Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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seit 1874 erscheinend, und in Belgien die Fédéra- 
tion des sociétés ouvrières catholiques mit 
dem in Lüttich erscheinenden Organe: L’Economie 
chrétienne. 
Die Zahl der dem Verbande katholischer Gesellen- 
vereine Deutschlands, Österreich-Ungarns und der 
Schweiz angehörenden Vereine betrug am 1. Jan. 
1907: 1140 mit 70 556 Gesellen und 38 033 Hand- 
werksmeistern; die meisten Vereine finden sich in 
Preußen und Bayern (716) sowie in Osterreich 
(181). Außerdem gibt es 21 Vereine mit 3868 Ge- 
sellen und 360 Meistern in den Niederlanden, Bel- 
gien, Frankreich, England, Schweden, Italien und 
Nordamerika. Die Ausbreitung der Gesellenvereine 
ist also eine ganz ungewöhnliche. Die Zahl der im 
Jahre 1906 in allen diesen Vereinen neu aufge- 
nommenen aktiven Mitgliedern betrug 21 650 
oder 29,1 % des ganzen Mitgliederbestandes. Es 
erneuert sich sonach in wenig mehr als drei Jahren 
jedesmal der ganze Mitgliederbestand; von rund 5 
zu 5 Jahren geht jedesmal ein volles 100 000 
Handwerksgesellen durch die Gesellenvereine und 
wird in ihnen für Handwerk und Industrie vor- 
gebildet. — Neben der Pflege des religiösen Lebens 
und der Gewährung von Unterkunft (in 357 Ho- 
spizen) nehmen die Gesellenvereine sich ganz be- 
sonders des Unterrichts und der Fortbil- 
dung (Fachbildung) der Gesellen an. In drei 
Stufen werden die Gesellen im Rechnen, Schreiben, 
Deutsch, Zeichnen wie im praktischen Fachunter- 
richt zur Meisterprüfung vorbereitet. Diese Un- 
terrichtskurse sind außerordentlich stark be- 
sucht und von höchst segensreicher Wirkung; 1907 
fanden in 526 Vereinen gegen 1000 Unterrichts- 
kurse in der ersten Stufe statt, außerdem über 300 
Fachkurse. Bis 1. Jan. 1907 waren 206 Fach- 
abteilungen eingerichtet. Unter den sozialen Ein- 
richtungen kommt auch das Sparkassenwesen 
für die Gesellenschaft in Betracht; es hat einen er- 
heblichen Umfang angenommen. Die Zahl der 
innerhalb des Verbandes bestehenden Sparkassen 
betrug am 1. Jan. 1907 bereits 613 mit einer Ein- 
lage von 5 207 135 Al. — Auch eigne Kranken- 
kassen hat der Gesellenverein gegründet; es be- 
standen deren im Verbande am 1. Jan. 1907 
insgesamt 211 mit 16 288 Mitgliedern, davon im 
Deutschen Reiche 144 mit 11 543 Mitgliedern; 61 
von diesen 144 sind Zuschuß-, die übrigen einge- 
tragene Hilfskassen. Die Krankenkassen wirken aus- 
gezeichnet. Eine am 1. Juli 1904 gegründete Zen- 
tralsterbekasse des Verbandes bildet, abgesehen 
von den verschiedenen Vereinsorganen, gegenwärtig 
den Schlußstein der sozialen Einrichtungen des Ge- 
sellenvereins; sie hatte am 1. Jan. 1908: 120 Zahl- 
stellen mit 3400 Mitgliedern. 
Der „katholische Gesellenverein“ ist durch seine 
Einrichtung somit zweifelsohne eine eminente so- 
ziale Schöpfung; er ist für die wirtschaftliche 
Entwicklung des Gesellen= und zum großen Teil 
auch des Handwerkerstandes überhaupt von weitest- 
tragender Bedeutung. 
Aruch evangelischerseits ist vieles geschehen, um 
die Gesellenbewegung in richtige Bahnen zu 
leiten. Hier wirken ähnlich wie die katholischen 
Gesellenvereine die Jünglingsvereine. Sie 
sind älteren Datums als die Gesellenvereine und 
Lehrlings= und Gesellenwesen. 
  
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gegen Ende des 18. Jahrh. gegründet zunächst aus- 
schließlich zu religiösen Zwecken, als Vereini- 
gungen zur religiösen Erbauung. Das soziale 
Element trat erst später, in den 1825 von van 
Raumer zu Erlangen gegründeten Handwerks- 
vereinen bzw. in dem von Pastor Mallet zu 
Bremen geschaffenen Jünglingsverein in die Er- 
scheinung. Die Jünglingsvereine hatten anfäng- 
lich keine großen Erfolge, ihre Vermehrung war 
nur sporadisch. Dieses wurde jedoch in den 
1840er Jahren besser, als Pastor Döring in 
Elberfeld dort den Vereinen einen Ausschwung 
gab. 1907 gab es über 2000 Jünglingsvereine 
mit 130 000 Mitgliedern. Wie Kolping als 
„Vater“ der katholischen Gesellenvereine, so gilt 
Döring als „Vater“ der evangelischen Jünglings- 
vereine. Die Jünglingsvereine beschränken sich 
jedoch nicht wie die Gesellenvereine nur auf die 
Gesellen des Handwerkerstandes, sondern sie suchen 
daneben auch die jugendlichen Angestellten im 
Handelsgewerbe und in der Industrie an sich zu 
ziehen. Im Hospiz= und Herbergswesen, im Ar- 
beitsnachweis usw. gleichen ihre Einrichtungen 
völlig denen des Gesellenvereins; auch sie haben 
auf diesem Gebiete Bedeutendes geleistet. Die 
erste „Herberge zur Heimat“ gründete 1854 der 
durch seine Schrift „Das Herbergswesen und die 
Handwerksgesellen“ bekannte Professor Perthes 
zu Bonn. 
Literatur. Biermer in Elsters Wörterbuch der 
Volkswirtschaft: „Gesellenverbände'“ 1 (1906) 965 uR 
„Gesellenverein“ 966 ff; Brentano, Die Arbeiter- 
gilden der Gegenwart 1 (1871); K. Bücher, Zur 
Arbeiterfrage im Mittelalter, in der Waage III 
786, 801; O. Gierke, Das deutsche Genossenschafts- 
recht 1 (1868) 383 ff 907 ff; Jakob Grimm, Ge- 
sellenleben, in den „Altdeutschen Wäldern" 1 (1813) 
83/122; K. Lamprecht, Zur Sozialstatistik der 
deutschen Stadt im Mittelalter, im Archiv für So- 
zialökon. u. Statistik I 497 ff; G. L. v. Maurer, 
Gesch. der Städteverfassung in Deutschland II 
(1869/71) 378 ff; F. Hitze, Schutz dem Handwerk 
(1883); Moritz Meyer, Gesch. der preuß. Hand- 
werkerpolitik 1 (1884) 22/28; ll (1888); J. Mone, 
Zunftorganisation vom 13. bis 16. Jahrh., in der 
Zeitschrift für die Gesch, des Oberrheins XV 1ff; 
Cl. H. Perthes, Das Handwerkswesen der Hand- 
werksgesellen (21883); Rehlen, Gesch, der Gewerbe 
(1855); G. Schanz, Zur Gesch. der deutschen Ge- 
sellenverbände (1877); derf., Zur Gesch. der Ge- 
sellenwanderungen, im Jahrbuch für Nationalökon. 
u. Statistik VXXIII 313/343; G. Schmoller, Gesch. 
der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrh. (1870); 
G. Schönberg, Zur wirtschaftl. Bedeutung des deut- 
schen Zunftwesens im Mittelalter, im Jahrbuch 
für Nationalökon. u. Statistik IX 1/72, 97/169; 
B. Schönlank, Art. „Gesellenverbände“ im Hand- 
wörterbuch der Staatswissenschaften IV 182 ff; 
W. Stahl, Die Arbeiterassoziationen in Vergangen- 
heit u. Gegenwart (1867); W. Stieda, Zur Gesch. 
des deutschen Gesellenwesens, im Jahrbuch für Na- 
tionalökon. u. Statistik XXIII 334/339; Stock, 
Grundzüge der Verfassung des Gesellenwesens der 
deutschen Handwerker (1844); Winzer, Die deut- 
schen Bruderschaften des Mittelalters (1859); 
 
	        
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