöglich machen,
nicht so bald eintreten können, namentlich kaum je
zu Lebzeiten des ersten Usurpators, es sei denn,
Legitimität.
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daß inzwischen der rechtmäßige Kronprätendent
ohne Hinterlassung von sichern Erben gestorben
sei. Aber wer möchte leugnen, daß nach Verlauf
von mehreren Generationen eine Dynastie in
einem Volke so tiefe Wurzeln fasse, so innig mit
seinen Geschicken verwachse, daß ein Dynastie-
wechsel ohne öffentliche Unruhen und Gefahren
moralisch unmöglich wird, besonders wenn viel-
leicht von seiten der Prätendentenfamilie nur wenig
zum Herrschen taugliche Erben vorhanden sind
oder sich in Bezug auf ihre Rechtmäßigkeit und
ihre Reihenfolge schon Zweifel gebildet haben?
Ein jeder Dynastiewechsel zieht mit moralischer
Notwendigkeit politische und soziale Unruhen und
Gärungen mit sich, da sich zugleich mit ihm ein
großer Wechsel in den mächtigsten, dem Thron
zunächst stehenden Kreisen vollzieht und leicht die
wildesten Parteileidenschaften rege werden.
Wollte man übrigens in Bezug auf die Staats-
gewalt gar keine der privatrechtlichen analoge
Verjährung, nicht einmal die sog. unvordenkliche
(praescriptio immemorialis), gelten lassen, so
würden sich daraus nicht geringe Ubelstände und
Gefahren für das öffentliche Wohl ergeben. Dieses
erheischt die möglichste Rechtssicherheit in Bezug
auf den Träger der Staatsgewalt. Wollte man
nun gar keine Verjährung in Bezug auf die
Staatsgewalt zulassen, so würde diese Sicherheit
nicht wenig erschüttert. Denn nach Ausweis der
Geschichte ist ein beträchtlicher Teil der heutigen
Staaten durch Usurpation entstanden oder wenig-
stens vergrößert worden. Was würde nun aus
der Rechtssicherheit der herrschenden Regenten-
familien werden, wenn es gestattet wäre, auch den
ältesten Besitzstand in Frage zu stellen, die Rechts-
titel von neuem einer Prüfung zu unterwerfen und
auf Grund alter, bestaubter Dokumente in Zweifel
zu ziehen und umzustoßen? Es ließen sich dann
leicht unter dem Vorwand früherer Usurpation
Kriege und Revolutionen anstiften. Wie mancher
könnte auf Grund historischer Forschungen in den
Archiven als der rechtmäßige Kronprätendent für
diese oder jene Provinz auftreten und vielleicht mit
Grund auf frühere ungerechte Usurpation hin-
weisen!
Aus unsern Ausführungen erhellt, daß die
mangelnde bona fides kein absolutes Hindernis
für den Erwerb der Staatsgewalt auf dem Wege
der Verjährung ist. Machen einmal die im Laufe
der Zeit umgestalteten Verhältnisse den Dynastie-
wechsel dauernd unmöglich, so ist die herrschende
Familie als die legitime anzuerkennen, mag sie
auch unrechtmäßig ans Ruder gekommen sein.
Will man für diese Art der Übertragung der
Staatsgewalt den Namen „Verjährung“ nicht
gelten lassen, so mag man dafür einen andern
wählen; an der Sache selbst scheint kein Zweifel
möglich zu sein. Es handelt sich hierbei auch gar
nicht darum, das geschehene Unrecht ungeschehen zu
machen, wie einige meinen, sondern es handelt
sich bloß darum, einer Handlung nachträglich aus