Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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haltung auch ihm gegenüber alles aufs Spiel 
setzten, trat er mitten unter die Ausständigen und 
sagte, auf die Iren hindeutend: 25.000 unter euch 
sind meine Kinder; ich werde sie rufen, und sie 
werden mir solgen. Daraufhin versprachen die 
Führer, für den „Frieden des Kardinals“ ein- 
zutreten, und in zwei Tagen war der Ausstand 
beendet. 
Seit 1874, wo Manning in Leeds die klassische 
Rede über „Würde und Rechte der Arbeit“ hielt, 
stand er im Vordergrunde bei der Erörterung der 
Arbeiterfrage. Unter der langen Reihe von 
Aufsehen erregenden Kundgebungen sei erinnert 
an die Zustimmung Mannings zur Denkschrift 
des Kardinal Gibbons von Baltimore über die 
Ritter der Arbeit (1887), die Briefe über die 
Berliner Konferenz, an die „Deutsche Revue“ 
(Febr. 1890), an den Bischof Doutreloup von 
Lüttich über den Verlauf und die Resultate des 
Lütticher Kongresses (Sept. 1890), die Studie 
über die Enzyklika De conditione opifücum 
(Dublin Review, Juli 1891), die von ihm an- 
gefertigte offizielle Ubersetzung der Enzyklika und 
die an Papst Leo XIII. nach Mitteilung eng- 
lischer Blätter gesandten Gutachten über diese. 
Manning strebte die Lösung der Frage an durch 
solidarisches Einvernehmen von Kirche und Staat, 
von Arbeitgebern und Arbeitern hinsichtlich der Er- 
ziehung, der öffentlichen Moralität, des Schutzes 
der wirtschaftlichen und sozialen Interessen der 
Arbeiterklassen, durch die gesetzliche Festlegung aller 
Grundlagen einer Interessenvereinigung zwischen 
Kapital und Arbeit, durch die Lösung der ent- 
stehenden Schwierigkeiten durch Schiedsgerichte, 
gemischte Syndikate, die Entwicklung der Gewerk- 
vereinsorganisation in allen berechtigten Formen, 
in öffentlich-rechtlicher Anerkennung ihrer Standes- 
rechte und der Sicherung ihrer Standesinteressen, 
durch internationale Reglung der Konkurrenz und 
Arbeitsordnung. 
Hinsichtlich des Assoziationswesens stand 
Manning ganz auf dem Boden des altenglischen 
lokalen und dauernden Selbstverwaltungsrechts 
der Gemeinde und der in ihrem Bereiche sich bil- 
denden Interessenvertretungen aller Art, ständiger, 
vorübergehender (meetings) und beschränkter 
(l1imited unions) Syndikate der Gewerkvereini- 
gungen. In der Assoziationsfreiheit erkannte der 
Kardinal das erste, wie er sagte, historisch-natio- 
nale Mittel zur Lösung der Arbeiterfrage: die 
Gilden waren neben Familien= und Gemeinde- 
vereinigungen und Staat die Grundmacht alles 
Soziallebens; nur da, wo sie in der Selbst- 
regierung versagen, hat der Staat einzutreten und 
nur so weit, als die Notwendigkeit es erfordert, 
zumal bei den Übergriffen des wirtschaftlichen 
Liberalismus. Arbeit, das Kapital des lebenden 
Menschen und das tote Geldkapital haben das- 
selbe Roß zu reiten; sie kommen vorwärts nur 
durch Einvernehmen. Der Strike ist, wofern er 
gerecht und notwendig erscheint, die einzige Waffe 
Manning. 
  
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in der Hand des arbeitenden Mannes; in der 
Regel behält das Kapital auf Grund des heutigen 
Arbeitsvertrags die Oberhand; die Bedingungen 
des Arbeitsmarktes und seiner Hauptware sind un- 
gleich; die Schwäche des Arbeiters, der Charakter 
der Arbeit als einer menschlichen und sozialen Be- 
rufshandlung mit allen ihren sittlichen Folgen 
für den einzelnen, die Familie, das gesamte 
Staats= und öffentliche Leben zwingen zur Inter- 
vention auf Grund des allen Wirtschaftsgesetzen 
unendlich überlegenen Naturgesetzes. Speziell ver- 
langt Manning das Einschreiten gegen die Arbeit 
der Frau in allem, was ihrem Geschlechte, ihren 
Kräften, ihren Berufspflichten als Gattin und 
Mutter entgegensteht, gegen Kinderarbeit, gegen 
die Sonntags= und die Nachtarbeit als gesund- 
heitswidrig, als zerstörend für die Rasse; er ver- 
langt Staatsintervention hinsichtlich der Beschrän- 
kung der Arbeitszeit und der Festsetzung eines 
Minimallohnes. Im Anschluß an den Lütticher 
Kongreß (Sept. 1890) schrieb er an Bischof 
Doutreloup in Lüttich: „Ich glaube nicht, daß es 
je möglich sein wird, zu wirksamem und dauern- 
dem Frieden zwischen Arbeitgebern und Arbeitern 
zu kommen ohne die Anerkennung, Festsetzung und 
Verkündigung von gerechten und billigen Maß- 
nahmen, welche Gewinn und Lohn regeln, Maß- 
nahmen, nach welchen alle freien Kontrakte zwischen 
Kapital und Arbeit zu regeln sind.“ Gegen die 
heftigen Angriffe auf dieses Prinzip von seiten 
der französischen Nichtinterventionisten (Schule 
von Angers) berief sich Manning auf den Wort- 
laut der Enzyklika Rerum novarum, wo der 
Papst sagt: über dem freien Willen der Arbeit- 
geber und der Arbeiter stehe ein Gesetz der Ge- 
rechtigkeit, das höher und älter sei, das Gesetz, der 
Lohn müsse ausreichend sein, einen nüchternen und 
ehrbaren Arbeiter zu unterhalten. Unter Lohn ver- 
stand Manning den sog. Familienlohn, den Unter- 
halt einer Familie, in dessen Minimum eine be- 
scheidene Wohnung einbegriffen ist. Damit jeder 
Gedanke an eine staatssozialistische Intervention 
fern bleibe, erklärte der Kardinal, der Staat habe 
hier nicht im Namen seiner Sonderrechte, sondern 
lediglich im Namen des öffentlichen Friedens ein- 
zuschreiten; er verstand unter „Staat“, was man 
in England darunter versteht, jene verfassungs- 
mäßig geregelte Anteilnahme aller korporativen 
Gewalten, wie der Kommunen, Provinzen und 
der auf ihrem Boden rechtlich konstituierten Kor- 
porationen, welche in der Sphäre ihrer Interessen 
autonom dem öffentlichen Gemeinwesen eingeglie- 
dert sind bzw. dasselbe ausmachen. Die nationale 
Staatsintervention wollte er durch eine internatio- 
nale Arbeitsgesetzgebung als das wirksamste Mittel 
gegen die Rivalität der nationalen Konkurrenz 
befestigt und erhöht sehen. In der Zusammen- 
berufung der Berliner Konferenz sah er den 
weisesten und verdienstvollsten Akt, der von einem 
zeitgenössischen Souverän ausgegangen sei. Er 
unterstützte mit allen Mitteln die „Friedensliga“,
	        
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