Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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ist die Existenzgrundlage des überwiegenden Teils 
der Bevölkerung der modernen Staaten. 
Die Lohnbildung erfolgt heute in der Form 
des rechtlich freien Arbeitsvertrages. Während 
früher vielfach die obrigkeitlichen Bestimmungen 
hierfür maßgebend waren und noch bis ins 
19. Jahrh. herein Einmischungen der Obrigkeiten 
wenigstens in dem Sinne sich nachweisen lassen, 
daß den Arbeitern unter Strafe verboten ward, 
über ein gesetzlich bestimmtes Maß in ihren Lohn- 
sorderungen hinauszugehen, ist heute durch die 
Gesetzgebung aller Kulturstaaten ausdrücklich die 
Freiheit des Arbeitsvertrages hinsichtlich der Lohn- 
abrede sanktioniert. Und tatsächlich bilden sich 
heute die Löhne durch die freie Konkurrenz der 
Lohnarbeiter im Angebot ihrer Arbeitskräfte und 
durch die freie Konkurrenz der Unternehmer im 
Begehr nach Arbeitskräften. Da der Unternehmer 
nicht der Konsument der Arbeitsleistung ist, son- 
dern eine Mittelsperson zwischen Konsumenten und 
Arbeitern, so ist seine Nachfrage nach Arbeits- 
kräften bestimmt und begrenzt durch die Nachfrage 
nach den von ihm produzierten Waren. Der Ar- 
beiter ist für ihn ein Produktionsmittel, der Lohn 
ein Teil seiner Produktionskosten. Freilich ist das 
nur mit großen Einschränkungen richtig; denn 
Humanität und Moral verbieten, daß jemand 
bedingungslos zum Mittel für die Erwerbszwecke 
eines andern erniedrigt werde; solches wäre, wie 
schon Thomas von Aqgquin nachdrücklich her- 
vorgehoben hat, bare Sklaverei, deren Wesen eben 
darin besteht, daß die freie Persönlichkeit aufgehört 
hat, Selbstzweck zu sein (S. th. 1, q. 96, a. 4, c.; 
2, 2, q. 189, a. 6 ad 2). 
Schon hier zeigt sich, daß die „freie“ Lohn- 
abmachung doch keine absolut freie ist; sie ist an 
mancherlei Bestimmungsgründe des Lohnes ge- 
bunden, und die Schule spricht wie von Preis- 
gesetzen, so auch von „Gesetzen“ der Lohnbildung. 
Welches sind nun die Bestimmungsgründe des 
Lohnes? 
II. Diesog. Bestimmungsgründe des Lohnes 
sind diejenigen Verhältnisse oder Faktoren, welche 
das Arbeitsangebot und die Arbeitsnachfrage so- 
wie die beiderseitige Willensentschließung bezüglich 
der Lohnhöhe in maßgebender Weise beeinflussen. 
Die Nationalökonomen betrachten der Mehrzahl 
nach nur jene Bestimmungsgründe, welche tat- 
sächlich bei dem Aufeinanderstoßen der Interessen 
von Arbeitern und Unternehmern unter der Herr- 
schast der freien Konkurrenz wirksam sind, lassen 
aber meist jene Momente außer Betracht, welche 
als Forderungen der Humanität und Gerechtigkeit 
mit maßgebend sein sollen. Nach der Lehre der 
klassischen Schule, die auch heute noch viele An- 
hänger zählt, bestimmt sich der Lohn nach dem 
Preise der zum Unterhalt der (für die Unter- 
nehmungen) notwendigen Arbeiterzahl erforder- 
lichen Lebensmittel. 
Offenbar sind die beiden Grenzpunkte, welche 
der Lohn nicht überschreiten kann, auf seiten des 
Lohn. 
  
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Arbeitgebers der Wert der Arbeit (für den 
Unternehmer bzw. für den Konsumenten der Ar- 
beitsleistung), auf seiten der Arbeiter der für sie 
und ihre Familien absolut notwendige Unterhalt. 
Zwischen beiden Grenzpunkten bewegt sich die 
Lohnhöhe im einzelnen Fall, je nachdem es den 
Arbeitern oder Unternehmern gelingt, ihren Inter- 
essen größeren Nachdruck zu verschaffen. Herrscht 
auf seiten der Unternehmer eine starke Nachfrage 
nach Arbeitskräften, so werden auch die Löhne 
über jenes Minimum emporsteigen; herrscht da- 
gegen auf seiten der Arbeiter ein starkes Angebot 
vor, machen sich also die Arbeiter selbst gegenseitig 
Konkurrenz, so erreicht der Lohn jenen Tiefpunkt, 
ja viele Arbeiter kommen wegen Mangels an 
Arbeitsgelegenheit gar nicht dazu, ihre Arbeits- 
kraft zu verwerten, sie sind überzählig („industrielle 
Reservearmee“ nach Marx), fallen der Armen- 
pflege zur Last und drücken durch ihre Bereit- 
willigkeit, gegen den möglichst geringsten Lohn zu 
arbeiten, die Löhne der Arbeitenden auf die 
Minimalgrenze herab. 
Dies ist die Lage der besitzlosen Arbeitskraft 
unter der Herrschaft der freien Konkurrenz. Die 
Arbeit wird zur Ware, und als solche kann sie 
auch völlig entwertet werden. 
Jene Untergrenze bezeichnet man als den ge- 
wohnten Klassenbedarf (Lebenshaltung, 
standart of life, Produktionskosten der Arbeit). 
Dieser ist nun je nach den einzelnen Klassen der 
Arbeiterbevölkerung sehr verschieden. „Von der 
untersten Klasse, in welcher der Klassenbedarf nur 
die notwendigen physischen Existenzbedürfnisse und 
ihre Befriedigung in notdürftiger Weise umfaßt, 
steigt der Klassenbedarf in vielen Stufen bis zu 
einem Bedarf, der außer einer allen berechtigten 
Ansprüchen entsprechenden Befriedigung der not- 
wendigen Lebensbedürfnisse eine Reihe von Kultur- 
bedürfnissen umfaßt, den Bedarf zahlreicher kleiner 
Unternehmer, vieler niederen Beamten erheblich 
übersteigt und dem Bedarf der mittleren Ein- 
kommensklassen in andern Kreisen der Bevölkerung 
gleich ist. In vielen Klassen ermöglicht die Be- 
friedigung des Klassenbedarfs den Arbeitern und 
ihrer Familie, wenn diese keine zu große ist, eine 
durchaus befriedigende Existenz und ein sittliches 
Kulturleben“ (Schönberg, Handwörterbuch der 
Staatswiss. 12 874). 
Der Klassenbedarf selbst ist keine feste, sondern 
eine variable Größe, des Sinkens und Steigens 
fähig. Während der Unternehmer die Produktion 
einstellt, wenn der Preis der Ware seine Produk- 
tionskosten nicht mehr deckt, kann der Lohnarbeiter 
das Angebot seiner Arbeitskraft nicht einstellen, 
weil er von seiner Arbeit leben muß. Er muß 
daher eventuell den gewohnten Lebensbedarf redu- 
zieren. Auch diejenigen, welche eine sehr starke 
Familie zu erhalten haben, müssen selbst bei gün- 
stigen Konjunkturen im Vergleich zu den Ar- 
beitern der nämlichen Klasse, welche nur wenige 
oder keine Kinder haben, sich Einschränkungen
	        
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