Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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kennen deren Wesenheit und erheben uns dadurch 
zur Erkenntnis des Allgemeinen. Sodann ist 
das Denken eine einfache Tätigkeit, was schon 
aus der Begriffsbildung hervorgeht. Der Begriff 
kommt nämlich nur dadurch zustande, daß die 
konstitutiven Merkmale eines Dinges in abstracto 
zu einem einheitlichen Gedanken zusammengefaßt 
werden. Das wäre aber nicht möglich, wenn das 
Denken nicht ein durchaus einfacher Akt wäre. 
Wäre er zusammengesetzt, so blieben jene Merk- 
male immer geschieden voneinander und könnten 
zu einem einheitlichen Gedanken im Bewußtsein 
niemals zusammengefaßt werden. Analog verhält 
es sich mit dem Urteil. Wenn das Denken im 
Urteil einen Begriff von dem andern bejaht oder 
verneint, so ist solches nur dadurch möglich, daß 
ein und derselbe Denkakt die beiden Begriffe um- 
faßt, somit die Denktätigkeit eine durchaus einfache 
ist. Ist nun aber das Denken wesentlich eine über- 
organische und einfache Tätigkeit, so muß auch das 
Prinzip, aus welchem diese Tätigkeit hervorgeht, 
immateriell und einfach sein; denn jedes Wesen 
kann nur tätig sein in Kraft und gemäß seiner 
Natur. Es muß also im Menschen ein immate- 
rielles, einfaches Prinzip existieren — die Seele. 
— b) Das Wollen ist gleichfalls eine über- 
organische, immaterielle Tätigkeit. Denn fürs 
erste strebt der Wille nicht bloß sinnliche, sondern 
auch übersinnliche, immaterielle Güter an, was 
ganz unmöglich wäre, wenn das Wollen nur eine 
organische, materielle Tätigkeit wäre, weil eine 
solche nur auf Sinnliches sich beziehen könnte. 
Fürs zweite ist es Tatsache, daß der Wille gar 
häufig in Widerspruch tritt mit dem Streben des 
sinnlichen Begehrungsvermögens und anderes, ja 
Entgegengesetztes von dem will, was das sinnliche 
Begehrungsvermögen anstrebt. Wäre aber das 
Wollen eine organische, materielle Tätigkeit, so“ 
könnte diese Erscheinung gar nicht vorkommen. 
Denn dann würde der Wille mit dem sinnlichen 
Begehrungsvermögen in eins zusammenfallen, eine 
und dieselbe Tätigkeit kann aber mit sich selbst 
nicht in Widerspruch treten. Fürs dritte endlich 
ist das Wollen des Menschen frei. Wir bestimmen 
uns selbst nach eigner Wahl für dieses oder jenes; 
der Wille ist freies Selbstbestimmungsvermögen. 
Die Freiheit des Willens wäre aber undenkbar, 
wenn das Wollen eine bloß physiologische Er- 
scheinung wäre; denn dann wäre das Wollen 
a priori bestimmt durch das Naturgesetz, und eine 
freie Selbstbestimmung könnte nicht stattfinden. 
Ist nun aber das Wollen eine überorganische, 
immaterielle Tätigkeit, dann muß auch das 
Prinzip des Wollens immateriell und einfach sein. 
— ) Schon als Tatsache genommen, ist das 
Selbstbewußtsein ein sprechender Beweis 
für die Existenz einer immateriellen, geistigen 
Seele im Menschen. Das Selbstbewußtsein ist 
nämlich dadurch bedingt, daß wir denkend über 
uns reflektieren, unser eignes Selbst zum Gegen- 
stande unserer Erkenntnis machen. Wäre aber 
  
Mensch und Menschheit. 
  
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das Erkennen eine bloß materielle Funktion des 
Gehirns, dann wäre eine solche Reflexion über 
uns selbst unmöglich. Denn jede materielle Funk- 
tion erzielt immer eine Wirkung, die außer ihr 
gelegen ist, kann aber niemals direkt in sich reflek- 
tieren. Gerade die Tatsache also, daß wir ein 
Selbstbewußtsein haben, beweist, daß das Denken 
eine immaterielle, überorganische Tätigkeit ist, für 
die wir also ein immaterielles, geistiges Prinzip 
in uns annehmen müssen. Zudem gewährleistet 
uns das Selbstbewußtsein unsere fortwährende 
persönliche Identität. Wir sind uns bewußt, daß 
wir jetzt ganz dieselbe herson sind, die wir ehe- 
dem gewesen, und daß in Bezug auf unsere Per- 
sönlichkeit als solche nie die mindeste Anderung 
eintritt. Nun steht es aber physiologisch fest, daß 
unser Leib in steter substantieller Veränderung 
begriffen ist, so daß er seinen materiellen Bestand- 
teilen nach durchaus nicht mehr derselbe ist, der er 
vor einiger Zeit gewesen. Wäre also der Mensch 
nichts weiter als ein materielles Wesen, so könnte 
von einer persönlichen Identität gar nicht die 
Rede, das Bewußtsein von unserer persönlichen 
Identität daher gar nicht vorhanden sein. Die 
persönliche Identität, wie sie uns durch unser 
Selbstbewußtsein gewährleistet ist, kann also ihren 
Grund nur darin haben, daß in uns ein höheres 
Prinzip lebt, welches einer substantiellen Ver- 
änderung nicht fähig ist, daher bei aller Ver- 
änderung des Leibes dasselbe bleibt. Ein solches 
Prinzip ist aber eine einfache, immaterielle und 
geistige Substanz. 
4. Die Vorzüge des Menschen. Dar- 
auf, daß der Mensch nicht ein rein materielles 
Wesen ist, sondern daß in ihm ein Geist, ver- 
schieden vom Leibe, lebt, beruhen die hohen Vor- 
züge, welche der Mensch vor dem Tiere voraus 
hat. Der erste ist die religiöse Anlage. Der 
Mensch kann zur Erkenntnis Gottes, des Ur- 
grundes aller Dinge, sich erheben und zu ihm in 
ein religiöses Verhältnis treten, ihn lieben, ver- 
ehren und anbeten. Mag auch die materialistische 
Doktrin die Religion für eine Schimäre halten, 
so viel ist sicher, daß eine religiöse Anlage im 
Menschen unerklärlich wäre, wenn seine Natur 
eine rein tierische wäre. — Ein fernerer Vorzug 
ist die sittliche Anlage des Menschen. Alle 
Wesen dieser sichtbaren Welt sind beherrscht durch 
Gesetze der Natur. Das Tier folgt seinem In- 
stinkt, durch den all seine Tätigkeit ein für allemal 
und unabänderlich geregelt ist. Im Menschen da- 
gegen kündigt sich ein Gesetz an, welches sittliche 
Forderungen an ihn stellt; nicht das Naturgesetz, 
sondern das sittliche Gesetz nimmt das Recht für 
sich in Anspruch, ihn in seinem Tun und Lassen 
zu leiten. Diese sittliche Anlage wäre wiederum 
eine ganz unerklärbare Erscheinung, wenn der 
Mensch mit dem Tiere dem Wesen nach auf 
gleicher Linie stünde; denn dann müßte auch seine 
Tätigkeit ausschließlich auf die durch den In- 
stinkt geregelte Befriedigung seiner Sinnlichkeit
	        
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