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dem Erfolg entstanden neue (Überzeugungs-)
Gruppen. Ein Urteil über die Vorgänge im
staatlichen Leben mußte nun einmal vorhanden
sein, sonst fehlte die zu gedeihlichem Mitwirken
des Parlaments erforderliche parlamentarische
Bildung. Es mußte eine Meinung da sein über
das öffentliche Wirken von Personen, welche ver-
möge ihrer Stellung dem Volks= und Staats-
leben bestimmte Richtungen zu geben vermochten,
sowie über die von einzelnen und ganzen Gruppen
einzelner (Parteien) gestellten Anforderungen,
welche mit dem Anspruch auf Verwirklichung durch
den Staat auftraten.
Die öffentliche Meinung und ihre Bedeutung
sind veränderlich: die Kunstrichtungen, die wissen-
schaftlichen Lehren, die Regierungsgrundsätze lösen
einander ab. In den verschiedenen Staatsformen
ist die öffentliche Meinung verschieden wichtig.
Im demokratischen Staatswesen kann der über-
mächtige Einfluß der öffentlichen Meinung ein
Übelstand, eine Gefahr werden; doch hängt dies
viel vom Rassentemperament ab. So erweist die
Geschichte, daß die zügelloseste öffentliche Mei-
nung in der zügellosesten Demokratie plötzlich in
das Extrem despotischer Knebelung sich fand —
in Frankreich —, während eine ihrem Wesen
nach zähere, folgerichtiger denkende Bevölkerung,
die englische, trotz der Form der Monarchie, ein
starkes, sich stets gleichbleibendes Maß von Frei-
heit genießt.
III. Organe der öfentlichen Meinung.
Voraussetzung der öffentlichen Meinung als eines
formulierten Urteils weiterer Kreise über eine Ge-
meinsamkeitsfrage ist der Austausch der An-
sichten. In besondern Einzelfällen braucht ein
solcher Austausch nicht stattzuhaben; eine all-
gemeine Disposition, gemeinsame Empfindungen
und grundsätzliche Anschauungen führen bei Ein-
tritt eines besondern, das Urteil der öffentlichen
Meinung herausfordernden Ereignisses an sich
schon eine allgemeine, sofortige Ubereinstimmung
der Stellungnahme herbei auch ohne vorherige
aufmunternde, belehrende Einwirkung sonstiger
Art. Bei der Vorbereitung der öffentlichen Mei-
nung kommen aber nicht nur die Einzelgefühle in
Betracht, sondern wesentlich auch jene eigentüm-
lichen, auf der Macht des Beispiels beruhenden
geistigen Erscheinungen, die sich bei Anhäufung
von Menschen zeigen. Als Mittel, gemeinsame
Anschauungen zum Ausdruck zu bringen, zu er-
regen und zu beseitigen, dienen die dem Gemein--
schaftsleben überhaupt dienenden Mittel der Ver-
einigung und der Mitteilung durch Wort und
Bild, also hauptsächlich einerseits das Vereins-
und Versammlungswesen, der gesellschaftliche Ver-
kehr und die Volksvertretung, anderseits Kunst
und Wissenschaft, das gesprochene und das ver-
vielfältigte Wort: Beredsamkeit, Rednertribüne,
Schaubühne, Buch= und Tagesliteratur (vgl. die
einschlägigen Artikel: Vereins-und Versammlungs-
wesen, Wahlrecht, Petitionsrecht, Plebiszit, Par-
Meinung, öffentliche.
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teien, Unterrichtswesen, Universitäten). Auch das
Haberfeldtreiben gehört unter diese Ausdrucks-
mittel. Aber auch mittelbar kann aus mancherlei
andern Umständen auf Herrschendwerden oder
Verschwinden gewisser Ansichten geschlossen wer-
den. Anderungen, welche die Kriminal= und
Moralstatistik, die Bevölkerungsstatistik, die Preis-
bewegung, die Trachten, die Lebensführung zeigen,
gestatten Rückschlüsse auf den Wechsel der An-
schauungen. Nicht bloß als Urteil, sondern auch als
Willensäußerung kommt die öffentliche Meinung
zu ihrem furchtbarsten Ausdruck in der Revolution.
Ein Hauptmittel der öffentlichen Meinung ist
die Presse (s. d. Art.). Die Zeitungen sind in
periodischer Aufeinanderfolge erscheinende, mehr
oder weniger politische Blätter, welche sich mit der
Mitteilung und Besprechung für den Leserkreis
wichtiger Nachrichten und Vorkommnisse beschäf-
tigen. Sie sind Anstalten zu fortwährender Be-
lehrung und Aufklärung des Volkes, sie sollen es
von neuen Vorgängen benachrichtigen und der
Menge das richtige Urteil und den rechten Willen
vermitteln; sie sind die tägliche Rednerbühne, die
öffentliche Lehrkanzel für die Masse des Volkes,
die Schule der Erwachsenen.
Schon vor der Erfindung der Buchdruckerkunst
und noch nachher gab es geschriebene Zeitungen,
zuerst der Geschäftswelt. Durch die Verkörperung
des Gedankens in Buchstaben und Bild wurde
die Denkkraft in stand gesetzt, gleichzeitig an ver-
schiedenen Orten und damit auf eine große Zahl
von Menschen zu wirken. Die Erleichterung der
Vervielfältigung jener Verkörperung steigerte diese
Möglichkeit. Die Presse wurde das rascheste und
billigste Mittel der Vervielfältigung des in Buch-
staben und Bild dargestellten Gedankens, das
rascheste und billigste Mittel der Gedankenmit-
teilung und nach und nach aus einer bloßen Be-
nachrichtigungsanstalt die Trägerin und Leiterin
der öffentlichen Meinung, schließlich ein Kampf-
mittel der Parteipolitik. Eines großen Ansehens
erfreuten sich seinerzeit in Deutschland die Frank-
furter Meßberichte. Im 17. Jahrh. verband sich
mit der Offentlichkeit der Zeitungsflugblätter die
Regelmäßigkeit der Ausgabe. Auf ihre Höhe ge-
langte die Zeitung im 19. Jahrh., in der auf das
Individuum gestellten Gesellschaft, dank mannig-
fachen neuen Hilfsmitteln: Schnellpresse, Rota-
tionsmaschine, Eisenbahn und Post, Telegraph
und Telephon.
In jedem Lande, wo das Volk zur Teilnahme
am öffentlichen Leben berufen ist, nimmt jener
„Teil der Presse, welcher die Anschauungen,
Münsche und Bestrebungen der einzelnen Par-
teien zum Ausdrucke bringt, an Bedeutung und
Einfluß die erste Stelle ein. Die Zeitungen
knüpfen an die Ereignisse des Tages an, üben
nnermüdlich ihr ausgedehntes Lehramt aus und
dringen wie kein zweites Erzeugnis der Presse
(die Kalender vielleicht ausgenommen) in die
tiessten Schichten des Volkes. Die Zeitungen