Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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In Deutschland hatten infolge der Streitig- 
keiten der beiden obersten Gewalten, Kaiser und 
Papst, Grundsätze an Boden gewonnen, die dem 
feudalen Gleichgewicht ungünstig waren. Nur 
wuchs die Machtfülle nicht, wie in England, der 
Obergewalt, sondern, wie in Italien, den Landes- 
herrschaften zu. Den erblichen Lehen stand die 
nicht erbliche, durch Doppelwahlen geschwächte 
Krone gegenüber. Während der Vermehrung des 
Reichsgutes durch heimgefallene Lehen der Lehns- 
grundsatz im Wege stand, daß jedes derselben 
binnen Jahr und Tag wieder verliehen werden 
mußte (Leihezwang), hatten sich die Fürsten viel- 
fach davon loszumachen und ihr Gebiet zu er- 
weitern und abzurunden gewußt. Noch nach dem 
Schwabenspiegel durfte der König wohl Kirchen- 
lehen haben, eines „Pfaffenfürsten, nicht aber eines 
Laien Mann“ sein. Seit dem Interregnum kamen 
Männer auf den Thron, die Lehen von Laien- 
fürsten hatten (Wilhelm, Adolf, Heinrich VII.). Die 
auswärtigen Lehen gingen im Gedränge der Zeit 
dem Kaisertum verloren. So war zu Lothars II. 
Zeit Reginald (Roger) mit dem wichtigen Apu- 
lien zugleich von Kaiser und Papst belehnt wor- 
den, später aber die Lehnsherrlichkeit dem Papste 
allein geblieben. Seit dem Umsichgreifen des aus 
Italien bekannt gewordenen Söldnerwesens glaub- 
ten Fürsten, Vassallen und Städte ihrer Lehns- 
pflicht durch Sendung gemieteter Söldner Genüge 
zu leisten. Die Reichsmatrikel von 1422 gestattete 
geradezu Ablösung mit Geld. Die Vassallen trach- 
teten mit Erfolg, ihre Dienste zu verringern; das 
Gleichgewicht der Stellung hatte sich zum Nach- 
teil des Herrn verschoben. 
In dieser Richtung wirkte auch die Rezeption 
des Lehnrechts der Lombardei, wo der Lehnsnexus 
längst minder straff geworden war. Durch die 
Geltung des römischen Rechts in Oberitalien 
und die zivilistische Glossierung der libri feudo- 
rum war auch in diese dem sinkenden Lehnrecht 
zur Grundlage dienende Quelle ein romanisti- 
sches Element hineingetragen. Das langobardische 
Lehnrecht ging in Gestattung der gesetztlichen Lehns- 
solge der Seitenverwandten oder Namensvettern, 
sofern sie nur vom ersten Erwerber abstammten, 
weiter und erlaubte Veräußerung der Hälfte des 
Lehens. 
Den Hauptgrund für den Zerfall des Lehns- 
wesens bildeten aber die Veränderungen in der 
Kriegsführung und Heeresbildung. Das Söldner- 
wesen breitete sich von Italien her mächtig aus, 
Städte und Fürsten warben sich Soldtruppen zu- 
nächst neben Lehnsleuten an, das freie Volk der 
Schweizer wuchs in seinen siegreichen Kämpfen 
gegen die österreichischen und burgundischen Reiter- 
heere der Lehnsritterschaft zum ersten Söldner- 
volke Europas heran. Weder hinsichtlich der Zahl 
der Kämpfer noch hinsichtlich des Umfangs der 
lehnrechtlich begrenzten Dienstpflicht konnten die 
erstarkenden Staatswesen länger mit dem Lehns- 
heer auskommen; man brauchte stets bereite Trup- 
Lehnswesen. 
  
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pen, deren Verbände nicht mehr nach der Heer- 
schildordnung des Lehnrechts, sondern nach Regi- 
mentern gebildet waren, die von wagemutigen 
Landsknechtsführern angeworben wurden. So 
beschränkten sich die Lehnsdienste auf die Pflicht 
der Hoffahrt, die Kriegsleistungen, einst der Haupt- 
inhalt der Vassallität, traten völlig zurück. Das 
persönliche Lehnsband verblaßte. Schließlich waren 
die Lehen nichts mehr als dingliche Nutzungs- 
berechtigungen am Lehnsgute, das durchaus in den 
Vordergrund trat. 
Wie die Kriegs-, so änderte sich auch die Frie- 
densverwaltung im Sinne des Überganges 
zum Beamtenstaat. Die Fürstenlehen vermittelten 
die Entstehung der Territorien und Landeshoheiten 
im Reich. Die Lehnsobrigkeit wurde Territorial- 
hoheit und vereinigte in sich in steigendem Maße 
die früher dem König allein zustehenden Hoheits- 
rechte. Darüber hinaus konnte sich im Rahmen der 
entstandenen Landeshoheit (dominium terrae) 
staatliches Eigenleben entfalten, erschlossen sich im 
territorialen Steuerwesen neue Einkommensquellen 
zur Aufbringung der Kosten der veränderten Krieg- 
führung. Die Landesherren ersetzten widerwillige 
Vassallen durch gefügige Beamte nicht selten mini- 
sterialischer oder bürgerlicher Herkunft. Um Geld 
zu erlangen, kam es auch vor (so in Frankreich, in 
Böhmen [König Johannl), daß Amter nicht ver- 
geben, sondern an den Meistbietenden verpachtet 
wurden. Dabei suchte sich freilich der Beamte 
schadlos zu halten. Die Fürsten empfingen nur 
mehr durch Bevollmächtigte ihre Belehnung und 
leisteten nur so dem Kaiser den Lehnseid. Be- 
siegelt wurde die Lehnsunabhängigkeit der Reichs- 
fürsten durch den Westfälischen Frieden. Des 
Verfalles ungeachtet, erhielt sich der Prunk der 
Lehnsfeierlichkeiten. Eine besonders feierliche Be- 
lehnungsart war die Lehnsstuhlberennung (cursus 
equestris). Sie fand unter freiem Himmel statt 
mit Umreitung des von den Reichsfürsten um- 
gebenen Kaisers und seines Hofes. 
Wirtschaftlich drohte das vom Absolutismus 
begünstigte Bürgertum den Adel zu überflügeln. 
Ein großer Teil des vom Absolutismus benötigten 
Beamtentums ging ja aus dem Bürgertun hervor 
(in Frankreich noblesse de la robe). Die Ein- 
bürgerung des Kapitals, das Umsichgreifen 
der Zinswirtschaft beförderte das Städtetum. Der 
Adel strebte nach Bevorrechtigungen, ergriff den 
landwirtschaftlichen Beruf und erdachte Einrich- 
tungen, den Besitz zu erhalten. Die durch die 
Umgestaltung der Kriegs= und Friedensverwaltung 
gewaltig gewachsenen Steuern ließen die Steuer- 
freiheiten um so unverhältnismäßiger erscheinen, 
als der Adel mit den Offiziersstellen die nach- 
gebornen Söhne versorgte. Während das mittel- 
alterliche Land mit kleinen Bauernwirtschaften wie 
übersäet war, mehrte sich nun die Zahl der sich 
ausdehnenden Eigenbetriebe. Erst mit dem Er- 
löschen des Rittertums entstand aus dem haupt- 
sächlich Renten beziehenden Guts= und Grund-
	        
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