Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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ut multitudo in unitate pacis constituatur, 
zu gewinnen. Schon am 20. April erhielt Kar- 
dinal Bonnechose die Antwort, worin nach dem 
Lobe des Lebens und der Arbeiten des großen 
Meisters sich die Aufforderung findet: „Es wäre 
sicherlich eine sehr große Wohltat der göttlichen 
Güte, wenn alle durch eigne Beobachtung und 
auf dem Wege der Erfahrung begreifen würden, 
was der berühmte Le Play eingesehen hat: daß 
man nämlich in den Vorzügen der Kirche, in ihren 
Lehren und Vorschriften das wahrhaft wirksamste 
Heilmittel für die Wunden der bürgerlichen Ge- 
sellschaft, welche so schwer leidet, zu suchen hat.“ 
Treu dieser Weisung setzt die Le Playsche Schule 
mit seltener Pietät und mit großer Anstrengung 
das Werk des Meisters fort. Im Anschluß an 
die Ecole de la paix sociale begannen die 
Unions de la paix sociale seit 1871 ihre 
Arbeit; es sind Vereinigungen, welche mit solchem 
Erfolge die sozialen Studien fördern und die 
fundamentalen Prinzipien der Reform ausbreiten, 
daß sie in Frankreich, Rußland, England und 
Amerika weit über 5000 Anhänger aller Lebens- 
und Parteistellungen, „soziale Autoritäten“, d. i. 
auf dem Boden des Gottesglaubens und des De- 
kalogs stehende Reformfreunde zählten, darunter 
Männer wie Claudio Jannet, George Blondel, 
Raphael Luzzati, E. de Laveleye, Gladstone, Lavi- 
gerie u. a. Mittelpunkte ihres Arbeitens sind die 
Monatssitzungen in Paris u. a. und die tüchtige 
halbmonatliche Revue La Réforme socciale 
(Paris), welche in Weiterführung der Forschungen 
des Meisters, in ihrer Verbesserung und Vervoll- 
kommnung noch heute ganz Hervorragendes leistet 
sowohl in der Verteidigung der Grundlagen wie 
der Resultate seiner Sozialtheorie wie auch in der 
Ausbreitung seiner Methode. 
Die Grundlagen der Theorie sind die aus der 
Beobachtung der sozialen Tatsachen des Glückes 
und des sozialen Friedens wie der des Nieder- 
gangs und der sozialen Auflösung sich ergebenden 
sieben Kategorien der Reform: Religion, Eigen- 
tum, Familie, Arbeit, Assoziation, Privatinitia- 
tive, Regierung. Alle Tatsachen des Soziallebens 
finden ihre genaue Erforschung, Feststellung und 
Würdigung in der Ein= und Unterordnung unter 
diese Kategorien, für welche aus der Mitte der 
zeitgenössischen und früheren Institutionen, Per- 
sonen, Familien mustergültige Reformtypen ge- 
wählt werden, deren Studium in den bis ins 
einzelnste durch rastlose Arbeit vollendeten sozialen 
Monographien die Voraussetzung echter Reform- 
arbeit ist. Die Monographien, meistens von Ar- 
beiterfamilien der sorgfältigsten Auswahl, er- 
forschen im unmittelbaren Leben unter ihnen alle 
Details des privaten und des sozialen Lebens, die 
persönlichen und lokalen Verhältnisse, die Be- 
ziehungen zu den Arbeitgebern, die bestehenden 
Institutionen, die herrschenden Anschauungen. Die 
gewonnenen Resultate unterliegen der eingehenden 
Nach= und Überprüfung durch die sog. autorités 
  
Le Play. 
  
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sociales, d. i. jene von allgemeiner Hochachtung 
infolge ihres Beispiels und ihres Einflusses um- 
gebenen Personen, welche als die Träger der heil- 
samen Uberlieferungen der Vorfahren den segens- 
reichen Einfluß des Naturgesetzes und seiner 
Ordnung verkörpern. Das Studium der Grund- 
lagen der sozialen Organisation der Gegenden und 
der Umgebung der Typen bildet den Rahmen des 
Gesamtbildes, die Familienbudgets den konkreten 
Mittelpunkt. Soziale Enqueten haben nach 
der Anschauung Le Plays und seiner Schule nur 
dann Anspruch auf Zuverlässigkeit und Beachtung, 
wenn sie nicht gewisse Einzelheiten aus der Menge 
der sozialen Erscheinungen herausgreifen, sondern 
typische Zustände als Ganzes bis ins einzelne 
durchforschen. Das Endresultat ist der peremtori- 
sche Erweis einer kleinen Anzahl von Soziallehren, 
die in dem Dekalog, dem höttlich gewähr- 
leisteten natürlichen Sozialgesetz, vorliegen, dessen 
Beobachtung oder Vernachlässigung Leben oder 
Tod der Gesellschaft in sich tragen. 
Unter den charakteristischen Zügen der Le Play- 
schen Sozialtheorie sei hingewiesen vorab auf 
seine Eigentums= und Erblehre. Dem Ge- 
meineigentum fehlt der Sporn des Privatinter- 
esses, der Produktivität, der Solidarität, indem es 
die Stärkeren und Klügeren zu Herren, die andern 
zu Lastträgern macht. Der zwangsweisen Erhal- 
tung der Güter in der Familie und der Über- 
tragung an einen gesetzlich bestimmten Erben 
(Fideikommisse, bäuerliches Anerbenrecht) steht die 
Zwangsteilung des Code eivil entgegen. Letztere. 
führt zur Zerstörung der Familientradition durch 
Verkauf des ererbten Gutes, zur Sterilität, hin- 
dert den technischen Fortschritt der Produktion, 
hebt die Tradition in großen Wirtschaftsunter- 
nehmungen auf usw. Le Play will Testierfreiheit 
des Familienhauptes für mindestens die Hälfte 
des Nachlasses oder ein dasselbe Ziel feststellendes 
Intestaterbrecht für einen Erben; er will dies zur 
Stärkung der Autorität des Vaters, zur Entwick- 
lung der Privatinitiative, des Fleißes, der Spar- 
samkeit und der Unternehmungslust der Kinder, 
zur Begünstigung der Kolonisation, zur Hebung 
der allein durch die Kontinuität der Arbeit und 
der Einführung zu sichernden Vervollkommnung 
der Produktion. 
Mit der Eigentumsreform bringt Le Play die 
Familienreform in engsten Zusammenhang. 
Zwischen der patriarchalischen Familie mit der 
Oberherrschaft des gemeinsamen Vaters über alle 
Söhne und das Gemeineigentum und der un- 
beständigen Familie mit der Trennung der Kinder 
und dem Individualeigentum bleibt die Stamm- 
familie namentlich für die Ackerbau treibenden 
Völker der Reformtyp. Der Vater erwählt und 
erzieht das tauglichste Kind als Nachfolger im Be- 
sitze, den Rechten und den Pflichten des Familien- 
gutes unter testamentarisch geregelter Abfindung 
und Versorgung der übrigen Kinder entweder im 
Hause oder außerhalb. Die Bewahrung des Fa- 
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