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kennen deren Wesenheit und erheben uns dadurch
zur Erkenntnis des Allgemeinen. Sodann ist
das Denken eine einfache Tätigkeit, was schon
aus der Begriffsbildung hervorgeht. Der Begriff
kommt nämlich nur dadurch zustande, daß die
konstitutiven Merkmale eines Dinges in abstracto
zu einem einheitlichen Gedanken zusammengefaßt
werden. Das wäre aber nicht möglich, wenn das
Denken nicht ein durchaus einfacher Akt wäre.
Wäre er zusammengesetzt, so blieben jene Merk-
male immer geschieden voneinander und könnten
zu einem einheitlichen Gedanken im Bewußtsein
niemals zusammengefaßt werden. Analog verhält
es sich mit dem Urteil. Wenn das Denken im
Urteil einen Begriff von dem andern bejaht oder
verneint, so ist solches nur dadurch möglich, daß
ein und derselbe Denkakt die beiden Begriffe um-
faßt, somit die Denktätigkeit eine durchaus einfache
ist. Ist nun aber das Denken wesentlich eine über-
organische und einfache Tätigkeit, so muß auch das
Prinzip, aus welchem diese Tätigkeit hervorgeht,
immateriell und einfach sein; denn jedes Wesen
kann nur tätig sein in Kraft und gemäß seiner
Natur. Es muß also im Menschen ein immate-
rielles, einfaches Prinzip existieren — die Seele.
— b) Das Wollen ist gleichfalls eine über-
organische, immaterielle Tätigkeit. Denn fürs
erste strebt der Wille nicht bloß sinnliche, sondern
auch übersinnliche, immaterielle Güter an, was
ganz unmöglich wäre, wenn das Wollen nur eine
organische, materielle Tätigkeit wäre, weil eine
solche nur auf Sinnliches sich beziehen könnte.
Fürs zweite ist es Tatsache, daß der Wille gar
häufig in Widerspruch tritt mit dem Streben des
sinnlichen Begehrungsvermögens und anderes, ja
Entgegengesetztes von dem will, was das sinnliche
Begehrungsvermögen anstrebt. Wäre aber das
Wollen eine organische, materielle Tätigkeit, so“
könnte diese Erscheinung gar nicht vorkommen.
Denn dann würde der Wille mit dem sinnlichen
Begehrungsvermögen in eins zusammenfallen, eine
und dieselbe Tätigkeit kann aber mit sich selbst
nicht in Widerspruch treten. Fürs dritte endlich
ist das Wollen des Menschen frei. Wir bestimmen
uns selbst nach eigner Wahl für dieses oder jenes;
der Wille ist freies Selbstbestimmungsvermögen.
Die Freiheit des Willens wäre aber undenkbar,
wenn das Wollen eine bloß physiologische Er-
scheinung wäre; denn dann wäre das Wollen
a priori bestimmt durch das Naturgesetz, und eine
freie Selbstbestimmung könnte nicht stattfinden.
Ist nun aber das Wollen eine überorganische,
immaterielle Tätigkeit, dann muß auch das
Prinzip des Wollens immateriell und einfach sein.
— ) Schon als Tatsache genommen, ist das
Selbstbewußtsein ein sprechender Beweis
für die Existenz einer immateriellen, geistigen
Seele im Menschen. Das Selbstbewußtsein ist
nämlich dadurch bedingt, daß wir denkend über
uns reflektieren, unser eignes Selbst zum Gegen-
stande unserer Erkenntnis machen. Wäre aber
Mensch und Menschheit.
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das Erkennen eine bloß materielle Funktion des
Gehirns, dann wäre eine solche Reflexion über
uns selbst unmöglich. Denn jede materielle Funk-
tion erzielt immer eine Wirkung, die außer ihr
gelegen ist, kann aber niemals direkt in sich reflek-
tieren. Gerade die Tatsache also, daß wir ein
Selbstbewußtsein haben, beweist, daß das Denken
eine immaterielle, überorganische Tätigkeit ist, für
die wir also ein immaterielles, geistiges Prinzip
in uns annehmen müssen. Zudem gewährleistet
uns das Selbstbewußtsein unsere fortwährende
persönliche Identität. Wir sind uns bewußt, daß
wir jetzt ganz dieselbe herson sind, die wir ehe-
dem gewesen, und daß in Bezug auf unsere Per-
sönlichkeit als solche nie die mindeste Anderung
eintritt. Nun steht es aber physiologisch fest, daß
unser Leib in steter substantieller Veränderung
begriffen ist, so daß er seinen materiellen Bestand-
teilen nach durchaus nicht mehr derselbe ist, der er
vor einiger Zeit gewesen. Wäre also der Mensch
nichts weiter als ein materielles Wesen, so könnte
von einer persönlichen Identität gar nicht die
Rede, das Bewußtsein von unserer persönlichen
Identität daher gar nicht vorhanden sein. Die
persönliche Identität, wie sie uns durch unser
Selbstbewußtsein gewährleistet ist, kann also ihren
Grund nur darin haben, daß in uns ein höheres
Prinzip lebt, welches einer substantiellen Ver-
änderung nicht fähig ist, daher bei aller Ver-
änderung des Leibes dasselbe bleibt. Ein solches
Prinzip ist aber eine einfache, immaterielle und
geistige Substanz.
4. Die Vorzüge des Menschen. Dar-
auf, daß der Mensch nicht ein rein materielles
Wesen ist, sondern daß in ihm ein Geist, ver-
schieden vom Leibe, lebt, beruhen die hohen Vor-
züge, welche der Mensch vor dem Tiere voraus
hat. Der erste ist die religiöse Anlage. Der
Mensch kann zur Erkenntnis Gottes, des Ur-
grundes aller Dinge, sich erheben und zu ihm in
ein religiöses Verhältnis treten, ihn lieben, ver-
ehren und anbeten. Mag auch die materialistische
Doktrin die Religion für eine Schimäre halten,
so viel ist sicher, daß eine religiöse Anlage im
Menschen unerklärlich wäre, wenn seine Natur
eine rein tierische wäre. — Ein fernerer Vorzug
ist die sittliche Anlage des Menschen. Alle
Wesen dieser sichtbaren Welt sind beherrscht durch
Gesetze der Natur. Das Tier folgt seinem In-
stinkt, durch den all seine Tätigkeit ein für allemal
und unabänderlich geregelt ist. Im Menschen da-
gegen kündigt sich ein Gesetz an, welches sittliche
Forderungen an ihn stellt; nicht das Naturgesetz,
sondern das sittliche Gesetz nimmt das Recht für
sich in Anspruch, ihn in seinem Tun und Lassen
zu leiten. Diese sittliche Anlage wäre wiederum
eine ganz unerklärbare Erscheinung, wenn der
Mensch mit dem Tiere dem Wesen nach auf
gleicher Linie stünde; denn dann müßte auch seine
Tätigkeit ausschließlich auf die durch den In-
stinkt geregelte Befriedigung seiner Sinnlichkeit