Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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der Nation ein; für die Nation ist nur die Arbeits- 
teilung in der Nation von Vorteil. 
Der Reichtum eines Volkes ist, wie List ferner 
mit vollem Recht betont, nicht nach der Summe 
der Tauschwerte (A. Smithsche Auffassung), son- 
dern nach der Summe der produktiven Kräfte zu 
bemessen; nicht bloß der gegenwärtige, augenblick- 
liche Vorteil, sondern auch der zukünftige, dauernde 
Wohlstand muß hierbei berücksichtigt werden. Die 
produktive Kraft jeder Nation bestimme sich nach 
ihren wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, bürger- 
lichen und politischen Einrichtungen oder nach dem 
Maße von geistigen Fähigkeiten, die in erster Linie 
eine Folge dieser Einrichtungen seien. 
Hervorzuheben ist auch Lists Lehre vom Stufen- 
gang in der Volkswirtschaft. Er unterscheidet vier 
Perioden: das Hirtenleben, den Ackerbau, die 
Agrikulturmanufaktur (Erstarken einzelner inlän- 
discher Manufakturen) und die Agrikulturmanu- 
faktur-Handelsperiode mit Export der inländischen 
Manufakturen. Diese Vierteilung ist zwar nicht 
richtig, immerhin gebührt aber List das Verdienst, 
als erster darauf hingewiesen zu haben, daß nicht 
für alle Zeiten und alle Völker höherer Entwick- 
lung gleiche wirtschaftliche Grundsätze gelten, daß 
vielmehr je nach der Wirtschaftsstufe, je nach der 
geistigen und technischen Entwicklung und der Be- 
völkerungsdichte die volkswirtschaftlichen Einrich- 
tungen verschieden sein müssen. 
Nach Schmoller beginnt mit List erst die eigent- 
lich wissenschaftliche Epoche der volkswirtschaftlichen 
Theorie, die vorhergehenden Schulen, der Mer- 
kantilismus, die Naturlehre der Volkswirtschaft, 
der Sozialismus seien eigentlich einseitige Partei- 
lehren in theoretischer Fassung, keine volle Wissen- 
schaft der Volkswirtschaft gewesen. Die Verdienste 
Lists werden dadurch nicht geschmälert, daß einzelne 
seiner Ideen schon vor ihm ausgesprochen wurden. 
Nicht ohne Einfluß auf ihn war der amerikanische 
Volkswirt Raymond (Thoughts on political 
Economy (Neuyork 1820.)), auch bei dem Heidel- 
berger Staatsrechtslehrer Schmitthenner und bei 
Adam Müller finden sich schon manche Anklänge, 
trotz alledem bleibt List aber der Schöpfer eines 
neuen Gedankensystems. 
Eine großzügige deutsche Handels= und Ver- 
kehrspolitik, eine von Fesseln befreite Gewerbe- 
politik, eine einheitliche Münz= und Bankpolitik, 
eine weltwirtschaftliche Flotten= und Kolonial-= 
politik, das sind Lists große Ziele. Die Würdi- 
gung des Ackerbaues tritt in Lists System aller- 
dings in den Hintergrund, eine mit Rücksicht auf 
seinen Werdegang und die Tendenz seines Werkes 
erklärliche Tatsache. Daß List die Bedeutung einer 
nationalen Landwirtschaft verkannt hätte, folgt 
daraus wohl nicht. Die Notwendigkeit eines Agrar- 
Locke. 
  
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natürliche Folge der Systemlofigkeit. Auch die 
einzelnen Angaben, namentlich die historischen 
Beweise, sind vielfach ungenau und nicht verlässig; 
aber das Werk ist durch die Schönheit seiner 
Sprache, die freilich mit Fremdwörtern sehr stark 
gemischt ist, durch die Fülle von Gedanken, durch 
eine fast stürmische Beredsamkeit und durch die 
Zuversicht in die Richtigkeit der vorgetragenen 
Lehren eine eigentümlich bezaubernde Leistung. 
List ist weniger Gelehrter, er ist vor allem ge- 
wandter Journalist und praktischer Volkswirt. 
Nicht geklärt ist die Frage, ob List der geistige 
Urheber des deutschen Zollvereins ist. Er war 
ohne Zweifel ein Theoretiker der Zollvereinsidee, 
ob er aber von seinem großdeutschen Standpunkt 
aus einem in der Hauptsache doch gegen Osterreich 
gerichteten Zollverein unter preußischer Führung 
das Wort geredet, scheint fraglich. 
Literatur. F. L.8 gesammelte Schriften (un- 
vollständig), hrsg. von Häusser (3 Tle, 1850 f). 
Sein Hauptwerk: Das nationale System der polit. 
Okonomie, wurde neu hrsg. von Waentig (1905; 
Sammlung sozialwissenschaftl. Meister); ein Aus- 
zug daraus (für Schülerbibliotheken usw.) mit Ein- 
leitung u. Bemerkungen, hrsg. von O. Steinel 
(1909). Die Herausgabe seiner ges. Schriften u. 
Briefe, die von großem geschichtlichen u. wirtschaft- 
lichen Wert sind, ist in Aussicht genommen (Samm- 
ler: Oberfinanzrat D. Losch, Stuttgart). 
Schnitzer, F. L., ein Vorläufer u. ein Opfer 
für das Vaterland (1851); Hildebrand, National- 
ökonomie I, 3. Absch. (1848); ders., Jahrbücher der 
Nationalökonomie u. Statistik II 330 ff; Schwegler, 
Jahrbücher der Gegenwart 1847 (S. 698: „Zwei 
deutsche Märtyrer"); Grenzboten 1846 (S. 321 ffj; 
Laube); Brüggemann, Der deutsche Zollverein u. 
das Schutzsystem (1845); Rau, Archiv für polit. 
Okonomie u. Polizeiwissenschaft V (1843); Neue 
Jenaische allgemeine Literaturzeitung 1842 (Fr. 
Schulze); Nord u. Süd 1877 (S. 44 f: „Zur Er- 
innerung an F. L."“, von Roscher); Dühring, Krit. 
Gesch. der Nationalökonomie u. des Sozialis- 
mus 324 ff; Eisenhart, Gesch. der Nationalöko- 
nomik 138 f; Kautz, Geschichtliche Entwicklung 
der Nationalökonomie u. ihrer Literatur 670ff; 
Roscher, Gesch, der Nationalökonomie in Deutsch- 
land 970 ff; Staub, F. L. (Vortrag, 1879); 
Niedermüller, Die Leipzig-Dresdener Eisenbahn 
ein Werk F. L.3 (1880); Schmidt-Weißenfels, 
Deutsche Handwerkerbibliothek („Zwölf Gerber") 
Goldschmidt, F. L., Deutschlands großer Volks- 
wirt (21878); Eheberg, im Handwörterbuch der 
Staatswissenschaften W. 620 ff; Katzenstein, F. L. 
(1896); Westermanns Monatshefte, August 1899 
(G. Stamper); G. Schmoller, Zur Literaturgesch. 
der Staats= u. Sozialwissenschaften (1888) 102 ff; 
ders., F. L. als praktischer Volkswirt (1909); 
C. Jentsch, F. L., in Geisteshelden XLI (1901); 
Köhler, Problematisches zu F. L. Mit Anhang: 
L.s Briefe aus Amerika in deutscher übersetzung 
(1908); M. E. Hirst, Life of Fr. List and Se- 
zolls war zu Lists Zeit noch nicht vorauszusehen. lection from his Writings (Lond. 1909; berichtet 
Auch ist sein Hauptwerk keine schulgerechte, ge= eingehend über L.3 Aufenthalt in Amerika). 
lehrte Untersuchung; es fehlen „die literarischen 
Eideshelfer und Gezeugen“. Die Anordnung ist 
IMenzinger, rev. Sacher.] 
Locke, John, englischer Philosoph, geboren 
logisch oft angreisbar; Wiederholungen sind die! 29. Aug. 1632 zu Wrington (bei Bristol), kam
	        
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