Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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mens gegen das Inquisitoriat zu zehnmonatiger 
Festungsstrafe mit angemessener Beschäftigung 
innerhalb der Festung“ verurteilt. Er flüchtete, 
kehrte aber nach langen Irrfahrten 1824 nach 
Württemberg zurück, wurde sofort verhaftet und 
auf den Asperg gebracht, wo der „Festungssträf- 
ling Fr. List“ mit Abschreiben von Verzeichnissen 
„angemessen“ beschäftigt wurde. 
Gegen das Versprechen der Auswanderung 
wurde List im Jan. 1825 aus der Haft entlassen 
und ging nun, wie er schon früher beabsichtigt, 
nach Amerika. Dort wurde er zunächst Landwirt, 
dann Redakteur. Der Zollkrieg Amerikas mit 
England (1827) zeigte ihm endlich sein Arbeits- 
feld. In populären Zeitungsartikeln bekämpfte er 
das kosmopolitische Freihandelssystem des Adam 
Smith und veröffentlichte dann die Artikel ge- 
sammelt im Auftrage der Pennsylvanischen Gesell- 
schaft zur Beförderung der Manufakturen unter 
dem Titel: Outlines of a new system of po- 
litical economy. Nach Entdeckung eines Stein- 
kohlenlagers gründete er eine Kapitalgesellschaft 
zu dessen Ausbeutung und wandte sich dem Eisen- 
bahnwesen zu. Das Heimweh veranlaßte ihn 
1830 zur Übersiedlung nach Europa. Er sollte 
amerikanischer Konsul in Hamburg werden, wurde 
aber als „Demokrat und Demagoge" vom Senat 
abgelehnt; die gleiche Abweisung erfuhr er als 
Konsul in Leipzig seitens der sächsischen Regierung. 
Im Jahre 1833 gab er die Anregung zur Ent- 
stehung des „Staatslexikons“ von Rotteck und 
Welcker und warf sich sodann mit lebhaftem Eifer 
auf die Förderung des Eisenbahnwesens in Deutsch- 
land. Als seine Einnahmen aus dem amerikani- 
schen Steinkohlenlager zu stocken begannen, begab 
er sich 1837 nach Paris, widmete sich dort jour- 
nalistischer Tätigkeit und bearbeitete eine Preis- 
aufgabe der Pariser Akademie „über die zweck- 
mäßigste Art des Ubergangs vom Schutzzoll zum 
Freihandel“; unter den 27 eingegangenen Ar- 
beiten wurden drei, darunter die von List in 
wenigen Wochen ohne Materialien geschaffene, als 
ouvrages remarquables ausgezeichnet. Im 
Jahre 1840 kehrte er nach Deutschland zurück. 
Hier erschien Ende dieses Jahres sein „Nationales 
System der politischen Okonomie“. 1842 ging er 
nach Augsburg und arbeitete dort viel für die 
„Allgemeine Zeifung“. 1843 gründete er das 
„Zollvereinsblatt“, vermittelte 1844 den Vertrag 
zwischen dem Zollverein und Belgien, ging 
im gleichen Jahre nach Wien und Preßburg und 
beschäftigte sich lebhaft mit einem Entwurfe zur 
nationalökonomischen Reform Ungarns und dessen 
enger Verbindung mit Deutschland. 1845 kehrte 
er nach Augsburg zurück. Von Nahrungssorgen 
und körperlichen Leiden gequält, suchte er nach 
einer Reise nach London in Tirol Erholung und 
endete in der Verdüsterung seines Geistes und 
Zerrüttung seines Körpers am 30. Nov. 1846 
bei Kufstein durch Selbstmord. — Eine große 
Denkmalsanlage wurde ihm 1906 am Dupxerköpfl 
List. 
  
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bei Kufstein, ein kleineres Denkmal schon früher in 
seiner Heimatstadt errichtet. 
Lists Leben ist die beste, eindringlichste Dar- 
legung seines Wirkens und seiner Bedeutung. 
Sein eigenartiger Bildungsgang und der Kampf 
gegen die Bureaukratie Württembergs, gegen die 
engherzigen und kurzsichtigen Anschauungen der 
herrschenden Kreise, sein rastloses Bemühen, auf 
den verschiedenartigsten Gebieten anzuregen, mit 
weitreichendem, unbefangenem Blicke dem volks- 
wirtschaftlichen Leben neue Bahnen zu eröffnen, 
seine Kühnheit in den Entwürfen, seine Rücksichts- 
losigkeit in der Kritik des Bestehenden, wenn er 
dasselbe als schädlich erkannt hatte, seine außer- 
ordentliche Darstellungsgabe, mit welcher er (leider 
zumeist nur für kurze Zeit) für seine Ideen zu be- 
geistern wußte, all diese Momente sind von Bedeu- 
tung für eine gerechte Würdigung seiner wissen- 
schaftlichen Tätigkeit. Der Aufenthalt in Amerika 
hatte seinen Blick für das Leben, diese einzige 
Quelle aller volkswirtschaftlichen Forschung, ge- 
schärft; er vergaß aber, daß in Europa nicht das 
kühn, rücksichtslos vorwärts strebende Leben Ameri- 
kas pulsierte. Darin, daß er sich nicht mäßigen 
konnte, daß er über seinen weit aussehenden Plänen 
das zunächst Erreichbare nicht selten außer acht 
ließ, daß er zu optimistisch oft die gewöhnlichste 
Vorsicht und Klugheit beiseite setzte, ist zum Teil 
auch der Grund zu suchen, warum trotz vielfacher 
Anerkennung sein Lebensabend so traurig sich 
gestaltete, seine außergewöhnliche Arbeitskraft, die 
unter den trübseligsten Verhältnissen, unter viel- 
fachen Täuschungen und Anfeindungen mit un- 
erschöpflicher Ausdauer und Aufopferung stand- 
gehalten hatte, dem Gedanken, ein nutzloses, ver- 
gebliches Leben gelebt zu haben und unverstanden 
zu bleiben, zuletzt erliegen mußte. 
Dem kosmopolitischen System der Schule Adam 
Smiths stellt List das „nationale“ System ent- 
gegen, indem er dem Staate die ihm gebührende 
Rolle in der Volkswirtschaft zuweist. Im Gegen- 
satz zur individualistischen Auffassung betont List, 
daß die staatlichen Gemeinschaften und staatlichen 
Einrichtungen ein integrierendes Element, eine 
Hauptursache des volkswirtschaftlichen Fortschrittes 
seien. Darin liegt das Wesen der Listschen Theorie 
von der nationalen Volkswirtschaft. In der Auf- 
fassung der Nationalwirtschaft als einheitlicher 
Körper liegt auch die größte Bedeutung Lists als 
Volkswirt. Dieser Gedanke, der den Grundstein 
für den ganzen weiteren Aufbau der späteren volks- 
wirtschaftlichen Wissenschaft bildet, regt List an 
zum Eintreten für den industriellen Schutzzoll in 
Form eines Erziehungszolls. Die inländischen 
Gewerbe sollen durch Zölle so lange vor der Kon- 
kurrenz des Auslandes geschützt werden, bis sie ihr 
gewachsen sind; freilich verteuert der Zoll anfangs 
die Produkte für den Konsumenten, aber nur so 
lange, bis die erwachende und erstarkende inlän- 
dische Konkurrenz ausgleichend wirken kann. Jeden- 
falls tritt eine Mehrung der produktiven Kräfte
	        
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