Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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will. Die bloße Gewohnheit, mag sie noch so alt 
sein, kann aus sich kein Recht erzeugen. Jeden- 
falls tut man nicht gut daran, sich heute, wo sich 
mächtige Parteien zum Umsturz der bestehenden 
staatlichen Ordnung zusammenscharen, auf die 
bloße Gewohnheit zu berufen. 
6. Positive Darlegung. Jedoch so un- 
befriedigend auch die meisten gegen die absolute 
Geltung des Legitimitätsprinzips vorgebrachten 
Gründe sind, so glauben wir uns doch für die Mög- 
lichkeit einer der Verjährung analogen Erwerbs- 
weise der Rechtsansprüche auf den Besitz der öffent- 
lichen Gewalt aussprechen zu müssen. Solange 
ein Usurpator oder dessen Erben die Staatsgewalt 
dem rechtmäßigen Träger derselben ohne schwere 
Schädigung der Gesamtheit zurückerstatten können, 
gleichviel ob sie es wollen oder nicht, ob man sie 
dazu zwingen kann oder nicht, sind sie als illegi- 
time Herrscher zu betrachten und zur Abdankung 
verpflichtet. Aber es können Umstände eintreten, 
welche eine Veränderung der Dynastie ohne 
schweren Schaden für die Gesamtheit überhaupt 
moralisch unmöglich machen, und in einem solchen 
Falle erlöschen die Ansprüche des Prätendenten 
und seiner Erben, und die tatsächlich regierende 
Dynastie wird legitim. Die Usurpation wird dann 
zwar nicht ungeschehen gemacht, aber in Bezug auf 
die Rechtswirkung geheilt oder aufgehoben. Denn 
einen rechtmäßigen Herrscher muß es in jedem 
öffentlichen Gemeinwesen geben. Sind nun der- 
artige Verhältnisse entstanden, daß nicht bloß 
augenblicklich, sondern für die Dauer die regie- 
rende Dynastie nicht mehr entfernt werden und 
auch selbst nicht mehr abdanken kann, ohne den 
Staat den größten Gefahren preiszugeben, so muß 
sie als die rechtmäßige anerkannt werden. Die 
vertriebene Familie wird dann definitiv in die 
Unmöglichkeit versetzt, je wieder in ihre Stellung 
einzutreten oder von ihrem Rechte Gebrauch 
machen zu können; daher erlischt dasselbe und 
geht auf die neue Regentenfamilie, als die unter 
den obwaltenden Umständen allein zur Regierung 
befähigte, über. Dem Gesamtwohl muß das 
Privatinteresse des entthronten Fürsten weichen, 
oder wir müßten denn die Möglichkeit annehmen, 
daß ein Land dauernd zugleich zwei zum Herrschen 
berechtigte Dynastien haben könne, die eine kraft 
der Notwendigkeit derselben für die Gesamtheit, 
die andere kraft eines von ihren Vorfahren ererbten 
Rechts. Ein solcher Zustand wäre aber eine immer- 
währende Gefahr für den Frieden und die Wohl- 
fahrt eines Landes. Hier tritt daher das Recht 
des entthronten Fürsten mit dem höheren und 
wichtigeren Rechte eines ganzen Volkes auf die 
öffentliche Wohlfahrt für die Dauer in Konflikt 
und ist deshalb als aufgehoben zu betrachten. 
Wir geben gerne zu, daß derartige Zustände, 
welche sowohl die gewaltsame Absetzung als die 
freiwillige Abdankung moralisch unmöglich machen, 
nicht so bald eintreten können, namentlich kaum je 
zu Lebzeiten des ersten Usurpators, es sei denn, 
Legitimität. 
  
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daß inzwischen der rechtmäßige Kronprätendent 
ohne Hinterlassung von sichern Erben gestorben 
sei. Aber wer möchte leugnen, daß nach Verlauf 
von mehreren Generationen eine Dynastie in 
einem Volke so tiefe Wurzeln fasse, so innig mit 
seinen Geschicken verwachse, daß ein Dynastie- 
wechsel ohne öffentliche Unruhen und Gefahren 
moralisch unmöglich wird, besonders wenn viel- 
leicht von seiten der Prätendentenfamilie nur wenig 
zum Herrschen taugliche Erben vorhanden sind 
oder sich in Bezug auf ihre Rechtmäßigkeit und 
ihre Reihenfolge schon Zweifel gebildet haben? 
Ein jeder Dynastiewechsel zieht mit moralischer 
Notwendigkeit politische und soziale Unruhen und 
Gärungen mit sich, da sich zugleich mit ihm ein 
großer Wechsel in den mächtigsten, dem Thron 
zunächst stehenden Kreisen vollzieht und leicht die 
wildesten Parteileidenschaften rege werden. 
Wollte man übrigens in Bezug auf die Staats- 
gewalt gar keine der privatrechtlichen analoge 
Verjährung, nicht einmal die sog. unvordenkliche 
(praescriptio immemorialis), gelten lassen, so 
würden sich daraus nicht geringe Ubelstände und 
Gefahren für das öffentliche Wohl ergeben. Dieses 
erheischt die möglichste Rechtssicherheit in Bezug 
auf den Träger der Staatsgewalt. Wollte man 
nun gar keine Verjährung in Bezug auf die 
Staatsgewalt zulassen, so würde diese Sicherheit 
nicht wenig erschüttert. Denn nach Ausweis der 
Geschichte ist ein beträchtlicher Teil der heutigen 
Staaten durch Usurpation entstanden oder wenig- 
stens vergrößert worden. Was würde nun aus 
der Rechtssicherheit der herrschenden Regenten- 
familien werden, wenn es gestattet wäre, auch den 
ältesten Besitzstand in Frage zu stellen, die Rechts- 
titel von neuem einer Prüfung zu unterwerfen und 
auf Grund alter, bestaubter Dokumente in Zweifel 
zu ziehen und umzustoßen? Es ließen sich dann 
leicht unter dem Vorwand früherer Usurpation 
Kriege und Revolutionen anstiften. Wie mancher 
könnte auf Grund historischer Forschungen in den 
Archiven als der rechtmäßige Kronprätendent für 
diese oder jene Provinz auftreten und vielleicht mit 
Grund auf frühere ungerechte Usurpation hin- 
weisen! 
Aus unsern Ausführungen erhellt, daß die 
mangelnde bona fides kein absolutes Hindernis 
für den Erwerb der Staatsgewalt auf dem Wege 
der Verjährung ist. Machen einmal die im Laufe 
der Zeit umgestalteten Verhältnisse den Dynastie- 
wechsel dauernd unmöglich, so ist die herrschende 
Familie als die legitime anzuerkennen, mag sie 
auch unrechtmäßig ans Ruder gekommen sein. 
Will man für diese Art der Übertragung der 
Staatsgewalt den Namen „Verjährung“ nicht 
gelten lassen, so mag man dafür einen andern 
wählen; an der Sache selbst scheint kein Zweifel 
möglich zu sein. Es handelt sich hierbei auch gar 
nicht darum, das geschehene Unrecht ungeschehen zu 
machen, wie einige meinen, sondern es handelt 
sich bloß darum, einer Handlung nachträglich aus
	        
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