Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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teil, sodann 1869 an dem Konzil, endlich 1877 
an dem 50jährigen Bischofsjubiläum Pius' IX. 
Auf der Rückreise von da starb er am 13. Juli in 
dem Kapuzinerkloster zu Burghausen, von typhösem 
Fieber aufgerieben. Tief betrauert von seinen 
Diözesanen und von dem gesamten katholischen 
Deutschland, wurde er in der Muttergotteskapelle 
des Domes begraben, woselbst eine von der Fa- 
milie errichtete liegende Statue sein Andenken be- 
wahrt. . 
Die Vorzüge des westfälischen Stammes und 
des westfälischen Adels erscheinen in Ketteler in 
besonderem Maße ausgeprägt. Schlichten Sinnes 
und starken Willens, streng gegen sich selbst, wohl- 
wollend gegen alle, stand er dem Bauernstande 
ebenso nahe wie dem Adel; ganz besonders diente 
er der Kirche, der er von Jugend auf fromm und 
treu ergeben war. Aus dieser Gesinnung fließt 
vor allem der glühende Seeleneifer, den er als 
Priester und Bischof zeigte. Er wollte in Wahr- 
heit allen alles werden, um alle zu gewinnen. 
Darum widmete er sich mit unermüdlicher Liebe 
den Kindern, die er katechisierte und ermahnte, 
und für deren Erziehung er mit großen Opfern 
zwei Waisenhäuser gründete, den Kranken und 
Armen, allen Gemeinden seiner Diözese, welche er 
regelmäßig alle drei Jahre besuchte. „Mich kennt 
jedes Großmütterchen meiner Diözese“, so konnte 
er in Wahrheit sagen. Wer die Diözese Mainz 
kennt, muß bezeugen, daß er in jeder Hütte als 
Vater verehrt wurde. Die Knabenkonvikte von 
Dieburg und Mainz verdanken ihm ihr Ent- 
stehen. 
Man hat v. Ketteler in der Presse vielfach als 
einen gewalttätigen und streitsüchtigen Mann dar- 
gestellt. Ganz mit Unrecht. Er war gerecht und 
wohlwollend und in seinen Anforderungen stets 
maßvoll. Wenn er alsbald nach seinem Amts- 
antritt gegen die hessische Staatsregie- 
rung auftrat, so war dieses nur die Erfüllung 
einer gebieterischen Pflicht. Als die hessische Re- 
gierung die katholischen Landesteile in den Jahren 
1803, 1806 und 1816 übernahm, unterwarf sie 
die Kirche der unwürdigsten Staatsbevormundung. 
Alle geistlichen Stellen wurden von dem Mini- 
sterium besetzt, die ganze Verwaltung des Kirchen- 
vermögens war in den Händen des Staates; Orden 
waren nicht geduldet; der Verkehr mit Rom stand 
unter dem Plazet. Leider hatten, nachdem Colmar 
1818 gestorben und das Bistum Mainz 1829 
neu errichtet worden war, die Bischöfe Burg, 
Humann und Keiser sich diesem System gefügt. 
Der erstgenannte hatte eingewilligt, daß das Se- 
minar in Mainz auf einen Jahreskursus beschränkt 
und eine theologische Fakultät in Gießen errichtet 
wurde. Obgleich im allgemeinen glaubensfest und 
sittenrein, zeigte der Klerus doch die übeln Folgen 
dieser vom Staat beherrschten Erziehung. Es 
war darum durchaus geboten, daß v. Ketteler 
1851 die Herstellung des Seminars mit vollstän- 
digem theologischem Studium bewirkte, wozu ihm, 
Ketteler. 
  
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wie er selbst bemerkte, Gott Männer gegeben hatte, 
welche in der Literatur wie im Leben der Kirche 
einen hervorragenden Platz einnahmen. 
Die Wirksamkeit v. Kettelers beschränkte sich 
keineswegs auf seine Diözese. Er nahm den leb- 
haftesten Anteil an den Bewegungen des katho- 
lischen Deutschlands und der Kirche überhaupt. 
Besondere Beachtung verdienen sein Verhältnis zu 
dem Heiligen Stuhl und seine Stellung auf dem 
Vatikanischen Konzil. Wie innig treu er 
Pius IX. ergeben war, wie sehr er die Autorität 
des Papstes hochschätzte, beweisen seine wieder- 
holten Romreisen. Anderseits aber muß hervor- 
gehoben werden, daß er in Rom mit Freimut die 
Forderungen geltend machte, welche er mit Rück- 
sicht auf die Verhältnisse seiner Diözese, Deutsch- 
lands und der Zeit in kirchlichen Angelegenheiten 
stellen zu sollen glaubte. So äußerte er sich z. B. 
ganz entschieden gegen die schwer faßbare Form 
des Syllabus, während er dessen Inhalt voll- 
ständig anerkannte. In gleicher Weise war er vor 
und während der Konzilsverhandlungen gegen die 
vereinzelte Behandlung der Unfehlbarkeit des 
Papstes, deren Wahrheit er niemals bestritt. Sein 
Wunsch und sein Verlangen gingen dahin, daß 
diese Glaubenslehre in Gemeinschaft mit der Lehre 
von der Kirche erklärt werde. Gleich vielen andern 
in Deutschland gebildeten Bischöfen war Freiherr 
v. Ketteler in die Lehre der Infallibilität wohl 
nicht so tief eingedrungen wie die Theologen und 
Bischöfe, welche die Majorität des Konzils bil- 
deten. Er hat dieselbe jedoch stets festgehalten, 
wie sie auch in dem Mainzer Seminar lange vor 
dem Konzil gelehrt wurde. Zuwider war seinem 
Charakter das Drängen und Treiben, mit welchem 
in einigen Kreisen diese Frage behandelt wurde. 
Auch war ihm als Kenner deutscher Verhältnisse 
die Gefahr wohl bekannt, welche die Definition 
Deutschland bringen konnte. Er wünschte eine 
Fassung, welche Mißverständnissen möglichst zu- 
vorkommen sollte. 
Daß das Verhalten des Bischofs gegenüber 
dem Konzilsbeschluß und der päpstlichen Ent- 
scheidung vollkommen korrekt war, kann nicht be- 
stritten werden und wird selbst von nichtkatho- 
lischer Seite anerkannt (s. den sehr sachgemäß ge- 
schriebenen Art. Ketteler in d. Allg. Enzyklopädie 
von Ersch und Gruber II. Sekt., 35. Tl, S. 306). 
Obgleich v. Ketteler während des Konzils im 
ganzen sich den Schritten der Minorität anschloß, 
hat er sich doch nicht bewegen lassen, in der letzten 
solennen Sitzung mit non placet zu stimmen. 
Er blieb derselben fern und schrieb an den Papst: 
„Um mich nicht in der meiner ganzen Seele 
widersprechenden Lage zu befinden, mit non placet 
zu stimmen, bleibt mir kein anderes Mittel übrig, 
als noch heute abend von der mir erteilten Er- 
laubnis zur Rückkehr Gebrauch zu machen. Bevor 
ich aber abreise, kann ich nicht unterlassen, Dir 
in aller Demut die Erklärung zu unterbreiten, daß 
ich mich den Entscheidungen des Konzils ebenso
	        
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