Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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Literatur. Schmoller, Verwaltung des M.= 
u. G.wesens im Mittelalter, in Schmollers Jahr- 
buch XVII (1893) 289 ff; Hausschild, Zur Gesch. 
des deutschen Maß= u. Münzwesens in den letzten 
60 Jahren (1861); Wille, Das metr. Maßsystem 
u. die neuen deutschen Urmaße (1891); L. Jolly, 
M. u. G., in Schönbergs Handbuch I (31896) 
Blind, Maß-, Münz= u. Hewichtswesen (1907; 
Samml. Göschen); Art. „M. u. G.“ im Hand- 
wörterbuch der Staatswissenschaften u. im Wörter- 
buch der Volkswirtschaft. (Sacher.] 
Maulkorbgesetz s. Abgeordneter. 
Materialismus (vom lateinischen ma- 
teria, der Stoff) bezeichnet im allgemeinen die 
Weltanschauung, derzufolge das einzige in Wahr- 
heit Seiende die stoffliche Körperwelt ist und alles 
wirkliche Geschehen allein in Bewegungsvorgängen 
der Stoffteilchen besteht. Aus diesem metaphy- 
sischen Materialismus als der Leugnung 
einer das Stoffliche überragenden Geisteswelt 
folgert bei konsequenter Durchführung der ethische 
Materialismus, nach dessen Lehre das ge- 
samte Willensleben des Menschen allein bestimmt 
werden kann und soll durch die Triebe eines nie- 
deren oder feineren Sinnengenusses, durch den 
Befriedigungsdrang von „Hunger und Liebe“. 
Der ausschließliche Erklärungsversuch der ge- 
samten Menschheitsgeschichte unter diesem Ge- 
sichtspunkt bildet die Grundtendenz des geschichts- 
philosophischen oder historischen Materia- 
lismus, demzufolge also im Werdegang der 
Menschheit keinerlei geistige Triebkräfte mitbe- 
stimmend sind, sondern nur die körperlichen und 
insbesondere die zur physischen Lebenserhaltung 
und -fortpflanzung dienenden wirtschaftlichen Be- 
stimmungsfaktoren den Ausschlag geben. 
Diese „materialistische“, oder wie man sie nach 
den in der Ausführung vorwiegend betonten Wirt- 
schaftsfaktoren nennen könnte, „ökonomische Ge- 
schichtsauffassung“ bildet seit Marx (vgl. d. Art.) 
und Engels — neben der Mehrwertlehre — einen 
der beiden theoretischen Grundpfeiler des revolu- 
tionären Sozialismus (s. d. Art.). Ihre bekannteste 
Formulierung durch Marx in seiner Schrift „Zur 
Kritik der politischen Okonomie“ (Ausgabe von 
Kautsky I219031 4h) lautet: 
„In der gesellschaftlichen Produktion ihres Le- 
bens gehen die Menschen bestimmte notwendige, 
von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, 
Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Ent- 
wicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte 
entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktions-= 
verhältnisse bildet die ökonomische Struktur der 
Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juri- 
stischer und politischer überbau erhebt, und welcher 
bestimmte gesellschaftliche Dewußtseinsformen ent- 
sprechen. Die Produktionsweise des ma- 
teriellen Lebens bedingt den sozialen, 
politischen und geistigen Lebensprozeß 
überhaupt. Es ist nicht das Bewußt- 
sein der Menschen, das ihr Sein, son- 
dern umgekehrt ihr gesellschaftliches 
Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. 
Maulkorbgesetz — Materialismus. 
  
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Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung ge- 
raten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft 
in Widerspruch mit den vorhandenen Produktions- 
verhältnissen, oder was nur ein juristischer Aus- 
druck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, 
innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus 
Entwicklungsformen der Prodaktivkräfte schlagen 
diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt 
dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der 
Veränderung der ökonomischen Grundsätze wälzt 
sich der ganze ungeheure überbau langsamer oder 
rascher um. In der Betrachtung solcher Umwäl- 
zungen muß man stets unterscheiden zwischen der 
materiellen naturwissenschaftlich treu zu konstatie- 
renden Umwälzung in den ökonomischen Produk- 
tionsbedingungen und den juristischen, politischen, 
religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz 
ideologischen Formen, worin sich die Menschen 
dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten."“ 
Diese besondere, übrigens bei Marx und Engels 
keineswegs einheitliche und eindeutig durchgeführte 
Formulierung des historischen Materialismus, 
welche für Agitationszwecke durch die noch plattere 
des kommunistischen Manifests: „Die Gesetze, die 
Moral, die Religion sind ebenso viele bürgerliche 
Vorurteile, hinter denen sich ebenso viele bürger- 
liche Interessen verstecken“, ersetzt zu werden pflegt, 
ist aus mehreren geistigen Quellen zusammen- 
geflossen. Der positive materialistische Grundgehalt 
stammt in der Hauptsache von Feuerbach, der in 
seinem „Wesen des Christentums“ zunächst alle 
religiösen Ideen in anthropomorphe Illusionen 
auflösen wollte und damit den Weg wies, auf 
welchem der noch von Proudhon unausgelöste 
Dualismus zweier Entwicklungsreihen der Mensch- 
heitsgeschichte, einer geistigen und einer ökono- 
mischen, allein auf die letztere reduzierbar erschien. 
Noch ausgeprägter aber als der positive meta- 
physisch-materialistische Grundgehalt, den neuer- 
dings Max Adler (Kausalität u. Teleologie im 
Streit um die Wissenschaft, in Marx-Studien 1 
[1904) vergeblich hinweg zu interpretieren ver- 
sucht, ist in der Marxschen Formel die negative, 
anti-eintellektualistische Tendenz ausgeprägt, durch 
welche sich seine Lehre gleich der Feuerbachs als 
ein „Zersetzungsprodukt“ der Hegelschen Schule 
(ogl. B. Erdmann, Die philosophischen Voraus- 
setzungen der materialistischen Geschichtsauffassung, 
im Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und 
Volkswirtschaft NXXI#1907] 1/56) kennzeichnet. 
Hatte Hegels Geschichtstheorie allein den Denk- 
prozeß zum „Demiurgen des Wirklichen“, wie 
Marx sagt, erhoben, so veranlaßte diesen selbst die 
offenbar unzureichende Einseitigkeit einer solchen 
Ableitung zu ebenso schroffer Betonung des Gegen- 
teils: „Die Idee blamiert sich immer, soweit sie 
von dem „Interesse“ unterschieden war“, wobei sich 
aber der Hegelschüler trotzdem wieder in dem 
Anspruch verrät, alle Geschichtsentwicklung rest- 
los aus einer einzigen Formel abzuleiten. Die 
negative Zersetzungstendenz im Marxschen Denk- 
charakter läßt es sich aber mit einem bloßen Anti- 
intellektualismus nicht genügen, trotz einiger 
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