Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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wurde er gewählt. Sein Wahlkreis ist ihm un- 
erschütterlich treu geblieben; nur in einer Legis- 
laturperiode (1885/88) hat er denselben seinem 
Freunde Cahensly überlassen, weil er selbst in- 
folge einer besondern Konstellation vorübergehend 
den Oberlahnkreis erobern konnte. Kurz darauf 
(März 1871) erfolgte seine Wahl zum Reichstag 
für den Wahlkreis Montabaur-St Goarshausen, 
den er ununterbrochen bis zu seinem Tode ver- 
Lieber. 
  
treten hat. Die Zentrumsfraktion des preußischen 
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vorlage von 1892 durchsetzte. Bekanntlich ver- 
langte die Regierung gegen das Zugeständnis der 
zweijährigen Dienstzeit eine Erhöhung der Frie- 
denspräsenzstärke um 84000 Mann. Die große 
Mehrheit des Zentrums verhielt sich, abgesehen 
von der Einführung der zweijährigen Dienstzeit 
für die Rekrutierung, gegen die Erhöhung ab- 
lehnend, ebenso gegen den Kompromißantrag, 
welchen die Minderheit (v. Huene und Genossen) 
unter Billigung des Reichskanzlers einbrachte, 
Abgeordnetenhauses wie des Reichstags zählt ihn und welcher die Erhöhung der Friedenspräsenz- 
zu ihren Gründern. stärke nur auf 70 000 Mann festsetzte. Der Kom- 
Liebers parlamentarische Tätigkeit zerfällt natur= promißantrag fiel, nach den Neuwahlen kehrten 
gemäß in zwei ungleiche, durch den Tod Windt= nur wenige Mitglieder der Minderheit des Zen- 
horsts (14. Febr. 1891) getrennte Abschnitte. trums zurück, aber trotzdem war jetzt eine Mehr- 
Während des ersten gehörte er zu den meistver= heit für den Kompromiß im neuen Reichstag vor- 
sprechenden, später zu den hervorragenden, wenn handen, die denselben denn auch annahm. Die 
auch nicht immer führenden Mitgliedern der beiden Fraktion hat an ihrem Widerspruch festgehalten. 
Zentrumsfraktionen. Als Schriftführer und Mit- Bei diesem Konflikt stand Lieber in erster Reihe. 
glied der Budgetkommission erhielt er schon bald Bezüglich des Landheeres hat Lieber später eine 
Gelegenheit, sich gründlich in den parlamentarischen Vermittlung gesucht: bei der neuen Vorlage 1899 
Geschäftsgang und in die Etats einzuarbeiten; er wurde die verlangte weitere Erhöhung der Prä- 
hat sie allmählich in einer Weise beherrschen ge= senzstärke (23000 Mann) um 7000 gekürzt. Auch 
lernt, die das Erstaunen auch der Fachmänner er- 
regte. Hier wurde seine gründliche Vorbildung 
und natürliche Begabung ergänzt durch eisernen 
Fleiß und eine über jedes Lob erhabene Gewissen- 
haftigkeit der Pflichterfüllung. Schon in den 70er 
Jahren galt er als tüchtiger Redner und schlag- 
fertiger Debatter; er sprach langsam, manchmal 
zu pathetisch und pointiert, aber durchaus sachlich, 
oratorisch wirkungsvoll, oft hinreißend, in ge- 
feiltester Form. Durchschlagend hat er mehrfach, 
so beim Sperrgesetz, in den Kulturkampfsdebatten 
das Wort geführt; doch beschränkte er sich durch- 
aus nicht auf kirchenpolitische Themata: die Ar- 
beiterschutzgesetzgebung wie die Sozialreform über- 
haupt hatte an ihm einen eifrigen Befürworter. 
Bekannt ist die wirkungsvolle Beteiligung Lie- 
bers an den Arbeiterschutzanträgen des Zentrums 
(1884/87), welche er teils mit dem Abgeordneten 
Freiherrn v. Hertling, teils mit dem Abgeordneten 
Hitze gemeinschaftlich stellte und verfocht. Auch 
an der Justizreform wie am Zustandekommen des 
B.G. B. war er hervorragend beteiligt. Die Ein- 
fügung in den Fraktionsverband ist seinem selbst- 
bewußten, impulsiven Wesen nicht immer leicht 
gewesen, auch Konflikte mit Windthorst haben 
nicht ganz gefehlt. Wiederholt hat er sich bei wich- 
tigen Abstimmungen von der Fraktion getrennt, 
beim Zolltarif hat er sich der Abstimmung ent- 
halten. Durchweg vertrat er die schärfere Rich- 
tung der Partei, was natürlich um so deutlicher 
hervortrat, je mehr der kirchenpolitische Konflikt 
an Bitterkeit verlor. Die so oft für ihn be- 
liebte Bezeichnung als „Demokrat“ ist jedoch 
lediglich ein Beweis, wie leicht es ist, in gouverne- 
mental gerichteten Kreisen zu einem solchen Titel 
zu kommen. » 
Die volle Schale der Entrüstung hat sich über 
ihn ergossen, als er die Ablehnung der Militär- 
zu den Flottenfragen stellte er sich bald 
freundlicher. Nachdem er noch im Frühjahr 1897 
an den Streichungen des Etats für Schiffsneu- 
bauten und an der Zurückweisung der „uUferlosen“ 
Pläne teilgenommen, die in der Denkschrift des 
Staatssekretärs Hollmann niedergelegt waren, hat 
er den allerdings besser umgrenzten Flottenplan 
des neuen Staatssekretärs v. Tirpitz (vorgelegt am 
30. Nov. 1897) grundsätzlich gebilligt und fast die 
ganze Fraktion mit Ausnahme der bayrischen Mit- 
glieder mit sich gezogen. Die Bauzeit und damit 
der Verzicht auf die jährliche Etatisierung wurde 
von 7 auf 6 Jahre beschränkt und durch teilweise 
Hinausschiebung der Ersatzbauten die für das 
Sexennat geforderte Bausumme erheblich vermin- 
dert, aber im wesentlichen die Regierungsvorlage 
angenommen. Daß dieser Ausgang vor allem auf 
„Rechnung Liebers gesetzt werden muß, ist allge- 
mein zugestanden, um so mehr aber gehen die 
Ansichten über die psychologische Erklärung dieser 
veränderten Stellungnahme auseinander. Die auf 
der Linken beliebte „Kuhhandels“-Hypothese, Be- 
willigung der Flottenvorlage gegen kirchenpolitische 
Zugeständnisse, kann man mit der einfachen Er- 
wägung beiseite schieben, daß irgendwie erhebliche 
Zugeständnisse nicht erfolgt sind. Man müßte 
denn den Bundesratsbeschluß vom 18. Juli 1894 
als erheblich betrachten, welcher die Redemptoristen 
und die Väter vom Heiligen Geist von den Wir- 
kungen des Jefuitengesetzes befreite, das Gesetz 
selbst aber unverändert ließ. Selbstische Beweg- 
gründe sind bei Lieber gänzlich ausgeschlossen. 
Nach seinem Tode ist in einem Berliner Lokal- 
blatt die in engeren parlamentarischen Kreisen 
schon früher umlaufende Angabe aufgetaucht, man 
habe ihm als Belohnung ein hohes Staatsamt 
Henantt wurde das Oberpräsidium der Provinz 
Hessen-Nassau) oder eine hohe Ordensauszeich-
	        
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