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Auf das Gesellenwesen haben ferner Bezug:
1) das Gewerbegerichtsgesetz vom 29. Juli 1890.8
welches die Teilnahme der Gesellen an den Ge-
werbegerichten und Einigungsämtern regelt;
2) die Zivilprozeßordnung vom 30. Jan. 1877
hinsichtlich der Zuständigkeit bei Klagen gegen
Gewerbegehilfen wegen vermögensrechtlicher An-
sprüche; 3) das Gesetz betr. die Krankenversiche-
rung der Arbeiter vom 15. Juni 1883 bzw.
10. April 1892. Nach diesem Gesetz unterliegen
dem Krankenversicherungszwange Personen, welche
gegen Lohn in Handwerks= und sonstigen stehen-
den Gewerbebetrieben tätig sind; 4) das Inva-
lidenversicherungsgesetz vom 19. Juli 1899; 5) das
Unfallversicherungsgesetz vom 30. Juli 1900 vor-
nehmlich für Maurer, Zimmerer, Dachdecker oder
sonstige durch Beschluß des Bundesrats für ver-
sicherungspflichtig erklärte Bauarbeiter, Stein-
hauer, Schlosser, Schmiede, Fleischer, Stein-
bauer= und Brunnenarbeiter sowie Schornsteinfeger
(68 1 ff); 6) das bayrische Polizeistrafgesetz vom
26. Dez. 1871 (Art. 155). wonach Handwerks-
gesellen, Gewerbegehilfen, Lehrlinge und Fabrik-
arbeiter, welche den sog. blauen Montag feiern,
an Geld bis zu 15 Talern oder mit Haft bis zu
acht Tagen bestraft werden können.
6. Die Gesellenvereine. Von größter
Bedeutung für das Gesellenwesen ist der Einfluß
der Kirche, namentlich der katholischen geworden,
seitdem diese Veranlassung genommen hat, ihre
soziale Aufgabe auch auf dieses Gebiet auszu-
dehnen und hier aktiv einzugreifen. Veranlassung
zu dem Vorgehen der katholischen Kirche bzw. zu-
nächst nur eines ihrer Mitglieder (Adolf Kolping)
war die durch die wirtschaftliche Entwicklung der
ersten Hälfte des 19. Jahrh. erweiterte soziale
Kluft zwischen den Meistern und Gesellen, wo-
durch die letzteren namentlich in größeren Städten
von dem Haus- und Familienleben des Meisters
fast völlig ausgeschlossen und sich selbst überlassen
waren und großen moralischen Gefahren entgegen-
gingen. Ursprünglich selbst Handwerksgesell
(Schuhmacher), hatte Adolf Kolping (geb.
8. Dez. 1803 in Kerpen bei Köln, gest. 4. Dez.
1865) die Mißstände im Gesellenwesen selbst
kennen gelernt und „auf den größeren Werkstätten
keinen einzigen ordentlichen, sittenreinen Gesellen
angetroffen, aber wahre Ungeheuer von Sitten-
losigkeit, und keinen Meister, der sich im geringsten
darum gekümmert hätte“. Mit 33 Jahren wandte
Kolping sich (1837) dem Studium zu und wurde
nach großen Entbehrungen 1845 zum Preiester
geweiht. Als Kaplan nach Elberfeld versetzt,
gründete er dort 1846 im Verein mit Meistern
den ersten Gesellenverein, als Domvikar nach
Köln berufen, dort schon einen solchen mit Hospiz;
dieser ist der Musterverein für die übrigen ge-
worden. Mit Genialität und bewundernswerter
Ausdauer verbreitete Kolping in Wort und
Schrift seine zeitgemäßen Ideen in allen Kreisen
und in allen deutschen Ländern, so daß im Jahre
Lehrlings= und Gesellenwesen.
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1853 schon 300 Gesellenvereine bestanden. Der
weck des Gesellenvereins, der zugleich eine
Jugend- und Standesorganisation bildet, ist
„Fortbildung und Unterhaltung der Mitglieder
zur Anregung und Pflege eines kräftigen reli-
giösen, bürgerlichen Sinnes und Lebens, zur
Heranbildung eines tüchtigen und ehrenwerten
Meisterstandes“. Der Aufbau der Gesellen-
vereine ist auf völlig patriarchalisch-monarchischer
Grundlage durchgeführt. An der Spitze des ge-
wählten Vorstandes steht als Präses ein katholi-
scher Geistlicher, welcher vom Diözesanpräses im
Einverständnisse mit dem Vorstande des Lokal-
vereins dem Dihzesanbischof vorgeschlagen und
von diesem ernannt wird und alle Gewalt in sich
vereinigt. Zu den Vorständen der einzelnen
Lokalvereine gehören auch einige außerhalb der
Vereine stehende Mitglieder, sog. Schutzvorstände.
Jeder Lokalverein hat volle Freiheit, seine innere
Organisation nach den Ortsverhältnissen einzu-
richten, nur müssen die allgemeinen Statuten ge-
bührend berücksichtigt werden. Kein Lokalverein
darf besondere Verbindungen von Mitgliedern ge-
statten. Die Behandlung der Politik und öffent-
lichen Angelegenheiten sowie jede religiöse Pole-
mik ist in den Vereinen untersagt. Jeder Lokal-
verein hat den zureisenden Vereinsmitgliedern eine
ordentliche, unter Kontrolle des Vereinsvorstandes
stehende Herberge zuzuweisen. Mitglieder
können in der Regel nur ledige katholische un-
bescholtene Handwerksgesellen im Alter von 17
bis 26 Jahren werden; Ausnahmen sind aber
zulässig. Jedes förmlich aufgenommene Mitglied
eines Lokalvereins ist zugleich Mitglied aller
übrigen in den „katholischen Gesellenverein“ auf-
genommenen Vereine; dadurch erhält der Verein
erst seine große interlokale und nationale, ja
internationale Bedeutung. Das Wander= und
Unterstützungswesen ist sorgfältig geordnet.
Die sämtlichen Gesellenvereine stehen miteinander
in Verbindung und bilden mehrere größere Ver-
bände unter dem gemeinsamen Vorsitze eines Ge-
neralpräses. Nach Kolpings Anordnung ruht das
Amt des Generalpräses stets in Händen des
Kölner Lokalpräses. Bei der Wahl desselben
wirken wegen seiner Wichtigkeit vier Vertreter des
Gesamtvereins mit, die jeweiligen Präsides von
Wien, München, Breslau und Münster. Auf
Wunsch Kolpings übernahmen die deutschen Bi-
schöfe die Gesellenvereinssache als Diözesanange-
legenheit und das Protektorat über die Vereine
ihrer Diözese und ernannten für die sämtlichen
Einzelvereine ihrer Sprengel einen alle über-
wachenden Diözesanpräses. — Die Gesellen haben
mehrere eigne Preßorgane, darunter als hervor-
ragendstes das „Kolpingsblatt“ (Aufl. 46 000).
— Den katholischen Gesellenvereinen entsprechen
in Frankreich die Cercles catholiques
Touvriers, deren es dort über 250 gibt,
mit dem Organ: L'association catholique,
revue des qduestions sociales et ouvrières,