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In Deutschland hatten infolge der Streitig-
keiten der beiden obersten Gewalten, Kaiser und
Papst, Grundsätze an Boden gewonnen, die dem
feudalen Gleichgewicht ungünstig waren. Nur
wuchs die Machtfülle nicht, wie in England, der
Obergewalt, sondern, wie in Italien, den Landes-
herrschaften zu. Den erblichen Lehen stand die
nicht erbliche, durch Doppelwahlen geschwächte
Krone gegenüber. Während der Vermehrung des
Reichsgutes durch heimgefallene Lehen der Lehns-
grundsatz im Wege stand, daß jedes derselben
binnen Jahr und Tag wieder verliehen werden
mußte (Leihezwang), hatten sich die Fürsten viel-
fach davon loszumachen und ihr Gebiet zu er-
weitern und abzurunden gewußt. Noch nach dem
Schwabenspiegel durfte der König wohl Kirchen-
lehen haben, eines „Pfaffenfürsten, nicht aber eines
Laien Mann“ sein. Seit dem Interregnum kamen
Männer auf den Thron, die Lehen von Laien-
fürsten hatten (Wilhelm, Adolf, Heinrich VII.). Die
auswärtigen Lehen gingen im Gedränge der Zeit
dem Kaisertum verloren. So war zu Lothars II.
Zeit Reginald (Roger) mit dem wichtigen Apu-
lien zugleich von Kaiser und Papst belehnt wor-
den, später aber die Lehnsherrlichkeit dem Papste
allein geblieben. Seit dem Umsichgreifen des aus
Italien bekannt gewordenen Söldnerwesens glaub-
ten Fürsten, Vassallen und Städte ihrer Lehns-
pflicht durch Sendung gemieteter Söldner Genüge
zu leisten. Die Reichsmatrikel von 1422 gestattete
geradezu Ablösung mit Geld. Die Vassallen trach-
teten mit Erfolg, ihre Dienste zu verringern; das
Gleichgewicht der Stellung hatte sich zum Nach-
teil des Herrn verschoben.
In dieser Richtung wirkte auch die Rezeption
des Lehnrechts der Lombardei, wo der Lehnsnexus
längst minder straff geworden war. Durch die
Geltung des römischen Rechts in Oberitalien
und die zivilistische Glossierung der libri feudo-
rum war auch in diese dem sinkenden Lehnrecht
zur Grundlage dienende Quelle ein romanisti-
sches Element hineingetragen. Das langobardische
Lehnrecht ging in Gestattung der gesetztlichen Lehns-
solge der Seitenverwandten oder Namensvettern,
sofern sie nur vom ersten Erwerber abstammten,
weiter und erlaubte Veräußerung der Hälfte des
Lehens.
Den Hauptgrund für den Zerfall des Lehns-
wesens bildeten aber die Veränderungen in der
Kriegsführung und Heeresbildung. Das Söldner-
wesen breitete sich von Italien her mächtig aus,
Städte und Fürsten warben sich Soldtruppen zu-
nächst neben Lehnsleuten an, das freie Volk der
Schweizer wuchs in seinen siegreichen Kämpfen
gegen die österreichischen und burgundischen Reiter-
heere der Lehnsritterschaft zum ersten Söldner-
volke Europas heran. Weder hinsichtlich der Zahl
der Kämpfer noch hinsichtlich des Umfangs der
lehnrechtlich begrenzten Dienstpflicht konnten die
erstarkenden Staatswesen länger mit dem Lehns-
heer auskommen; man brauchte stets bereite Trup-
Lehnswesen.
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pen, deren Verbände nicht mehr nach der Heer-
schildordnung des Lehnrechts, sondern nach Regi-
mentern gebildet waren, die von wagemutigen
Landsknechtsführern angeworben wurden. So
beschränkten sich die Lehnsdienste auf die Pflicht
der Hoffahrt, die Kriegsleistungen, einst der Haupt-
inhalt der Vassallität, traten völlig zurück. Das
persönliche Lehnsband verblaßte. Schließlich waren
die Lehen nichts mehr als dingliche Nutzungs-
berechtigungen am Lehnsgute, das durchaus in den
Vordergrund trat.
Wie die Kriegs-, so änderte sich auch die Frie-
densverwaltung im Sinne des Überganges
zum Beamtenstaat. Die Fürstenlehen vermittelten
die Entstehung der Territorien und Landeshoheiten
im Reich. Die Lehnsobrigkeit wurde Territorial-
hoheit und vereinigte in sich in steigendem Maße
die früher dem König allein zustehenden Hoheits-
rechte. Darüber hinaus konnte sich im Rahmen der
entstandenen Landeshoheit (dominium terrae)
staatliches Eigenleben entfalten, erschlossen sich im
territorialen Steuerwesen neue Einkommensquellen
zur Aufbringung der Kosten der veränderten Krieg-
führung. Die Landesherren ersetzten widerwillige
Vassallen durch gefügige Beamte nicht selten mini-
sterialischer oder bürgerlicher Herkunft. Um Geld
zu erlangen, kam es auch vor (so in Frankreich, in
Böhmen [König Johannl), daß Amter nicht ver-
geben, sondern an den Meistbietenden verpachtet
wurden. Dabei suchte sich freilich der Beamte
schadlos zu halten. Die Fürsten empfingen nur
mehr durch Bevollmächtigte ihre Belehnung und
leisteten nur so dem Kaiser den Lehnseid. Be-
siegelt wurde die Lehnsunabhängigkeit der Reichs-
fürsten durch den Westfälischen Frieden. Des
Verfalles ungeachtet, erhielt sich der Prunk der
Lehnsfeierlichkeiten. Eine besonders feierliche Be-
lehnungsart war die Lehnsstuhlberennung (cursus
equestris). Sie fand unter freiem Himmel statt
mit Umreitung des von den Reichsfürsten um-
gebenen Kaisers und seines Hofes.
Wirtschaftlich drohte das vom Absolutismus
begünstigte Bürgertum den Adel zu überflügeln.
Ein großer Teil des vom Absolutismus benötigten
Beamtentums ging ja aus dem Bürgertun hervor
(in Frankreich noblesse de la robe). Die Ein-
bürgerung des Kapitals, das Umsichgreifen
der Zinswirtschaft beförderte das Städtetum. Der
Adel strebte nach Bevorrechtigungen, ergriff den
landwirtschaftlichen Beruf und erdachte Einrich-
tungen, den Besitz zu erhalten. Die durch die
Umgestaltung der Kriegs= und Friedensverwaltung
gewaltig gewachsenen Steuern ließen die Steuer-
freiheiten um so unverhältnismäßiger erscheinen,
als der Adel mit den Offiziersstellen die nach-
gebornen Söhne versorgte. Während das mittel-
alterliche Land mit kleinen Bauernwirtschaften wie
übersäet war, mehrte sich nun die Zahl der sich
ausdehnenden Eigenbetriebe. Erst mit dem Er-
löschen des Rittertums entstand aus dem haupt-
sächlich Renten beziehenden Guts= und Grund-