1049 Meinung,
als Urteil über diese, ist bedingt und geregelt von
der jeweiligen Entwicklung des Gemeinsinnes,
von herrschenden Sitten und Gewohnheiten, von
der geistigen Kultur, den politischen und wirt-
schaftlichen Zuständen. Der Gemeinsinn ist
nationaler, lokaler, religiös-konfessioneller, mora-
lischer, parteipolitischer, wirtschaftlicher Art; hier-
aus ergibt sich, daß die nach dem einen und
andern dieser Gesichtspunkte gebildete öffentliche
Meinung oft ein Mehrheitsurteil sein muß, dem
ein Minderheitsurteil gegenübersteht. Einheit-
lichkeit der öffentlichen Meinung wird nur in den
seltenen Fällen das ganze Volksgemüt mit ele-
mentarer Kraft erfassender Fragen zu erwarten
sein. Da Glaube und Gewissen die lautersten
Quellen der öffentlichen Meinung sind, hat das
auf dieselben sich gründende gemeinsame Urteil
über Recht und Unrecht, Sitte und Unsitte, gut
und bös durch die Prägung des Wortes: Volkes-
stimme — Gottes Stimme, seine höchste Ehrung
erhalten, die aber mißbräuchlicher Ausbeutung
preisgegeben ist, wenn auf sie Bezug genommen
wird bei Urteilen der öffentlichen Meinung, zu
deren Bildung Irrtümer, Vorurteile mitgewirkt
haben.
II. Geschichkliches. Im griechischen und rö-
mischen Altertum kam die öffentliche Meinung
zum mündlichen Ausdruck auf den Straßen, in
den Volksversammlungen; besonders wurde die
politische Komödie auf der attischen Bühne ihr
Spiegelbild. Der römische Volkstribun war ihr
Organ, die aura popularis ihre wechselvolle
Form. Die durch die Sendung der katholischen
Kirche zu einer Einheit gewordene christliche
Völkerfamilie besaß einen so bedeutenden Schatz
gemeinsamer Anschauungen, wie ihn nur die Ein-
heit des Glaubens zu bringen vermag. Das ge-
lehrte Schrifttum und viele die Interessen be-
dingenden Einrichtungen waren in hohem Grade
gemeinsam oder verähnlicht. Was in Jtalien
Thomas von Aquin, der in Köln studiert hatte,
auseinandersetzte, was der Schotte Duns an der
Pariser Universität lehrte, las man in Prag so
gut wie in Valencia, Oxford und Krakau. Der
Gemeingeist erleichterte die Zurückdrängung des
Kriegswesens und des dafür notwendigen Auf-
wandes, die Austragung von Streitigkeiten auf
schiedsrichterlichem Wege und volkstümliches Zu-
standekommen von Gesamtunternehmungen (Kreuz-
züge). Die gemeine Meinung kleineren Umkreises
machte sich nicht wie heutzutage nach dem die ge-
sellschaftlichen und Berufskreise oft bunt durch-
kreuzenden Bestande vorhandener Einzelüberzeu-
gungen, also nach sog. Parteien (s. d. Art.) gel-
tend, sondern deckte sich regelmäßig mit standes-
und ortsgenossenschaftlicher Gesinnung. Voraus-
setzung war die Anordnung der Gesellschaft nach
lebensfähigen, starken Berufsverbänden und alle
damit in Beziehung stehenden Einrichtungen, wie
das ständische und nachbarschaftliche Ehrengericht,
öffentliche und mündliche Handhabung des Rechts
öffentliche. 1050
durch Innungs= und Berufsgenossen und ähn-
liches. Da die Gesetzesmaßregeln großenteils aus
den verschiedenen Berufsorganisationen selbst her-
vorgingen, die selbst am besten wußten, wo der
Schuh sie drückte, entfiel die Zeitungsaufgabe,
geplante Gesamtgesetze zu erklären und dafür zu
werben. „Neue Zeitung“ war Mitteilung der
Tagesereignisse. Von der Kanzel aus gelangte
das lebendige Wort, dessen Führung das kano-
nische Recht nur Berufenen anvertraute, an das
Volk als Ganzes. Auch die volkstümliche Dich-
tung ward Träger der öffentlichen Meinung; in
Frankreich bedienten sich die Könige der dem
französischen Charakter so sehr zusagenden drama-
tischen Form, der Komödie, um durch sie für
ihre politischen Zwecke auf die öffentliche Meinung
zu wirken; so wurde der bis dahin treue Spiegel
der öffentlichen Meinung getrübt.
Der Zerfall der Christenheit in Nationalstaaten,
die selbstsüchtige Beförderung des eignen Volkes
durch eine über ihre Selbständigkeit eifersüchtig
wachende Staatsgewalt, die Ereignisse des aus-
gehenden Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit
vermehrten die staatlichen Erschütterungen und
damit den Neuigkeitsstoff. Durch die religiösen
Bewegungen wuchs die Unruhe der öffentlichen
Meinung; das Aufkommen der Druckkunst gab
neue Mittel an die Hand, auf die öffentliche
Meinung zu wirken. Neben die Kanzel, die als
Mittelpunkt der Volksversammlung diente, trat
das Flugblatt. — Der Absolutismus, der
nur den Souverän, dessen Diener und unmündige
Untertanen kannte, unterdrückte die öffentliche
Meinung. Mit der Unterdrückung der genossen-
schaftlichen und gemeindlichen Freiheit wurden
Rechtspflege und Verwaltung geschäftlich, sie
kamen in die Hände eines gelehrten Beamten-
tums; damit war die Heimlichkeit und Schrift-
lichkeit alles Rechts entschieden.
Die Wiederbeteiligung der Untertanen mit
politischen Rechten stärkte die Bedeutung der
politischen Ansichten des inzwischen freilich in
seiner Zusammensetzung geänderten Volkes. Durch
Vertretungen wurde das Volk an der Führung
der Staatsgeschäfte beteiligt, und dies setzte — da
die Bildung von Standesmeinungen durch die
Anderung der Gesellschaft erschwert oder unmög-
lich geworden war — das Vorhandensein einer
gewissen Durchschnittsmeinung voraus. Zwischen
der monarchischen Gewalt und den Strömungen
dieser öffentlichen Meinung stand nunmehr eine
Volksvertretung, deren entscheidende Majo-
rität auf Wahlen begründet ward, die vom
Stande einer gewissen öffentlichen Meinung be-
herrscht wurden. Daß sich eine solche bildete und
Regierung und Parlament mit den Bedürfnissen
und Wünschen des Volkes bekannt wurden, dazu
bedurfte es fortgesetzter Verständigung über öffent-
liche Angelegenheiten. Da nicht mehr von Gruppe
zu Gruppe verhandelt werden konnte, mußten sich
die Zeitungen an die einzelnen wenden. Je nach