Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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Anklänge an Schopenhauerschen Voluntarismus 
(ogl. Tugan-Baranowski, Theoretische Grund- 
lagen des Marxismus I19051 Kap. II), son- 
dern schreitet fort zur eigentlichen Antiphilosophie 
überhaupt: „Die Philosophen haben die Welt bis- 
her nur verschieden interpretiert, es gilt, sie zu ver- 
ändern“, oder wie es der getreueste Marxorthodoxe 
Kautsky ausdrückt: „Die materialistische Geschichts- 
auffassung hat ihre Bedeutung nicht bloß darin, 
daß sie uns erlaubt, die Geschichte besser als bis- 
her zu erklären, sondern auch darin, daß sie 
uns erlaubt, sie besser als bisher zu machen“ 
(Ethik u. materialist. Geschichtsauffassung (19061, 
Vorwor.). 
Gegenüber dieser praktischen Eignung des histo- 
rischen Materialismus zu einer „Waffe des Klassen- 
kampfes“, zur „Basis der heutigen sozialdemo- 
kratischen Arbeiterpolitik“ („Vorwärts“ 1903, 
Nr 62) ist alle philosophische Ableitung im 
Grunde nur Mittel zum Zweck, und nicht minder 
gilt dies von der auch in der obigen Marx- 
schen Formel hervorgehobenen „naturwissen- 
schaftlichen“ Methode, die Marx und Engels 
mit der ganzen falschen Selbsteinschätzung des na- 
turphilosophischen Dilettanten handhaben (vgl. die 
Nachweise des darwinistischen Zoologen H. E. 
Ziegler, Die Naturwissensch. u. die sozialdemokr. 
Theorie, ihr Verhältnis dargelegt auf Grund der 
Werke von Darwin u. Bebel (1893.). Ihre phy- 
sikalischen und biologischen Vorstellungen erheben 
sich nicht über die populären Unklarheiten eines 
Ludwig Büchner, und ihre Anknüpfung an den 
Darwinismus, der bei folgerichtigem Durchdenken 
notwendig zu antisozialen, anarchistischen Schlüssen 
führen müßte, erfolgt vornehmlich, um jede geistige 
Sonderart des ideologischen „Überbaus“ ver- 
leugnen zu können; denn, so meint Kautsky, „was 
einem Kant noch als das Produkt einer höheren 
Geisteswelt erschien, ist ein Produkt der Tier- 
welt.. ein tierischer Trieb, nichts anderes ist 
das Sittengesetz. . Erst der Darwinismus hat 
der Zweiteilung des Menschen in einen natürlichen, 
tierischen und einen übernatürlichen, himmlischen 
ein Ende gemacht“ (a. a. O. 63 u. 67). Solche 
Sätze beweisen, daß die vermeintliche naturwissen- 
schaftliche Methode nicht etwa nur ein Absehen 
von allen ethischen Maßstäben der Geschichtsbe- 
trachtung, einen „Amoralismus“ zur Folge hat, 
sunenn in einem ausgesprochenen Antimoralismus 
gipfelt. 
An Kritik hat es gegenüber den historischen 
Materialismus von je im eignen und gegnerischen 
Lager nicht gefehlt. Demgemäß sei auch hier eine 
Auslese der wichtigsten Gegengründe in solche im- 
manenten und prinzipiellen Charakters geschieden. 
Selbst wenn die Hauptthese des historischen 
Materialismus zuträfe, daß alle Kulturfortschritte 
der Menschheit durch ökonomische Zustandsände- 
rungen bedingt seien, wären damit die geistigen 
Triebkräfte nicht ausgeschaltet. Alle wirtschafts- 
geschichtlichen Epochen führt Marx selbst, durch 
Materialismus. 
  
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die Entwicklung des englischen Industrialismus 
während der letztvergangenen Jahrzehnte faszi- 
niert, auf die Fortschritte der Technik zurück. 
Alle Erfindung und Vervollkommnung technischer 
Werkzeuge, vom primitiven Pfeil oder Pflug bis 
zur kompliziertesten Maschine, geht aber hervor 
aus der geistigen Initiative einzelner, ist letzten 
Endes angewandte Theorie und Wissenschaft, also 
Geistesprodukt. Gewiß ist es richtig, daß 
alle höheren Kulturleistungen durch materielle öko- 
nomische Zustände mitbedingt sind, daß, wie 
Engels einmal sagt, im allgemeinen „die Men- 
schen zuerst essen, trinken, wohnen und sich kleiden 
müssen, ehe sie Politik, Wissenschaft, Religion usw. 
treiben“; aber das post hoc ist kein propter hoc, 
d. h. die materielle Existenz ist nur eine der vielen 
Vorbedingungen höherer Kultur, aber weder die 
objektiv auslösende Ursache noch gar subjektiv 
treibendes Hauptmotiv. 
Sobald man die schwer faßbaren Allgemein- 
heiten der materialistischen Geschichtsbetrachtung 
im einzelnen auf die konkreten Geschichtsereignisse 
anzuwenden sucht — eine „Absurdität“, zu der 
sich, wie Maurenbrecher (Religionsgeschichte u. 
materialistische Geschichtsauffassung, in Sozialist. 
Monatshefte 1909, 165 ff) meint, „Marx in 
seiner wirklichen Darstellung geschichtlicher Vor- 
gänge fast niemals verstiegen hat“ —, offenbart 
sich an allen Ecken und Enden ihre völlige Unzu- 
länglichkeit. Wo immer man zunächst in die von 
materialistischen Geschichtskonstrukteuren frei er- 
sundene menschliche Urgeschichte wirkliche Einblicke 
gewinnen kann, erweisen sich nach Forschungen 
wie denen von Ratzel, Bücher (Arbeit und Rhyth= 
mus), Groos (Spiele der Menschen) u. a. eine 
ganze Fülle außerwirtschaftlicher Triebfedern recht- 
licher, politischer, ästhetischer und religiöser Natur 
als ursprünglich wirksam. Speziell die kausale 
Ableitung der Rechtsreglungen aus Wirtschafts- 
zuständen hat R. Stammler (Wirtschaft u. Recht 
nach der materialistischen Geschichtsauffassung 
(21906.0 widerlegt. Das gleiche gilt vollends vom 
Ursprung der Sittlichkeit und Religion (ogl. hier- 
über d. Art. Mensch). 
Was im Bereich urgeschichtlicher Hypothesen 
nur mutmaßend erschlossen werden kann, erweist 
sich für die Universalbetrachtung historisch zugäng- 
licher Zeiten als so offenbar, daß selbst sozialistische 
Geschichtsbetrachtung, sobald ihr wissenschaftliches 
Gewissen nicht ganz vom marxistischen Dogma 
übertäubt wurde, in wachsendem Maße die ur- 
sprüngliche und fortlaufend sich steigernde Mit- 
wirkung außerökonomischer Faktoren anerkennt. 
Bernstein z. B. betont in seiner Schrift über „Die 
Voraussetzungen des Sozialismus und die Auf- 
gabe der Sozialdemokratie“ (111904) 9: 
„Die rein ökonomischen Ursachen schaffen zunächst 
nur die Anlage zur Aufnahme bestimmter Ideen, 
wie aber diese dann aufkommen und sich ausbreiten, 
und welche Form sie annehmen, hängt von der 
Mitwirkung einer ganzen Reihe von Einflüssen ab.
	        
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