Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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keine praktische Bedeutung mehr. Manche an das 
Lehnrecht erinnernde Ausdrücke und Grundsätze 
enthält das Bergrecht. 
Daß, wie es bei menschlichen Einrichtungen zu 
geschehen pflegt, die Verwirklichung hinter den 
idealen Lehnsgrundsätzen zurückblieb, darf der 
Anerkennung ihrer sittlichen, rechtlichen und wirt- 
schaftlichen Vorzüge nicht im Wege stehen. Lehns- 
dienst und Lehnrecht dienten in ihrer Glanzzeit 
der Verwirklichung hoher sittlicher Ziele. Das 
Lehen sollte nicht „unter dem Schein des Gelts, 
sondern aus Lieb und Ehr des Herrn“ erworben 
werden. Der Ehrlose ist lehnsunfähig. Hand- 
lungen, die den Mann ehrlos machen, führen zur 
Entziehung des Lehens; denn ehrlos bezeichnet 
die Folgen einer Handlung, die unter den Begriff 
der Lehnsuntreue fällt. Das Lehnsverhältnis, 
auf Ehre begründet, duldet keine unehrenhafte 
Londlung durch die der Mann der Achtung seiner 
enossen verlustig geht. Unehre, Verletzung der 
Standesehre gilt als Felonie, so parricidium, 
Verrat des Mitvassallen, ein Verbrechen, auf dem 
Infamie steht, unerlaubter Umgang. Die Furcht 
vor der Schande, wegen seines Lebenswandels von 
den Waffenspielen zurückgewiesen zu werden, för- 
derte in der guten Zeit Erhaltung von Zucht und 
Sitten. 
Verwandt mit der Pflege des Ehrenhaften war 
die Schätzung vornehmen Kriegsbrauchs, das 
Turnierähnliche der Feudalschlachten. Wie Agi- 
dius Romanus (gest. 1316) des Vegetius Mittel, 
in den Reihen der Feinde Zwietracht zu säen, un- 
anständig nennt, so vermied man es, den Gegner 
in wehrlosem Zustand oder meuchlerisch anzu- 
fallen; den späteren Fußvolk= und Söldnerheeren 
kam das Verständnis für ritterliche Kriegführung 
abhanden. Während noch etliche Jahre vorher 
im Treffen zu Schwadernau kyburgische und 
baselsche Ritter von Zeit zu Zeit ihren Streit 
unterbrachen, kümmerten sich die Sempacher 
Schweizer nicht mehr um Ungleichheit und Ritter- 
art und schonten in ihrer bäuerischen Roheit auch 
der Gestürzten nicht. 
Nicht minder verdient der lehnrechtliche Ver- 
such Beachtung, nur gerechten Kriegen Vorschub 
zu leisten. II. Feud. 27, § 1 verpflichtet zu 
Kriegsdienst, wenn es offenbar ist, daß der Herr 
aus hinlänglicher Ursache Krieg führe. Im Falle 
eines auf seiten des Lehnsherrn offenbar unge- 
rechten Krieges gestattet II. Feud. 23 pr. Ver- 
weigerung des Lehnsdienstes. Baldus verlngt, 
daß der Krieg nicht willkürlich herbeigeführt 
werde. Einen gerechten Krieg nennt Heinrich von 
Segusia den römischen Krieg (mit den Ungläu- 
bigen). Der alleinige Fall des Waffendienstes, 
den das Lehnrecht voraussetzt, ist der Dienst zum 
Besten des Reiches. Die Pflicht der Mannen, 
dem Herrn in seinen Privatfehden und nament- 
lich zum Angriff zu folgen, beruht nicht auf ge- 
meinem Lehnrecht, sondern auf Landesherkommen, 
Lehnsvertrag (Ledigmann, homo ligius). Die 
Lehnswesen. 
  
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Führung der Kriege durch Reiterheere verminderte 
die Kriege. 
Im Innern war das Lehnswesen ein Hemm- 
nis der Despotie, aber auch der zum Kulturfort- 
schritt nötigen Erwerbung der Staatsgewalt. 
Dem Fürsten standen sachliche und persönliche 
Machtmittel nicht unbedingt zu Gebot. Der 
Wille des Kriegsherrn war durch den Willen der 
Vassallen beschränkt. Da die ganze Last des Be- 
soldungswesens auf die Lehen gewälzt war, waren 
die Einnahmen, aber auch der Bedarf eines 
Lehnsfürsten gering. War für Kriegslast und 
Verwaltung anderweitig gesorgt, so schrumpfte 
das Steuerrecht auf Hilfsgelder bei außerordent- 
lichen Gelegenheiten (Hochzeit, Ritterschlag des 
Sohnes, Gefangenschaft) zusammen. Das Lehns- 
wesen verhütete die neuere Neigung, die Pflichten 
der Gegenwart lediglich auf die Zukunft abzu- 
schieben. Nach vernünftigen Grundsätzen sollten 
die Ausgaben, welche einer Zeit zur Last fallen, 
durch ihre Einnahmen auch gedeckt werden können. 
Der Kriegsdienst lastete in der Lehnszeit auf den 
höheren Ständen. Seit Ausgang des Mittel- 
alters wurde er (erst Söldnertum, dann Kon- 
skription) auf die unteren Klassen gewälzt. Die 
neuere Zeit endlich hat „die Rückkehr zur allge- 
meinen Wehrpflicht vollzogen, mit welcher das 
deutsche Volk einst in die Geschichte eingetreten ist". 
Das Lehnswesen bedeutete eine Stärkung des 
Familien= wie des genossenschaftlichen Prinzips. 
Es erleichterte die verschiedenen Formen be- 
schränkten Eigentums, war in gewissem Sinne 
eine Form des Miteigentums. Es machte den 
Besitz stetig und damit den Bestand der Familie 
sicherer. Die Vorliebe des Lehnswesens für das 
flache Land kam einer Abneigung gegen Zentrali- 
sation gleich. Das Lehnswesen hielt den Herrn in 
der Mitte seiner Vassallen und verteilte den Wohl- 
stand über die Teile des Territoriums. Der 
neueren Zeit, die an die Unabhängigkeit des mo- 
dernen Rechts gewöhnt ist, erscheint die Lehns- 
abhängigkeit unfrei, der am römischen Recht ge- 
bildete Jurist erschrickt über geteiltes Eigentum. 
Erst einzelne sozialistische Schriftsteller wagten die 
Behauptung, daß durch jene Einrichtungen das 
Gesamtinteresse am vaterländischen Grund und 
Boden eindringlicher gewahrt gewesen sei als 
lediglich durch die Steuerpflicht sso Saint-Simon, 
dann H. George, Fortschritt u. Armut (1881) 
333, 336). 
In Frankreich hatte das Lehnswesen die 
Grundbesitzverfassung mehr durchdrungen als in 
Deutschland. Die Vermutung stritt für ein Lehen 
(nulle terre sans seigneur). Eine Ausnahme 
bildete Südfrankreich (mater allodiorum). Es 
bestanden Einwilligungsrechte des Herrn in die 
Heirat der Töchter des Vassallen. Die lehnsherr- 
liche Vormundschaft erhielt sich länger. Der 
jüngere Bruder trat in ein gewisses Lehnsver- 
hältnis zum ältesten, der das Lehen empfing (fre- 
ragium, fraternagium im Gegensatz zu para- 
 
	        
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