Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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das angeführte Werk von Jellinek, woselbst reiche 
Literaturangaben.) 
4. Auch im wirtschaftlichen Leben ist 
der Liberalismus in seinem Entstehen geschichtlich 
zunächst zu begreifen als berechtigte Opposition 
gegen zu weitgehende gesellschaftliche Bindung des 
wirtschaftenden Individuums und als Betonung 
des Wertes der frei schaffenden selbstverantwort- 
lichen Persönlichkeit; unrichtig wäre es, wollte 
man behaupten, der Liberalismus sei von Anfang 
an für die schrankenlose Erwerbsfreiheit aufgetreten. 
Adam Smith hat gewiß den Wert der „gebun- 
denen Organisation der Gesellschaft“ verkannt, 
aber selbst er ist nicht maßloser Individualist; bei 
allem Eintreten für wirtschaftliche Freiheit hatte 
er doch auch Verständnis für eine Reihe von 
Staatsinterventionen und für Sicherung der 
Schranken der Gerechtigkeit. (Vgl. Huth. Soziale 
und individualistische Auffassung im 18. Jahrh., 
vornehmlich bei Adam Smith u. Adam Ferguson 
(19071.) In der Folgezeit freilich wurde der öko- 
nomische Liberalismus in Verkennung des Wertes 
gesellschaftlicher Bindungen immer einseitiger und 
verlangte in konsequentem Doktrinarismus ab- 
solute Erwerbsfreiheit und unbeschränkten Wett- 
bewerb des Individuums nach innen und außen. 
Den theoretischen Ausbau dieses extremen wirt- 
schaftlichen Liberalismus lieferte die sog. Frei- 
handelsschule. Der Schaden — vielfache Aus- 
lieferung der wirtschaftlich Schwachen an die wirt- 
schaftlich Starken — blieb nicht aus, und eine 
Reaktion war selbstverständlich und notwendig. 
Aber auch so in der tatsächlichen geschichtlichen 
Entwicklung des Liberalismus darf man neben 
den Schattenseiten die Lichtseiten nicht übersehen. 
Diese Lichtseiten liegen in der intensiveren Durch- 
setzung der Volkswirtschaft mit dem Geiste des 
zielbewußten wirtschaftlichen Handelns und in der 
gewaltigen Steigerung der wirtschaftlichen Pro- 
duktivkräste, welche die materiellen Fortschritte 
unserer Zeit erst ermöglichten. Außerdem ist daran 
festzuhalten, daß die liberalistische Grundlage 
unserer Wirtschaftsverfassung mit ihrem Gegensatz 
zu zünftiger und feudaler Gebundenheit etwas 
ist, was durchaus berechtigten, sachlichen und so- 
zialpsychologischen Anforderungen entspricht. (Eine 
vortreffliche systematisch-kritische Würdigung der 
liberalistischen Wirtschaftsverfassung mit ihren 
sormalen Freiheitsrechten liefert Adolf Wagner, 
Grundlegung der politischen Okonomie I. 1 
1/18921, 794/827: Das moderne privatwirt- 
schaftliche System der freien Konkurrenz; I. 2 
(#118941, 3/178: Persönliche Freiheit in volks- 
wirtschaftlicher Betrachtung. Unfreiheit u. Frei- 
heit.) Zwei Rechtsinstitute sind als die Grundpfeiler 
dieser modernen liberalistischen Wirtschaftsverfas- 
sung anzusehen, freies Privateigentum und freier 
Arbeitsvertrag. Andere soziale und wirtschaftliche 
Freiheitsrechte schließen sich an. Diese formalen 
Rechte wirken freilich nur dann segensreich, wenn 
positive Einrichtungen und Gegengewichte ein 
Liberalismus. 
  
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gutes Funktionieren derselben garantieren. (Vgl. 
A. Ott, Freiheit u. Gebundenheit des Arbeitsver- 
trags, in Soziale Kultur XXVI/1905) 236/243.) 
Wo diese fehlen, da wird aus der formalen Frei- 
heit viel Unheil entstehen und vor allem manche 
Unterdrückung der wirtschaftlich Schwachen sich ein- 
stellen. Um ein geschichtliches Beispiel zu nehmen, 
so hat die liberale preußische Agrarreform des be- 
ginnenden 19. Jahrh. ohne Zweifel große Schäden 
im Gefolge gehabt. Aber das rührte wesentlich 
nicht davon her, daß in liberaler Weise die Ge- 
bundenheit des Grundbesitzes weitgehend auf- 
gehoben und Freiheit des Grundbesitzes geschaffen 
war, sondern daß positive Einrichtungen (vor 
allem Kreditorganisationen) zu lange gefehlt haben, 
welche ein gutes Funktionieren dieser Freiheit 
garantierten. Um es kurz zu sagen, die liberale 
Agrarreform war zu lange nur nach der nega- 
tiven, befreienden, nicht aber nach der positiven 
oder organisatorischen Seite ausgebaut. Bewußtes 
Eintreten für liberalistische Wirtschaftsverfassung 
ist auch durchaus nicht unvereinbar mit grund- 
sätzlicher Sozialpolitik. Zutreffend kommt dies 
zum Ausdruck in folgenden Ausführungen eines 
liberalen Nationalökonomen: „Die sozialpolitisch- 
liberale Ideenrichtung hält an der gewerblichen 
Freiheit und rechtlichen Gleichheit als den Grund- 
bedingungen des intensiven wie extensiven Kultur- 
fortschrittes und der größtmöglichen Entfaltung 
aller Fähigkeiten der einzelnen fest. Allein sie er- 
kennt an, daß die bloße Beseitigung der alten ge- 
werblichen Ordnung ohne positive Maßnahmen, 
um diese Prinzipien im Leben zur Wahrheit zu 
machen, Mißstände erzeugt hat, welche geradezu 
zur Unfreiheit führen und die schwächeren sozialen 
Elemente von der Teilnahme an den Kulturfort- 
schritten ausschließen. Sie ist daher bestrebt, auf 
dem Boden der bestehenden Eigentums= und Er- 
werbsordnung teils gesetzliche Maßregeln teils 
freiwillige Organisationen zu finden, welche, in- 
dem sie die sozial Schwächeren gegen den Miß- 
brauch der Übermacht der Stärkeren schützen und 
dieselben in stand setzen, vereint den Kampf der 
wirtschaftlichen Interessen mit den Stärkeren auf- 
zunehmen und zu bestehen, die Prinzipien der ge- 
werblichen Freiheit und rechtlichen Gleichheit auch 
im Leben zur Verwirklichung zu bringen“ (Bren- 
tano in Schönbergs Handbuch der politischen 
Okonomie 11 937; vgl. dazu über den sozialrefor- 
matorischen Liberalismus Philippovich, Grundriß 
der politischen Okonomie I7119081 412 ff). 
5. Eine zusammenfassende Würdigung 
des Liberalismus als gesellschaftspolitisches Prin- 
zip hat, wie teilweise schon hervorgehoben, die ver- 
schiedensten Gesichtspunkte zu beachten; es kommen 
in Betracht die erste Entstehung der liberalen 
Tendenzen und die Frage nach deren geschichtlicher 
Berechtigung, sodann die spätere Entwicklung und 
das Maß und die Art ihrer Verwirklichung, die 
Begleiterscheinungen, die Haltung der politischen 
Parteien, welche Träger liberaler Bestrebungen
	        
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