Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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ständigkeit Sardiniens bedrohenden Aspirationen. 
Sardiniens Wunsch nach dem Besitz von Genua 
und der Lombardei, den de Maistre in Peters- 
burg vertrat, wurde vom Wiener Kongreß 1815 
nur teilweise befriedigt (da Osterreich die Lom- 
bardei zurückerhielt). Cavour ließ vor Ausbruch 
des im Bunde mit Napoleon III. gegen Osterreich 
geführten Krieges die im Staatsarchiv liegende 
diplomatische Korrespondenz de Maistres an den 
Turiner Gelehrten Albert Blanc aushändigen, 
um durch deren im Jahre 1858 bewerkstelligte 
und mit Kommentaren versehene Veröffentlichung 
de Maistre als Bundesgenossen seiner gegen Oster- 
reich und den päpstlichen Stuhl gerichteten Politik 
erscheinen zu lassen. In Wahrheit lag aber eine 
auf das geeinigte Italien hinzielende, die herge- 
brachten Rechte der Kirche und des pöäpstlichen 
Stuhles schädigende Politik dem Sinne de 
Maistres ganz fern. Ebensowenig wie gegen 
Osterreich zeigt er sich von günstiger Stimmung 
beseelt gegen Preußen als Hort des Protestan- 
tismus und einer durch Friedrich II. begünstigten 
Aufklärung. 
Trotz seiner Liebe zum angestammten Lande 
und Herrscherhause und trotz des Unheils, das 
durch die französische Republik und durch Kaiser 
Napoleon ihnen widerfahren war, widmete er 
dagegen seine Sympathien stets Frankreich, 
trauerte über dessen Unglück, wenn es ihm auch als 
ein selbstverschuldetes galt und als Strafe eigner 
Verblendung, immer hoffend auf dessen Glück. 
Napoleon galt ihm zwar als ein Erretter aus den 
Schrecken der Revolution, aber zugleich als deren 
Kind, welches durch sie selber wieder verschlungen 
werden solle. Er hoffte auf seinen Sturz durch 
Revolution von innen heraus, nicht von außen 
her durch Koalition, war auch gegen eine Zer- 
stückelung Frankreichs links des Rheinufers durch 
die Koalition. Ging diese Ansicht auch nicht in 
Erfüllung, so doch die von ihm stets ersehnte 
und prophezeite Wiederherstellung des bourboni- 
schen Königtums und die Befreiung und Rückkehr 
Pius' VII. nach Rom. 
Diejenigen Mächte, auf welche er vor Bildung 
der Koalition am meisten seine Erwartungen ge- 
setzt hatte zur Niederwerfung des gewaltigen Kor- 
sen und zur Wiederherstellung der legitimen Ord- 
nung Europas, waren England und auch 
Rußland, solange es mit Napoleon nicht im 
Bunde stand wie vom Frieden zu Tilsit an bis 
zum Wiederausbruche des Krieges 1812. Auch 
den innern Verhältnissen des letzteren Landes 
wendete er seine aus lebendiger Anschauung ge- 
schöpften Betrachtungen zu und fand sogar Ge- 
legenheit, in besondern Denkschriften auf eine Re- 
generation des Landes hinzuwirken. Von Interesse 
sind namentlich fünf Briefe, die er an den Kultus- 
minister Rasumowskij einreichte behufs der Um- 
gestaltung des russischen Unterrichtswesens und 
einer den Jesuitenanstalten im Verhältnis zu den 
Staatsuniversitäten einzuräumenden Unabhängig- 
Staatslexikon. III. 3. Aufl. 
Maistre. 
  
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keit, sowie die für Kaiser Alexander bestimmten 
„Vier Kapitel über Rußland“, welche sich über 
die nur allmählich ins Werk zu setzende Befreiung 
der Leibeigenen, über Wissenschaft, Religion und 
Illuminismus verbreiteten. 
Die Rechts- und Staatslehre de Maistres 
hat gar manche hoch anzuschlagende Vorzüge. Sie 
hat das Band, welches durch die mittelalterlichen 
und nachmittelalterlichen Schulen zwischen der 
Religion, der Sittlichkeit und dem Rechte ge- 
knüpft und durch die Naturrechtslehrer des 17. 
und 18. Jahrh. zerrissen worden war, wieder 
angeknüpft und gefestigt. Sie hat ferner der über 
alles Hergebrachte sich hinwegsetzenden, alles 
a priori konstruierenden Theorie vom Gesell- 
schaftsvertrage den Krieg erklärt und den aus den 
geschichtlichen Verhältnissen herausgewachsenen 
Institutionen ihr Recht angedeihen lassen und in- 
sofern den Anschauungen der modernen histori- 
schen Rechtsschule mit Bahn brechen helfen. Doch 
ist sie gleich letzterer in diesem Bestreben über 
das berechtigte Ziel hinausgegangen. Wie die 
Bildung der Sprache, so betrachtet sie auch die 
Bildung der Staaten und Staatsverfassungen 
und Gesetzgebungen vorherrschend, ja nahezu nur 
als Gottes Werk. Der menschliche Freiheits- 
faktor, welcher in den mittelalterlichen und nach- 
mittelalterlichen Schulen oft zu sehr in den Vor- 
dergrund gestellt wurde, erscheint hier mit einer 
nicht selten an Hobbes' Leviathanlogik erinnern- 
den Gewaltsamkeit zu sehr in den Hintergrund 
gedrängt. 
Der Staat und die Staatsgewalt im allge- 
meinen ist allerdings göttlichen Ursprungs; deren 
Ausgestaltungen im einzelnen können aber vor sich 
gehen entweder nur kraft göttlicher Zulassung oder 
kraft göttlicher Fügung. Die Entstehung der ein- 
zelnen Staaten, Staatsverfassungen und Gesetz- 
gebungen kann in sehr verschiedener Weise der die 
Geschicke der Völker lenkenden Gottesmacht unter- 
stehen und die menschliche Freiheit desgleichen auf 
sehr verschiedene Weise mit in Wirksamkeit treten. 
De Maistre, dieser große „Laientheologe der Vor- 
sehung“ (Brunetière), glaubt deren Wege oft viel 
zu unmittelbar und bestimmt zu erkennen. 
Die geschichtlich entstandenen Monarchien der 
heidnischen und christlichen Welt sind ferner keine 
auf übernatürlich göttlicher Institution beruhenden 
theokratischen, wie die alttestamentliche; beide sind 
auseinanderzuhalten. Wenn de Maistre in den 
„Abendstunden von St Petersburg“ sogar das 
Werk des Scharfrichters als ein Gotteswerk preist, 
sofern er ein Organ der göttlichen Strafgerechtig- 
keit sei für die Schuldigen, und den Krieg als ein 
Gotteswerk feiert, weil Vernichtung und Tod ein 
durch alle Reiche hindurchgehendes Weltgesetz sei, 
so hat beides doch nur in sehr ungleichem Sinne 
Geltung. Der Krieg ist zwar ein Übel und ein 
Mittel in Gottes Hand zum Zwecke des Guten, 
jedoch nicht notwendig und in jeglichem Falle ein 
strafrichterliches. 
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