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keine praktische Bedeutung mehr. Manche an das
Lehnrecht erinnernde Ausdrücke und Grundsätze
enthält das Bergrecht.
Daß, wie es bei menschlichen Einrichtungen zu
geschehen pflegt, die Verwirklichung hinter den
idealen Lehnsgrundsätzen zurückblieb, darf der
Anerkennung ihrer sittlichen, rechtlichen und wirt-
schaftlichen Vorzüge nicht im Wege stehen. Lehns-
dienst und Lehnrecht dienten in ihrer Glanzzeit
der Verwirklichung hoher sittlicher Ziele. Das
Lehen sollte nicht „unter dem Schein des Gelts,
sondern aus Lieb und Ehr des Herrn“ erworben
werden. Der Ehrlose ist lehnsunfähig. Hand-
lungen, die den Mann ehrlos machen, führen zur
Entziehung des Lehens; denn ehrlos bezeichnet
die Folgen einer Handlung, die unter den Begriff
der Lehnsuntreue fällt. Das Lehnsverhältnis,
auf Ehre begründet, duldet keine unehrenhafte
Londlung durch die der Mann der Achtung seiner
enossen verlustig geht. Unehre, Verletzung der
Standesehre gilt als Felonie, so parricidium,
Verrat des Mitvassallen, ein Verbrechen, auf dem
Infamie steht, unerlaubter Umgang. Die Furcht
vor der Schande, wegen seines Lebenswandels von
den Waffenspielen zurückgewiesen zu werden, för-
derte in der guten Zeit Erhaltung von Zucht und
Sitten.
Verwandt mit der Pflege des Ehrenhaften war
die Schätzung vornehmen Kriegsbrauchs, das
Turnierähnliche der Feudalschlachten. Wie Agi-
dius Romanus (gest. 1316) des Vegetius Mittel,
in den Reihen der Feinde Zwietracht zu säen, un-
anständig nennt, so vermied man es, den Gegner
in wehrlosem Zustand oder meuchlerisch anzu-
fallen; den späteren Fußvolk= und Söldnerheeren
kam das Verständnis für ritterliche Kriegführung
abhanden. Während noch etliche Jahre vorher
im Treffen zu Schwadernau kyburgische und
baselsche Ritter von Zeit zu Zeit ihren Streit
unterbrachen, kümmerten sich die Sempacher
Schweizer nicht mehr um Ungleichheit und Ritter-
art und schonten in ihrer bäuerischen Roheit auch
der Gestürzten nicht.
Nicht minder verdient der lehnrechtliche Ver-
such Beachtung, nur gerechten Kriegen Vorschub
zu leisten. II. Feud. 27, § 1 verpflichtet zu
Kriegsdienst, wenn es offenbar ist, daß der Herr
aus hinlänglicher Ursache Krieg führe. Im Falle
eines auf seiten des Lehnsherrn offenbar unge-
rechten Krieges gestattet II. Feud. 23 pr. Ver-
weigerung des Lehnsdienstes. Baldus verlngt,
daß der Krieg nicht willkürlich herbeigeführt
werde. Einen gerechten Krieg nennt Heinrich von
Segusia den römischen Krieg (mit den Ungläu-
bigen). Der alleinige Fall des Waffendienstes,
den das Lehnrecht voraussetzt, ist der Dienst zum
Besten des Reiches. Die Pflicht der Mannen,
dem Herrn in seinen Privatfehden und nament-
lich zum Angriff zu folgen, beruht nicht auf ge-
meinem Lehnrecht, sondern auf Landesherkommen,
Lehnsvertrag (Ledigmann, homo ligius). Die
Lehnswesen.
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Führung der Kriege durch Reiterheere verminderte
die Kriege.
Im Innern war das Lehnswesen ein Hemm-
nis der Despotie, aber auch der zum Kulturfort-
schritt nötigen Erwerbung der Staatsgewalt.
Dem Fürsten standen sachliche und persönliche
Machtmittel nicht unbedingt zu Gebot. Der
Wille des Kriegsherrn war durch den Willen der
Vassallen beschränkt. Da die ganze Last des Be-
soldungswesens auf die Lehen gewälzt war, waren
die Einnahmen, aber auch der Bedarf eines
Lehnsfürsten gering. War für Kriegslast und
Verwaltung anderweitig gesorgt, so schrumpfte
das Steuerrecht auf Hilfsgelder bei außerordent-
lichen Gelegenheiten (Hochzeit, Ritterschlag des
Sohnes, Gefangenschaft) zusammen. Das Lehns-
wesen verhütete die neuere Neigung, die Pflichten
der Gegenwart lediglich auf die Zukunft abzu-
schieben. Nach vernünftigen Grundsätzen sollten
die Ausgaben, welche einer Zeit zur Last fallen,
durch ihre Einnahmen auch gedeckt werden können.
Der Kriegsdienst lastete in der Lehnszeit auf den
höheren Ständen. Seit Ausgang des Mittel-
alters wurde er (erst Söldnertum, dann Kon-
skription) auf die unteren Klassen gewälzt. Die
neuere Zeit endlich hat „die Rückkehr zur allge-
meinen Wehrpflicht vollzogen, mit welcher das
deutsche Volk einst in die Geschichte eingetreten ist".
Das Lehnswesen bedeutete eine Stärkung des
Familien= wie des genossenschaftlichen Prinzips.
Es erleichterte die verschiedenen Formen be-
schränkten Eigentums, war in gewissem Sinne
eine Form des Miteigentums. Es machte den
Besitz stetig und damit den Bestand der Familie
sicherer. Die Vorliebe des Lehnswesens für das
flache Land kam einer Abneigung gegen Zentrali-
sation gleich. Das Lehnswesen hielt den Herrn in
der Mitte seiner Vassallen und verteilte den Wohl-
stand über die Teile des Territoriums. Der
neueren Zeit, die an die Unabhängigkeit des mo-
dernen Rechts gewöhnt ist, erscheint die Lehns-
abhängigkeit unfrei, der am römischen Recht ge-
bildete Jurist erschrickt über geteiltes Eigentum.
Erst einzelne sozialistische Schriftsteller wagten die
Behauptung, daß durch jene Einrichtungen das
Gesamtinteresse am vaterländischen Grund und
Boden eindringlicher gewahrt gewesen sei als
lediglich durch die Steuerpflicht sso Saint-Simon,
dann H. George, Fortschritt u. Armut (1881)
333, 336).
In Frankreich hatte das Lehnswesen die
Grundbesitzverfassung mehr durchdrungen als in
Deutschland. Die Vermutung stritt für ein Lehen
(nulle terre sans seigneur). Eine Ausnahme
bildete Südfrankreich (mater allodiorum). Es
bestanden Einwilligungsrechte des Herrn in die
Heirat der Töchter des Vassallen. Die lehnsherr-
liche Vormundschaft erhielt sich länger. Der
jüngere Bruder trat in ein gewisses Lehnsver-
hältnis zum ältesten, der das Lehen empfing (fre-
ragium, fraternagium im Gegensatz zu para-