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liberale Bedeutung dieser Theorie war indes auch
Le Play nicht hinausgekommen. Erst allmählich
begriff er, wie wenig mit diesem ebenso inhaltlosen
wie in seiner Allgemeinheit für jeden weiteren
Fortschritt zur Verwirklichung der Sozialreform
unbrauchbaren liberalen Religionsbegriff errungen
sei. Das beunruhigte ihn. Wie keiner begriff er
mehr und mehr die Schwierigkeiten, die sich aus
diesem ersten Resultate seiner Forschung ergaben;
er stand vor der großen Frage, ob und wieweit
den seit 1789 verirrten Völkern durch die Reli-
gion die sichere Rückkehr zum sozialen Frieden ge-
zeigt werden könne. Die wachsende Einsicht in die
wissenschaftlich nicht ausreichende Antwort der
Ouvriers européens wies ihn auf die Lücke seines
soziologischen Bildungsganges hin; daß er nur
mit den Arbeiten seines Lebens und den schmerz-
lichsten Erfahrungen sie auszufüllen vermochte,
ahnte er nicht. Die Unvollständigkeit seiner reli-
giösen Bildung und Erziehung, die über der
schnellen und hohen Entwicklung seiner soziologi-
schen Entwicklung zu kurz gekommen war, die
steptische Richtung der polytechnischen Studien,
die Einwirkung der liberalen Idee von der ange-
bornen Güte der Menschennatur, die Methode
des praktischen Zweifels, die Unruhen des immer-
währenden Reisens, die Berührung mit allen
möglichen Religionen und Kirchen, politischen und
sozialen Einrichtungen und Ideen, die kosmo-
politische Veranlagung seines Geistes und Ar-
beitens hatten ihm den sichern Blick in den tiefsten
Lebensgrund alles sozialen Lebens, die Lehre und
das Leben der Kirche, der größten sozialen Ge-
wissens= und Lebensmacht, getrübt, die Stellung
zu ihr verschoben, und zwar so sehr, daß er im
Jahre 1848 sich entschlossen hatte, fortan nur der
Metallurgie sich zu widmen. Nur den eindring-
lichen Bemühungen von Thiers, Lanjuinais, Mon-
talembert war es gelungen, ihn bei den sozio-
logischen Studien festzuhalten und ihn eine Re-
vision derselben vornehmen zu lassen. Daß letztere
mit Bezug auf das religiöse Problem nicht durch-
gedrungen, zeigten die Ouvriers européens. Es
war eine der verhängnisvollsten Folgen des Staats-
streiches vom 2. Dez. 1851, daß die allgemeine
Aufmerksamkeit so schnell von der Notwendigkeit
jener sozialen und wirtschaftlichen Reformen ab-
gelenkt wurde, welche die Uberwindung des So-
zialismus damals leicht gemacht hätten. Das galt
für Le Play um so mehr, als seine engere Ver-
bindungmit Napoleon III. und dem zwei-
ten Kaiserreich ihn in dessen Ideenkreis stellte.
Als Mitglied der Jury der Londoner Welt-
ausstellung (1851) hatte er Gelegenheit, deren
Idee für höhere soziale Zwecke zu studieren; in
der Pariser Weltausstellung (Mai 1855) stellte
er ein solches Meisterwerk vollendeter Organi-
sation vor aller Augen, daß Napoleon III. ihn
(8. Dez. d. J.) in den Staatsrat berief und
zum Senator ernannte. Mehr als je dachte der
Kaiser an die Ausführung des Sozialprogramms
Staatslexikon. III. 3. Aufl.
Le Play.
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von Bordeaux (1852) (Rückkehr zur Religion, zur
Sittlichkeit, zum Wohlstand l. Ein soziales Re-
sormprojekt Le Plays wurde von Morny im Ka-
binettsrat eingebracht, aber von der Mehrheit ab-
gewiesen. Das entmutigte Le Play so wenig,
daß er angesichts der Niederlage des von ihm ver-
anlaßten Gesetzentwurfs betr. die Stärkung der
väterlichen Gewalt im Corps Lgislatif (1855)
seine soziale Tätigkeit verdoppelte unter steter Er-
munterung des Kaisers. Er gründete 1856 zur
Anregung und Förderung soziologischer Studien
die Société internationale d’économie sociale,
welche im Anschluß an die Lehren und die mono-
graphische Methode der Cuvriers europens die
Ouvriers des deux mondes herauszugeben be-
gann und in monatlichen Sitzungen die Haupt-
fragen der Sozialwissenschaften durch dazu ge-
ladene Autoritäten behandelte und zur Diskussion
stellte. Damit war die Grundlage zu der nach
dem „Meister“ bis heute in steigendem Maße
soziologisch tätigen Schule gelegt.
Als angesichts des italienischen Krieges (1859)
durch die ins Maßlose sich steigernde soziale Agita-
tion die ganze unheilvolle Tiefe der sozialen Gefahr
Le Play nahe trat, entschloß er sich, in der Einsicht,
Teilreformen seien fortan unnütz, zur Ausarbei-
tung eines vollständigen Reformprogramms. Auf
Ermunterung des Kaisers arbeitete Le Play sein
größtes und bedeutendstes Werk aus: La Ré-
forme sociale en France, déduite de
Tobservation comparée des peuples euro-
pé##ens (3 Bde, Par. 1864). „Der Augenblick“,
sagte Le Play, „ist für Frankreich da, an die
Stelle unfruchtbarer Kämpfe, die aus der Ver-
derbnis des ancien régime und der zeitgenössi-
schen Revolutionen entstanden sind, eine segen-
bringende Verständigung zu setzen, die auf die
methodische Beobachtung der sozialen Tatsachen
sich gründet.“ In sieben Kapiteln behandelt er:
Religion, Eigentum, Familie, Arbeit, Assoziation,
Privatbeziehungen, Regierung; in 68 Paragra-
phen werden alle wesentlichen Fragen der Sozial-
reform abschließend jede für sich besprochen.
Sowohl der sozialpolitische Standpunkt des Ver-
fassers als der ethisch-religiöse erregten allgemeine
Aufmerksamkeit. „Die Religion“, erklärte jetzt
Le Play, „ist die erste Grundlage der Ge-
sellschaften. Das (30jährige) methodische
Studium der europäischen Gesellschaften hat mich
belehrt, daß das Glück der einzelnen wie das
Wohl der Gemeinschaften im genauen Verhält-
nis zu der Energie und der Reinheit der religiösen
Überzeugungen stehen.“ Wie aus der Abweisung
aller gegen diese Anschauung gerichteten Einwürfe
hervorgeht, stand Le Play indes hinsichtlich der
sozialen Würdigung der Religion noch ganz auf
dem Standpunkt der Napoleonischen Ideen. Von
den drei Grundwahrheiten der christlichen Apolo-
getik: Gott, Christus, Kirche, verteidigte Le Play
die erste und zweite, vor der dritten hielt er inne;
in den wesentlich übernatürlichen Charakter der
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