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ist die Existenzgrundlage des überwiegenden Teils
der Bevölkerung der modernen Staaten.
Die Lohnbildung erfolgt heute in der Form
des rechtlich freien Arbeitsvertrages. Während
früher vielfach die obrigkeitlichen Bestimmungen
hierfür maßgebend waren und noch bis ins
19. Jahrh. herein Einmischungen der Obrigkeiten
wenigstens in dem Sinne sich nachweisen lassen,
daß den Arbeitern unter Strafe verboten ward,
über ein gesetzlich bestimmtes Maß in ihren Lohn-
sorderungen hinauszugehen, ist heute durch die
Gesetzgebung aller Kulturstaaten ausdrücklich die
Freiheit des Arbeitsvertrages hinsichtlich der Lohn-
abrede sanktioniert. Und tatsächlich bilden sich
heute die Löhne durch die freie Konkurrenz der
Lohnarbeiter im Angebot ihrer Arbeitskräfte und
durch die freie Konkurrenz der Unternehmer im
Begehr nach Arbeitskräften. Da der Unternehmer
nicht der Konsument der Arbeitsleistung ist, son-
dern eine Mittelsperson zwischen Konsumenten und
Arbeitern, so ist seine Nachfrage nach Arbeits-
kräften bestimmt und begrenzt durch die Nachfrage
nach den von ihm produzierten Waren. Der Ar-
beiter ist für ihn ein Produktionsmittel, der Lohn
ein Teil seiner Produktionskosten. Freilich ist das
nur mit großen Einschränkungen richtig; denn
Humanität und Moral verbieten, daß jemand
bedingungslos zum Mittel für die Erwerbszwecke
eines andern erniedrigt werde; solches wäre, wie
schon Thomas von Aqgquin nachdrücklich her-
vorgehoben hat, bare Sklaverei, deren Wesen eben
darin besteht, daß die freie Persönlichkeit aufgehört
hat, Selbstzweck zu sein (S. th. 1, q. 96, a. 4, c.;
2, 2, q. 189, a. 6 ad 2).
Schon hier zeigt sich, daß die „freie“ Lohn-
abmachung doch keine absolut freie ist; sie ist an
mancherlei Bestimmungsgründe des Lohnes ge-
bunden, und die Schule spricht wie von Preis-
gesetzen, so auch von „Gesetzen“ der Lohnbildung.
Welches sind nun die Bestimmungsgründe des
Lohnes?
II. Diesog. Bestimmungsgründe des Lohnes
sind diejenigen Verhältnisse oder Faktoren, welche
das Arbeitsangebot und die Arbeitsnachfrage so-
wie die beiderseitige Willensentschließung bezüglich
der Lohnhöhe in maßgebender Weise beeinflussen.
Die Nationalökonomen betrachten der Mehrzahl
nach nur jene Bestimmungsgründe, welche tat-
sächlich bei dem Aufeinanderstoßen der Interessen
von Arbeitern und Unternehmern unter der Herr-
schast der freien Konkurrenz wirksam sind, lassen
aber meist jene Momente außer Betracht, welche
als Forderungen der Humanität und Gerechtigkeit
mit maßgebend sein sollen. Nach der Lehre der
klassischen Schule, die auch heute noch viele An-
hänger zählt, bestimmt sich der Lohn nach dem
Preise der zum Unterhalt der (für die Unter-
nehmungen) notwendigen Arbeiterzahl erforder-
lichen Lebensmittel.
Offenbar sind die beiden Grenzpunkte, welche
der Lohn nicht überschreiten kann, auf seiten des
Lohn.
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Arbeitgebers der Wert der Arbeit (für den
Unternehmer bzw. für den Konsumenten der Ar-
beitsleistung), auf seiten der Arbeiter der für sie
und ihre Familien absolut notwendige Unterhalt.
Zwischen beiden Grenzpunkten bewegt sich die
Lohnhöhe im einzelnen Fall, je nachdem es den
Arbeitern oder Unternehmern gelingt, ihren Inter-
essen größeren Nachdruck zu verschaffen. Herrscht
auf seiten der Unternehmer eine starke Nachfrage
nach Arbeitskräften, so werden auch die Löhne
über jenes Minimum emporsteigen; herrscht da-
gegen auf seiten der Arbeiter ein starkes Angebot
vor, machen sich also die Arbeiter selbst gegenseitig
Konkurrenz, so erreicht der Lohn jenen Tiefpunkt,
ja viele Arbeiter kommen wegen Mangels an
Arbeitsgelegenheit gar nicht dazu, ihre Arbeits-
kraft zu verwerten, sie sind überzählig („industrielle
Reservearmee“ nach Marx), fallen der Armen-
pflege zur Last und drücken durch ihre Bereit-
willigkeit, gegen den möglichst geringsten Lohn zu
arbeiten, die Löhne der Arbeitenden auf die
Minimalgrenze herab.
Dies ist die Lage der besitzlosen Arbeitskraft
unter der Herrschaft der freien Konkurrenz. Die
Arbeit wird zur Ware, und als solche kann sie
auch völlig entwertet werden.
Jene Untergrenze bezeichnet man als den ge-
wohnten Klassenbedarf (Lebenshaltung,
standart of life, Produktionskosten der Arbeit).
Dieser ist nun je nach den einzelnen Klassen der
Arbeiterbevölkerung sehr verschieden. „Von der
untersten Klasse, in welcher der Klassenbedarf nur
die notwendigen physischen Existenzbedürfnisse und
ihre Befriedigung in notdürftiger Weise umfaßt,
steigt der Klassenbedarf in vielen Stufen bis zu
einem Bedarf, der außer einer allen berechtigten
Ansprüchen entsprechenden Befriedigung der not-
wendigen Lebensbedürfnisse eine Reihe von Kultur-
bedürfnissen umfaßt, den Bedarf zahlreicher kleiner
Unternehmer, vieler niederen Beamten erheblich
übersteigt und dem Bedarf der mittleren Ein-
kommensklassen in andern Kreisen der Bevölkerung
gleich ist. In vielen Klassen ermöglicht die Be-
friedigung des Klassenbedarfs den Arbeitern und
ihrer Familie, wenn diese keine zu große ist, eine
durchaus befriedigende Existenz und ein sittliches
Kulturleben“ (Schönberg, Handwörterbuch der
Staatswiss. 12 874).
Der Klassenbedarf selbst ist keine feste, sondern
eine variable Größe, des Sinkens und Steigens
fähig. Während der Unternehmer die Produktion
einstellt, wenn der Preis der Ware seine Produk-
tionskosten nicht mehr deckt, kann der Lohnarbeiter
das Angebot seiner Arbeitskraft nicht einstellen,
weil er von seiner Arbeit leben muß. Er muß
daher eventuell den gewohnten Lebensbedarf redu-
zieren. Auch diejenigen, welche eine sehr starke
Familie zu erhalten haben, müssen selbst bei gün-
stigen Konjunkturen im Vergleich zu den Ar-
beitern der nämlichen Klasse, welche nur wenige
oder keine Kinder haben, sich Einschränkungen