Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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auferlegen. Auf das knappste Maß der Lebens- 
haltung bleiben immer die sog. ungelernten 
Arbeiter beschränkt, d. h. jene, welche Arbeits- 
leistungen verrichten, die keine besondere technische 
Ausbildung und Lehre voraussetzen, sondern von 
jedem verrichtet werden können, der im Besitz der 
normalen geistigen und physischen Kraft ist. Hier 
in der untersten Klasse der ungelernten Arbeiter ist 
der Lohn eine relativ feste Erscheinung, insofern 
derselbe hier nur einer Familie mit einigen Kin- 
dern die notdürftige Befriedigung der absoluten 
Lebensbedürfnisse gestattet. Damit Angehörige 
dieser Klasse, die verheiratet sind und viele Kinder 
haben, die notdürftige Befriedigung der absoluten 
Lebensbedürfnisse finden, muß noch anderweitiges 
Einkommen durch Frauen= und Kinderarbeit hin- 
zutreten, oder die Armenunterstützung muß die 
notwendige Ergänzung bieten. Daß eine solche 
Klasse vorhanden ist, die sich mit dem tiefstmög- 
lichen Lohnsatz zufrieden geben muß, hat seinen 
Grund in dem starken Angebot von Arbeitskräften. 
Aber zugleich kann der Lohn nicht dauernd unter 
jenes niedrige Maß sinken, denn sonst würde 
durch eine größere Sterblichkeit, geringere Zahl 
von Geburten, stärkere Auswanderung eine Ver- 
ringerung des Angebots von Arbeitskräften und 
damit eine Steigerung des Lohnes bewirkt werden. 
Solcherart sind die „Gesetze“, nach denen sich 
unter der Herrschaft der freien Konkurrenz die 
Löhne bilden, und zwischen den bezeichneten 
Grenzpunkten wird die Lohnhöhe variieren, je 
nachdem die Nachfrage zugunsten des einen oder 
des andern Teils in die Wagschale fällt. Die sog. 
englische Lohnfondstheorie will bewei- 
sen, daß eine Erhöhung der Arbeitslöhne über 
das zum Leben Notwendige schon dadurch aus- 
geschlossen sei, daß für die Löhne nur ein ganz 
bestimmter, fest begrenzter Kapitalfonds zur Ver- 
fügung stehe. Sie ist heute von der Wissenschaft 
allgemein aufgegeben. 
So ganz den Wirkungen der wechselnden Kon- 
junktur ist der Arbeiter jedoch nur preisgegeben, 
solange er isoliert dem Unternehmer gegenüber- 
steht. Er kann aber diese für ihn häufig ungün- 
stigen Folgen zum Teil wenigstens paralysieren, 
wenn er mit seinen Berufsgenossen sich verbindet 
und der Macht des Kapitals die Koalition ent- 
gegenstellt. So ist das Koalitionsrecht die 
absolut notwendige Folgerung, die sich aus der 
durch die Rechtsordnung anerkannten freien Kon- 
kurrenz ergibt. 
Diese in den heutigen Wirtschaftsverhältnissen 
sich vollziehende Lohngestaltung wird von den 
Sozialisten als eine ungerechte scharf kritisiert 
und als die Ursache der Entstehung des Prole- 
tariats und aller Ubelstände in der Arbeiterbevöl= 
kerung hingestellt. Wie anderwärts gezeigt wird 
(ogl. d. Art. Kapitalismus, Lassalle, Marx, So- 
zialismus), ist der Lohn nach den Schilderungen 
des Sozialismus nur der kümmerliche Rest, welchen 
der Privatkapitalist dem Arbeiter von dem ihm 
Lohn. 
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geraubten Arbeitsertrag übrig läßt. Indessen hütet 
sich auch der wissenschaftliche Sozialismus, dem 
Arbeiter für die sozialistische Wirtschaftsorgani- 
sation den vollen, unverkürzten Arbeitsertrag in 
Aussicht zu stellen. Selbst Marx gesteht, daß eine 
Reihe von Abzügen notwendig sein wird. Lassalle 
war es, der das Schlagwort vom „ehernen Lohn- 
gesetz"“ prägte, demzufolge unter der Herrschaft von 
Angebot und Nachfrage der durchschnittliche Ar- 
beitslohn immer auf den notwendigen Lebens- 
unterhalt reduziert bleibt, der in einem Volke ge- 
wohnheitsmäßig zur Fristung der Existenz und 
zur Fortpflanzung erforderlich ist, ohne sich jemals 
dauernd über denselben erheben zu können (. d. 
Art. Lassalle). Der Hauptirrtum Lassalles besteht 
darin, daß er nur eine einzige Lohnklasse annahm, 
während das von ihm Behauptete höchstens für die 
unterste Schicht der ungelernten Arbeiter, die eine 
starke Familie zu ernähren haben, zutreffen könnte. 
III. Der gerechte Arbeitslohn. Die Preis- 
gesetze, nach welchen sich der klassischen National- 
ökonomie zufolge die Lohnbildung vollzieht, wirken 
in der bezeichneten Weise nur, wo und wann das 
Gesetz der freien Konkurrenz als Beherrscherin des 
Arbeitsmarktes proklamiert ist. Wenn man in 
neuester Zeit auf seiten der sog. ethischen National- 
ökonomie auch zugibt, daß bei der Lohnbildung 
nicht nur rein geschäftliche Interessen und die 
Stärke, mit der sie von den konkurrierenden Par- 
teien geltend gemacht werden, den Ausschlag geben, 
sondern daß bei der einzelnen Lohnabrede noch 
andere, mehr oder minder zufällige Momente sich 
geltend machen, daß insbesondere viele Einzellöhne 
nicht rein geschäftliche Arbeitspreise sind, sondern 
auch durch sittliche Motive, wie Nächsten- 
liebe, Rechts= und Billigkeitsgefüh beeinflußt sein 
können, so wird doch anderseits betont, daß für 
die Regel solche Motive ohne erheblichen Einfluß 
sind, während die oben bezeichneten Faktoren die 
eigentlichen Bestimmungsgründe des Lohnes seien. 
Insbesondere drückt man sich gegenüber der seitens 
der christlichen Ethik und Sozialpolitik nachdrucks- 
voll gestellten Forderung eines gerechten Lohnes 
nur sehr reserviert und skeptisch aus. So sagt 
v. Schönberg bezüglich der Frage der gerechten 
Lohngestaltung: „Was zunächst die Stellung der 
Frage, die Natur des Problems betrifft, so muß 
man sich vor allem darüber klar werden, daß die 
gerechte Lohnhöhe für die einzelnen Arbeiter und 
irre Leistungen zu bestimmen ein ebenso unlös- 
bares Problem ist, wie das Problem der ge- 
rechten Verteilung der Güter überhaupt. Alle 
Verteilung der Güter im Verkehr beruht auf dem 
entgeltlichen Austausche derselben. Es gibt aber 
keinen Maßstab, mit dem oder an dem man er- 
mitteln und messen könnte, ob die tatsächlichen 
Preise bei diesem Austausche gerechte sind oder 
nicht. Ein solcher Maßstab ist am allerwenigsten 
möglich und denkbar für den Preis der mensch- 
lichen Arbeit“ (Handwörterbuch 12 881; vgl. auch 
dessen Handbuch der politischen Okonomie 1/ 731). 
  
 
	        
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