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der Nation ein; für die Nation ist nur die Arbeits-
teilung in der Nation von Vorteil.
Der Reichtum eines Volkes ist, wie List ferner
mit vollem Recht betont, nicht nach der Summe
der Tauschwerte (A. Smithsche Auffassung), son-
dern nach der Summe der produktiven Kräfte zu
bemessen; nicht bloß der gegenwärtige, augenblick-
liche Vorteil, sondern auch der zukünftige, dauernde
Wohlstand muß hierbei berücksichtigt werden. Die
produktive Kraft jeder Nation bestimme sich nach
ihren wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, bürger-
lichen und politischen Einrichtungen oder nach dem
Maße von geistigen Fähigkeiten, die in erster Linie
eine Folge dieser Einrichtungen seien.
Hervorzuheben ist auch Lists Lehre vom Stufen-
gang in der Volkswirtschaft. Er unterscheidet vier
Perioden: das Hirtenleben, den Ackerbau, die
Agrikulturmanufaktur (Erstarken einzelner inlän-
discher Manufakturen) und die Agrikulturmanu-
faktur-Handelsperiode mit Export der inländischen
Manufakturen. Diese Vierteilung ist zwar nicht
richtig, immerhin gebührt aber List das Verdienst,
als erster darauf hingewiesen zu haben, daß nicht
für alle Zeiten und alle Völker höherer Entwick-
lung gleiche wirtschaftliche Grundsätze gelten, daß
vielmehr je nach der Wirtschaftsstufe, je nach der
geistigen und technischen Entwicklung und der Be-
völkerungsdichte die volkswirtschaftlichen Einrich-
tungen verschieden sein müssen.
Nach Schmoller beginnt mit List erst die eigent-
lich wissenschaftliche Epoche der volkswirtschaftlichen
Theorie, die vorhergehenden Schulen, der Mer-
kantilismus, die Naturlehre der Volkswirtschaft,
der Sozialismus seien eigentlich einseitige Partei-
lehren in theoretischer Fassung, keine volle Wissen-
schaft der Volkswirtschaft gewesen. Die Verdienste
Lists werden dadurch nicht geschmälert, daß einzelne
seiner Ideen schon vor ihm ausgesprochen wurden.
Nicht ohne Einfluß auf ihn war der amerikanische
Volkswirt Raymond (Thoughts on political
Economy (Neuyork 1820.)), auch bei dem Heidel-
berger Staatsrechtslehrer Schmitthenner und bei
Adam Müller finden sich schon manche Anklänge,
trotz alledem bleibt List aber der Schöpfer eines
neuen Gedankensystems.
Eine großzügige deutsche Handels= und Ver-
kehrspolitik, eine von Fesseln befreite Gewerbe-
politik, eine einheitliche Münz= und Bankpolitik,
eine weltwirtschaftliche Flotten= und Kolonial-=
politik, das sind Lists große Ziele. Die Würdi-
gung des Ackerbaues tritt in Lists System aller-
dings in den Hintergrund, eine mit Rücksicht auf
seinen Werdegang und die Tendenz seines Werkes
erklärliche Tatsache. Daß List die Bedeutung einer
nationalen Landwirtschaft verkannt hätte, folgt
daraus wohl nicht. Die Notwendigkeit eines Agrar-
Locke.
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natürliche Folge der Systemlofigkeit. Auch die
einzelnen Angaben, namentlich die historischen
Beweise, sind vielfach ungenau und nicht verlässig;
aber das Werk ist durch die Schönheit seiner
Sprache, die freilich mit Fremdwörtern sehr stark
gemischt ist, durch die Fülle von Gedanken, durch
eine fast stürmische Beredsamkeit und durch die
Zuversicht in die Richtigkeit der vorgetragenen
Lehren eine eigentümlich bezaubernde Leistung.
List ist weniger Gelehrter, er ist vor allem ge-
wandter Journalist und praktischer Volkswirt.
Nicht geklärt ist die Frage, ob List der geistige
Urheber des deutschen Zollvereins ist. Er war
ohne Zweifel ein Theoretiker der Zollvereinsidee,
ob er aber von seinem großdeutschen Standpunkt
aus einem in der Hauptsache doch gegen Osterreich
gerichteten Zollverein unter preußischer Führung
das Wort geredet, scheint fraglich.
Literatur. F. L.8 gesammelte Schriften (un-
vollständig), hrsg. von Häusser (3 Tle, 1850 f).
Sein Hauptwerk: Das nationale System der polit.
Okonomie, wurde neu hrsg. von Waentig (1905;
Sammlung sozialwissenschaftl. Meister); ein Aus-
zug daraus (für Schülerbibliotheken usw.) mit Ein-
leitung u. Bemerkungen, hrsg. von O. Steinel
(1909). Die Herausgabe seiner ges. Schriften u.
Briefe, die von großem geschichtlichen u. wirtschaft-
lichen Wert sind, ist in Aussicht genommen (Samm-
ler: Oberfinanzrat D. Losch, Stuttgart).
Schnitzer, F. L., ein Vorläufer u. ein Opfer
für das Vaterland (1851); Hildebrand, National-
ökonomie I, 3. Absch. (1848); ders., Jahrbücher der
Nationalökonomie u. Statistik II 330 ff; Schwegler,
Jahrbücher der Gegenwart 1847 (S. 698: „Zwei
deutsche Märtyrer"); Grenzboten 1846 (S. 321 ffj;
Laube); Brüggemann, Der deutsche Zollverein u.
das Schutzsystem (1845); Rau, Archiv für polit.
Okonomie u. Polizeiwissenschaft V (1843); Neue
Jenaische allgemeine Literaturzeitung 1842 (Fr.
Schulze); Nord u. Süd 1877 (S. 44 f: „Zur Er-
innerung an F. L."“, von Roscher); Dühring, Krit.
Gesch. der Nationalökonomie u. des Sozialis-
mus 324 ff; Eisenhart, Gesch. der Nationalöko-
nomik 138 f; Kautz, Geschichtliche Entwicklung
der Nationalökonomie u. ihrer Literatur 670ff;
Roscher, Gesch, der Nationalökonomie in Deutsch-
land 970 ff; Staub, F. L. (Vortrag, 1879);
Niedermüller, Die Leipzig-Dresdener Eisenbahn
ein Werk F. L.3 (1880); Schmidt-Weißenfels,
Deutsche Handwerkerbibliothek („Zwölf Gerber")
Goldschmidt, F. L., Deutschlands großer Volks-
wirt (21878); Eheberg, im Handwörterbuch der
Staatswissenschaften W. 620 ff; Katzenstein, F. L.
(1896); Westermanns Monatshefte, August 1899
(G. Stamper); G. Schmoller, Zur Literaturgesch.
der Staats= u. Sozialwissenschaften (1888) 102 ff;
ders., F. L. als praktischer Volkswirt (1909);
C. Jentsch, F. L., in Geisteshelden XLI (1901);
Köhler, Problematisches zu F. L. Mit Anhang:
L.s Briefe aus Amerika in deutscher übersetzung
(1908); M. E. Hirst, Life of Fr. List and Se-
zolls war zu Lists Zeit noch nicht vorauszusehen. lection from his Writings (Lond. 1909; berichtet
Auch ist sein Hauptwerk keine schulgerechte, ge= eingehend über L.3 Aufenthalt in Amerika).
lehrte Untersuchung; es fehlen „die literarischen
Eideshelfer und Gezeugen“. Die Anordnung ist
IMenzinger, rev. Sacher.]
Locke, John, englischer Philosoph, geboren
logisch oft angreisbar; Wiederholungen sind die! 29. Aug. 1632 zu Wrington (bei Bristol), kam