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auferlegen. Auf das knappste Maß der Lebens-
haltung bleiben immer die sog. ungelernten
Arbeiter beschränkt, d. h. jene, welche Arbeits-
leistungen verrichten, die keine besondere technische
Ausbildung und Lehre voraussetzen, sondern von
jedem verrichtet werden können, der im Besitz der
normalen geistigen und physischen Kraft ist. Hier
in der untersten Klasse der ungelernten Arbeiter ist
der Lohn eine relativ feste Erscheinung, insofern
derselbe hier nur einer Familie mit einigen Kin-
dern die notdürftige Befriedigung der absoluten
Lebensbedürfnisse gestattet. Damit Angehörige
dieser Klasse, die verheiratet sind und viele Kinder
haben, die notdürftige Befriedigung der absoluten
Lebensbedürfnisse finden, muß noch anderweitiges
Einkommen durch Frauen= und Kinderarbeit hin-
zutreten, oder die Armenunterstützung muß die
notwendige Ergänzung bieten. Daß eine solche
Klasse vorhanden ist, die sich mit dem tiefstmög-
lichen Lohnsatz zufrieden geben muß, hat seinen
Grund in dem starken Angebot von Arbeitskräften.
Aber zugleich kann der Lohn nicht dauernd unter
jenes niedrige Maß sinken, denn sonst würde
durch eine größere Sterblichkeit, geringere Zahl
von Geburten, stärkere Auswanderung eine Ver-
ringerung des Angebots von Arbeitskräften und
damit eine Steigerung des Lohnes bewirkt werden.
Solcherart sind die „Gesetze“, nach denen sich
unter der Herrschaft der freien Konkurrenz die
Löhne bilden, und zwischen den bezeichneten
Grenzpunkten wird die Lohnhöhe variieren, je
nachdem die Nachfrage zugunsten des einen oder
des andern Teils in die Wagschale fällt. Die sog.
englische Lohnfondstheorie will bewei-
sen, daß eine Erhöhung der Arbeitslöhne über
das zum Leben Notwendige schon dadurch aus-
geschlossen sei, daß für die Löhne nur ein ganz
bestimmter, fest begrenzter Kapitalfonds zur Ver-
fügung stehe. Sie ist heute von der Wissenschaft
allgemein aufgegeben.
So ganz den Wirkungen der wechselnden Kon-
junktur ist der Arbeiter jedoch nur preisgegeben,
solange er isoliert dem Unternehmer gegenüber-
steht. Er kann aber diese für ihn häufig ungün-
stigen Folgen zum Teil wenigstens paralysieren,
wenn er mit seinen Berufsgenossen sich verbindet
und der Macht des Kapitals die Koalition ent-
gegenstellt. So ist das Koalitionsrecht die
absolut notwendige Folgerung, die sich aus der
durch die Rechtsordnung anerkannten freien Kon-
kurrenz ergibt.
Diese in den heutigen Wirtschaftsverhältnissen
sich vollziehende Lohngestaltung wird von den
Sozialisten als eine ungerechte scharf kritisiert
und als die Ursache der Entstehung des Prole-
tariats und aller Ubelstände in der Arbeiterbevöl=
kerung hingestellt. Wie anderwärts gezeigt wird
(ogl. d. Art. Kapitalismus, Lassalle, Marx, So-
zialismus), ist der Lohn nach den Schilderungen
des Sozialismus nur der kümmerliche Rest, welchen
der Privatkapitalist dem Arbeiter von dem ihm
Lohn.
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geraubten Arbeitsertrag übrig läßt. Indessen hütet
sich auch der wissenschaftliche Sozialismus, dem
Arbeiter für die sozialistische Wirtschaftsorgani-
sation den vollen, unverkürzten Arbeitsertrag in
Aussicht zu stellen. Selbst Marx gesteht, daß eine
Reihe von Abzügen notwendig sein wird. Lassalle
war es, der das Schlagwort vom „ehernen Lohn-
gesetz"“ prägte, demzufolge unter der Herrschaft von
Angebot und Nachfrage der durchschnittliche Ar-
beitslohn immer auf den notwendigen Lebens-
unterhalt reduziert bleibt, der in einem Volke ge-
wohnheitsmäßig zur Fristung der Existenz und
zur Fortpflanzung erforderlich ist, ohne sich jemals
dauernd über denselben erheben zu können (. d.
Art. Lassalle). Der Hauptirrtum Lassalles besteht
darin, daß er nur eine einzige Lohnklasse annahm,
während das von ihm Behauptete höchstens für die
unterste Schicht der ungelernten Arbeiter, die eine
starke Familie zu ernähren haben, zutreffen könnte.
III. Der gerechte Arbeitslohn. Die Preis-
gesetze, nach welchen sich der klassischen National-
ökonomie zufolge die Lohnbildung vollzieht, wirken
in der bezeichneten Weise nur, wo und wann das
Gesetz der freien Konkurrenz als Beherrscherin des
Arbeitsmarktes proklamiert ist. Wenn man in
neuester Zeit auf seiten der sog. ethischen National-
ökonomie auch zugibt, daß bei der Lohnbildung
nicht nur rein geschäftliche Interessen und die
Stärke, mit der sie von den konkurrierenden Par-
teien geltend gemacht werden, den Ausschlag geben,
sondern daß bei der einzelnen Lohnabrede noch
andere, mehr oder minder zufällige Momente sich
geltend machen, daß insbesondere viele Einzellöhne
nicht rein geschäftliche Arbeitspreise sind, sondern
auch durch sittliche Motive, wie Nächsten-
liebe, Rechts= und Billigkeitsgefüh beeinflußt sein
können, so wird doch anderseits betont, daß für
die Regel solche Motive ohne erheblichen Einfluß
sind, während die oben bezeichneten Faktoren die
eigentlichen Bestimmungsgründe des Lohnes seien.
Insbesondere drückt man sich gegenüber der seitens
der christlichen Ethik und Sozialpolitik nachdrucks-
voll gestellten Forderung eines gerechten Lohnes
nur sehr reserviert und skeptisch aus. So sagt
v. Schönberg bezüglich der Frage der gerechten
Lohngestaltung: „Was zunächst die Stellung der
Frage, die Natur des Problems betrifft, so muß
man sich vor allem darüber klar werden, daß die
gerechte Lohnhöhe für die einzelnen Arbeiter und
irre Leistungen zu bestimmen ein ebenso unlös-
bares Problem ist, wie das Problem der ge-
rechten Verteilung der Güter überhaupt. Alle
Verteilung der Güter im Verkehr beruht auf dem
entgeltlichen Austausche derselben. Es gibt aber
keinen Maßstab, mit dem oder an dem man er-
mitteln und messen könnte, ob die tatsächlichen
Preise bei diesem Austausche gerechte sind oder
nicht. Ein solcher Maßstab ist am allerwenigsten
möglich und denkbar für den Preis der mensch-
lichen Arbeit“ (Handwörterbuch 12 881; vgl. auch
dessen Handbuch der politischen Okonomie 1/ 731).