Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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worden, aber nicht erfolgt. Der Abgeordnete 
Dr C. Trimborn hat deshalb versucht, zunächst 
die preußische Regierung zum Vorgehen in dieser 
Richtung zu veranlassen, und Anfang 1909 im 
preußischen Abgeordnetenhause einen Antrag 
auf Förderung des Kaufmannsstandes 
eingebracht, der eine Reihe von Verbesserungs- 
vorschlägen enthält und die Regierung zu den 
nötigen Erhebungen auffordert. 
8. Lehrlingsstatistik. Nach der Gewerbe- 
zählung von 1895 waren im Deutschen Reiche vor- 
handen 701033 Lehrlinge, darunter 634525 männ- 
liche und 65 508 weibliche; in der Industrie davon 
beschäftigt allein 610 507. 
Die Erhebungen des Jahres 1907 waren bei 
Abschluß dieses Artikels seitens des Kaiserlichen 
Statistischen Amtes zwar noch nicht veröffentlicht, 
indessen ergeben die vorläufigen Veröffentlichungen, 
besonders die genauere Erhebung von 1904 über 
die Wirkung des Handwerkergesetzes, erheblich gün- 
stigere Zahlen für das Handwerk. (Näheres s. Art. 
Innung.) 
9. Lehrlingsheime. Um diejenigen Lehr- 
linge, welche nicht bei dem Meister Unterkunft 
oder genügende Beaufsichtigung finden, vor den 
Gefahren der Großstädte zu bewahren, haben zu 
Anfang des 19. Jahrh. allenthalben zuerst die 
Jesuiten, z. B. in Regensburg, München, Wien 
und andern Städten, Lehrlingskongregationen 
errichtet, welche von den Regierungen des guten 
Zwecks wegen gerne gesehen wurden und bis in 
die 1870er Jahre fortdauerten. In Italien wurde 
die erste derartige Kongregation 1846 zu Turin 
von dem Priester Don Bosco geschaffen, der mit 
einem armen Maurerlehrling das erste Lehrlings- 
haus oder Asyl eröffnete. Bald wohnte eine große 
Anzahl von Knaben in dem einfachen Lehrlings- 
hause. 20 Jahre später hatten sich diese Institute 
nicht nur über die Hauptstädte Italiens, sondern 
auch teilweise über Spanien und Frankreich und 
selbst nach Südamerika (Patagonien) verbreitet. 
Jährlich verlassen jetzt über 2000 Lehrlinge seine 
Arbeiterseminare. Don Bosco wird für alle Zeit 
ein Muster und Vorbild aller sozialen Tätigkeit 
auf diesem Gebiete bleiben. Seit den 1850er 
Jahren sind in Frankreich auch die Vinzentius- 
vereine für die Uberwachung der Lehrlinge tätig. 
Dieses Beispiel hat auch in Deutschland zur Nach- 
ahmung angespornt, und seit den 1880er Jahren 
sind auch hier mehr und mehr Lehrlingsvereine 
mit Vereinshäusern geschaffen worden. 
1902 zählte man in Deutschland bereits 130 ka= 
tholische Lehrlingsvereine, die zum Teil Logishäuser 
für Lehrlinge eingerichtet hatten, so Köln, Koblenz, 
M.-Gladbach usw., daneben 970 Jünglingsver- 
einigungen. Nicht minder rührig auf diesem Ge- 
biete waren die Evangelischen in den sog. Jüng- 
lingsvereinen; besondere Lehrlingsvereine sind von 
ihnen nicht gegründet, sie haben aber in mehr als 
2000 deutschen Jünglingsvereinen glänzende Re- 
sultate erzielt. Die sämtlichen evangelischen Jüng- 
lingsvereine sind im „Weltbund" (Sitz Genf) zu- 
Lehrlings= und Gesellenwesen. 
800 
sammengefaßt, der 1904 bereits 6500 Vereine 
zählte. — Trotz dieser großen Tätigkeit beider 
Konfessionen herrscht auch heute noch auf dem Ge- 
biete der Wohnungsfürsorge für Lehrlinge ein wenig 
erfreulicher Zustand. Nach der Gewerbestatistik von 
1895 wohnten von 100 Lehrlingen jeder Gewerbe- 
gruppe nur 56,4 bei den Lehrherren; im Handwerk 
teils mehr, so bei den Bäckern 96,2, bei Fleischern 
94,6, Schneidern 92,7, teils erheblich weniger, so“ 
bei den Bauunternehmern nur 4,9, den Buch- 
druckern 14,5, Maurern 19,2 usw. (Näheres beie 
Dr A. Pieper, Jugendfürsorge und Jugendverein.) 
Die Asyle ersetzen die Wohnung bei den Mei- 
stern, die schlechten Kosthäuser, Wirtshäuser usw. 
und streben für die freie Zeit der Lehrlinge, auch 
für die bei den Meistern untergebrachten, nament- 
lich an den Sonntagen eine passende Beschäftigung 
und Unterhaltung an. Sie erstreben Förderung 
der sittlichen und religiösen Erziehung, Hebung 
der Fachbildung und Pflege der Geselligkeit. 
Staat und Gemeinde haben die Wichtigkeit dieser 
Vereine anerkannt und unterstützen sie zwar etwas, 
indessen ist hier noch viel zu wenig geschehen. Ge- 
rade hier bietet sich speziell für die Gemeinden ein 
weites Feld praktischer kommunaler Sozialpolitik; 
auch Innungen und Gewerbevereine können hier 
einen großen Teil ihrer sozialen Aufgabe lösen. 
Wünschenswert ist es, daß das bis heute in keiner 
Weise gesetzlich geregelte Lehrlingsheimwesen nach 
bestimmten Prinzipien, namentlich hinsichtlich der 
finanziellen Unterstützungspflicht seitens der Kom- 
munen und gewerblichen Korporationen, bald 
durch Gesetz geregelt werde. Allerdings läßt sich 
die Schwierigkeit der gesetzlichen Reglung dieser 
Materie nicht verkennen, weil dieses Feld zum 
Teil die charitative Seite streift; wo aber ein 
Wille, dort ist auch ein Weg zu finden. 
10. Die Reglung des Lehrlings- 
wesens im Auslande. In Österreich war 
der durch die frühere Gesetzgebung geschaffene 
Unterschied von zünftigen und nicht zünftigen Ge- 
werben auch für das Lehrlingswesen insofern von 
Bedeutung, als dieses in zünftigen Gewerben 
streng geordnet war. Während die nicht zünftigen 
Gewerbe ihr Lehrlingswesen selbst ordnen konnten, 
war für die Zulassung zu den ersteren ein Schul- 
besuch von mindestens zwei Jahren und eine 
Probezeit bestimmt. Die Lehrzeit dauerte in der 
Regel zwei bis vier Jahre; die Abfassung eines 
Lehrvertrages war Vorschrift. Diese wurde 1830 
abgeschafft, 1859 aber mit der Modifikation 
wieder eingeführt, daß der Inhalt der freien Ver- 
einbarung überlassen bleiben sollte. Das Lehrgeld 
betrug 10 Gulden. Im Jahre 1883 wurde durch 
Ministerialverordnung vom 17. Sept. auf Grund 
des Gesetzes vom 15. März 1883 die Lehrzeit auf 
zwei bis vier Jahre, jedoch nach näheren Bestim- 
mungen der einzelnen Genossenschaften (Innungen) 
-estgesetzt. Das Gesetz von 1883 strebte eine 
Stärkung der gewerblichen Genossenschaften durch 
Ausscheidung der Lehrlinge in fabrikmäßig betrie- 
  
benen Gewerben an; diese sollten in Zukunft nur
	        
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