Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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richten die Meinungen der Menschen, erfüllen sie 
mit gewissen Vorstellungen und erzeugen dadurch 
gewisse Strömungen, sie wecken, vertiefen und 
lenken die öffentliche Meinung. Die Presse ist 
das Mittel, durch welches eine Bewegung immer 
wieder von neuem gefördert, gelenkt wird. In den 
Parteiorganen spiegeln sich die Ideen ab, welche 
das öffentliche Leben beherrschen; in ihnen kommt 
die jeweilig in der Luft liegende Stimmung, der 
augenblickliche Eindruck der Tatsachen am schnell- 
sten zum Vorschein. Die materielle und geistige 
Kraft der verschiedenen Parteien, ihre Pläne, 
Organisation, Disziplin geben sich (außer in 
Versammlungen und Wahlen) in der Parteipresse 
kund, die in ihrer Gesamtheit auch eine Art Volks- 
vertretung repräsentiert; ihr Mandat beruht, da 
das Preßwesen gewissermaßen eine Vereinigung 
zwischen Geber und Empfänger ist, auf dem 
Willen der Leser, nicht der Wähler. 
Für die Erkenntnis des öffentlichen Lebens ist 
von Wert die Kenntnis der Parteiorgane hin- 
sichtlich der politischen Richtung, die Zahl der 
Blätter, die einer bestimmten Richtung angeyören, 
die Verbreitung, die sie besitzen, die Gesellschafts- 
kreise, aus welchen sie ihre Leser sammeln. Um 
die einer Partei angehörigen Zeitungen über die 
Haltung und Anschauungen der Partei fort- 
während auf dem Laufenden zu erhalten und zu- 
gleich mit Stoff zu versehen, geben die Partei- 
leitungen oder mit ihnen in enger und steter Ver- 
bindung stehende Tagesschriftsteller vielfach auto- 
graphierte oder gedruckte Mitteilungen heraus 
(sog. Korrespondenzen). Unter Korrespondenz- 
bureaus versteht man Geschäfte, welche die Zei- 
tungen mit telegraphischen Nachrichten versehen. 
Eine der ältesten Nachrichtenagenturen ist die von 
der französischen Regierung beeinflußte Agence 
Havas (Garnier, Paris, seit 1832); die bedeu- 
tendste ist Reuters Bureau (London, seit 1851), 
dank den weltumspannenden englischen Kabeln, 
die gewöhnlich die ersten Nachrichten von den 
Schauplätzen der Weltpolitik bringen, ein wich- 
tiges Mittel in englischer Hand zur Beeinflussung 
der öffentlichen Meinung. Deutschland versorgt 
Wolff in Berlin, Osterreich das Wiener Korre- 
spondenzbureau, das auch den nahen Orient zum 
Interessengebiet hat, Rußland die Petersburger 
Telegraphenagentur, die auch für asiatische Ver- 
hältnisse in Betracht kommt, Italien die Agenzia 
Stefani. Die Aufnahme der Telegramme in die 
Zeitungen hat die Raschheit der Benachrichtigung 
außerordentlich gesteigert; doch kann auch hier die 
Unwahrheit oder die Zurückhaltung die Hand im 
Spiele haben. Das Telegramm hat die bestim- 
mende Wirkung des ersten Eindrucks für sich. 
Bei der Entstehung eigner Institute für Zeitungs- 
telegramme war es von großer Wichtigkeit, ob es 
einer Macht gelang, diese Stellen der Nachrichten- 
verbreitung zu beeinflussen. 
IV. Bedentung und Beziehungen der 
Presse. Die öffentliche Meinung ist weder gegen 
Meinung, öffentliche. 
  
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Irrtum noch gegen Lüge gefeit. Die Miß- 
griffe, welche die unumschränkten Regierungen 
bei Lenkung der erwachenden öffentlichen Mei- 
nung durch Erlasse und Verwarnungen, Zensur 
und eigne Unternehmungen beginnen, nährten 
die trügerische Hoffnung, daß die volle Freiheit 
der Bewegung im mündlichen wie im schriftlichen 
Verkehr, die Offentlichkeit der Verhandlungen 
politischer Körperschaften usw. der Wahrheit stets 
zum Siege verhelfen würden. Allein der Inhalt 
der öffentlichen Meinung kann trotzdem wie die 
Meinung des einzelnen wahr oder falsch, gut oder 
böse sein. Die Männer, welche tiefe Einsicht in 
das politische Leben und seine Bedürfnisse besitzen, 
sind nicht sehr zahlreich, und es ist ungewiß, ob 
es ihnen gelingt, ihre Meinung zur öffentlichen 
zu machen. Es kommt ja meistens auf diejenigen 
an, welche den Ton angeben und die geistigen 
Strömungen erzeugen. Tonangeber sind sowohl 
Anwälte des Guten als Vertreter der Lüge. Die 
öffentliche Meinung ist Fälschungen ausgesetzt, der 
Schein kann den Inhalt, der Augenblick die blei- 
bende Wirkung, die Verfechtung einer einzelnen 
Seite die Sorge um das große Ganze zurück- 
drängen; die öffentliche Meinung kann von augen- 
blicklichen Leidenschaften getrübt, sie kann irre- 
geleitet werden. Eine öffentliche Meinung kann 
vorgespiegelt werden, so daß das Publikum end- 
lich selbst glaubt, das sei seine eigne Meinung, 
während doch nur eine so beeinflußte Wissenschaft, 
eine so geleitete Presse des Publikums Meinung 
besorgt. — Die Volksvertretung läßt mit 
Sicherheit nur die Richtungen ihrer Mitglieder 
und gewisse Tendenzen ihrer Wähler erkennen. 
Doch wurden schon oft in den Wahlgesetzen oder 
bei deren jedesmaliger Durchführung (Wahlkreis- 
geometrie) mittelbar einzelne Bevölkerungskreise 
nicht nur besser bedacht, als es im Interesse des 
Gesamtwohles liegt, sondern auch besser, als aus 
anderwärts aufgestellten gerechten Bemessungs- 
grundsätzen gefolgt wäre. Die öffentliche Meinung 
kann in Widerspruch stehen zur parlamentarischen 
Mehrheit, z. B. wenn diese unter dem drückenden 
Einfluß einer Regierungsmacht oder einer feilen 
Presse gewählt worden ist. Der einzelne Wähler 
kann, durch Interesse privater Art bewogen, seine 
Stimme aus Furcht vor Nachteil im Gegensatz 
zur öffentlichen Meinung und sogar im Wider- 
spruch mit seinen eignen Wünschen abgeben. Die 
Volksmeinung kann der Parteikämpfe überdrüssig 
werden und die Erwählten im Stiche lassen. In- 
dem die Presse die öffentliche Meinung wider- 
spiegelt, übt sie eine Kontrolle der Regierungs- 
handlungen aus. Es entsteht dabei ein natürlicher 
Gegensatz zwischen beiden Faktoren. Daher das 
wechselvolle Urteil im Munde der Regierenden 
über die Presse, die einmal als schädlich, das 
ander Mal als nützlich, unentbehrlich hingestellt 
wird, je nachdem sie die Pläne einer kurzsichtigen, 
gewalttätigen Regierung kreuzt und dabei die 
Wucht der gesunden öffentlichen Meinung gegen
	        
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