Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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gerichtet sein, während doch das in seinem Innern 
sich ankündigende sittliche Gesetz ihn verpflichtet, 
nicht willenlos der Sinnlichkeit sich hinzugeben, 
sondern sie mit starker Hand unter das Macht- 
gebot der Vernunft zu beugen. Nur unter der 
Voraussetzung, daß der Mensch nicht ein Tier ist, 
sondern durch ein höheres, geistiges Prinzip, das 
in ihm lebt, über die Tierheit sich erhebt, läßt sich 
dieser hohe Vorzug des Menschen, der in der 
sittlichen Anlage gegeben ist, erklären. — Ein 
weiterer Vorzug des Menschen vor dem Tiere ist 
die Sprache. Kein Tier spricht. Es kann zwar 
gewisse Naturlaute ausstoßen, mit denen es seinen 
Empfindungen Ausdruck zu verleihen vermag, 
und die in andern Tieren, welche sie hören, ent- 
sprechende Empfindungen hervorrufen können; 
aber einer artikulierten Sprache ist das Tier nicht 
fähig. Denn die Sprache ist Ausdruck des Ge- 
dankens; sie setzt also die Vernunft und das 
Denken wesentlich voraus. — Zu den Vorzügen 
des Menschen gehört ferner seine unbegrenzte 
Vervollkommnungsfähigkeit. Das Tier 
bleibt unverrückt auf derjenigen Stufe der Voll- 
kommenheit stehen, auf welche die Natur es gestellt 
hat; es lernt nicht wie der Mensch. Zwar können 
manche Tiere durch die Geschicklichkeit und Sorg- 
falt des Menschen oder dadurch, daß sie mit dem 
Menschen in andauernde Berührung kommen, ge- 
zähmt, abgerichtet und dressiert werden; aber so- 
bald der Mensch sich von ihnen zurückzieht, fallen 
sie bald in ihren ehemaligen Zustand zurück und 
„verlernen“ wieder alles, was ihnen vorher äußer- 
lich beigebracht worden. Aus und durch sich selbst 
vervollkommnet sich das Tier nur innerhalb sehr 
enger Grenzen der sinnlichen Erfahrung. Seine 
Kunstfertigkeit bleibt, wenn es sich allein über- 
lassen ist, stets auf dem gleichen Niveau. Die 
Bienen z. B. haben von jeher ihre Waben gebaut, 
wie sie selbe jetzt bauen, und keine Biene bringt 
es dahin, sie besser zu bauen als die andere. Der 
Mensch dagegen ist vervollkommnungsfähig in 
jeder Beziehung. Diese Vervollkommnungsfähig- 
keit ist begründet in seiner Natur; der Mensch 
vervollkommnet sich von innen heraus, nicht etwa 
durch bloße äußere Zwangsanwendung. Es liegt 
in ihm auch ein natürlicher Drang, sich nach den 
verschiedenen Beziehungen seiner Tätigkeit hin 
immer mehr zu vervollkommnen. 
5. Die Einheit der menschlichen Natur. 
Obgleich nun aber der Mensch aus Leib und 
Geist besteht, so ist er doch eine durchaus einheit- 
liche Natur, d. h. aus der Verbindung von Leib 
und Seele entsteht eine einheitliche (dritte) Natur, 
die als solche wesentlich verschieden ist von ihren 
beiden Bestandteilen, beide für sich betrachtet. 
Diese Einheit der menschlichen Natur zeigt sich 
schon in dem Selbstbewußtsein oder vielmehr in 
dem wesentlichen Charakter des Ich-Gedankens. 
Wenn wir sagen „Ich“, so verstehen wir darunter 
nicht bloß unsere Seele, auch nicht bloß unsern 
Leib, sondern wir begreifen unter diesem Ich beide, 
Mensch und Menschheit. 
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Seele und Leib, und zwar nicht etwa als vonein- 
ander gesonderte, miteinander nur in äußerer Ver- 
bindung stehende Dinge, sondern wir fassen sie als 
eine ungetrennte Einheit. Das wäre nicht mög- 
lich, wenn beide nicht wirklich zu einer einheitlichen 
Natur miteinander verbunden wären. 
Daher kann die Art und Weise, wie die Seele 
mit dem Leibe im Menschen vereinigt ist, nicht 
derart aufgefaßt werden, daß die Seele bloß im 
Leibe wohne, der Leib aber ein für sich seiendes 
und für sich lebendes Wesen sei. Denn wohnt 
die Seele bloß im Leibe, ist aber der Leib ein 
eigenlebendes Wesen, dann haben wir immer nur 
eine Synthese von Seele und Leib im Menschen, 
nie aber bilden sie miteinander eine einheitliche 
Natur. Eine einheitliche Natur ist nur unter der 
Bedingung gegeben, daß Leib und Seele zuein- 
ander in dem Verhältnis von Materie und Form 
stehen, d. h. der leibliche Organismus als Ma- 
terie, die intellektive Seele dagegen als substan- 
tielle oder Wesensform des Menschen betrachtet 
wird. Denn gerade darin besteht das Verhältnis 
zwischen Materie und Form, daß aus beiden eine 
einheitliche (dritte) Substanz resultiert, in welcher 
die Materie als Potentialität, die Form dagegen 
als Aktualität erscheint, die aber als solche etwas 
ganz anderes ist als Materie und Form, beide 
für sich genommen. Als substantielle Form ist die 
Seele das Prinzip aller Lebenstätigkeiten im 
Menschen, auch derjenigen, welche im Leibe und 
seinen Organen sich abwickeln. Denn von der 
Form geht in jedem Wesen in letzter Instanz alle 
Tätigkeit aus. Jedes Wesen ist tätig in Kraft 
seiner Wesensform und gemäß dieser Wesens- 
form. Der dreifache Lebenskreis im Menschen, 
der organisch leibliche, der animalische und der 
intellektive, wurzelt in der Seele als in dem einen 
Lebensprinzip; nur übt die Seele diese Lebens- 
tätigkeiten aus durch verschiedene Kräfte: die 
organisch leiblichen durch die vegetativen, die 
animalischen durch die sensitiven, und die intel- 
lektiven durch die intellektiven Kräfte. In solcher 
Weise ist der Mensch, obgleich aus Leib und Seele 
bestehend, doch ein durchaus einheitliches Wesen. 
Obgleich nun aber der Mensch ein einheitliches 
Wesen ist, das aus Leib und Seele besteht, so ist 
seine Existenz und sein Leben nach der geistigen 
Seite hin doch nicht auf diese irdische Zeitlichkeit 
beschränkt. Der Mensch ist seiner Seele nach in- 
korruptibel und unsterblich, und zwar von Natur 
aus. Korruptibel kann nämlich nur ein solches 
Wesen sein, das aus Materie und Form zusammen- 
gesetzt ist. Die Korruption besteht hier darin, daß 
ein solches Wesen seine substantielle Form verliert, 
infolgedessen seine materiellen Bestandteile aus 
ihrer durch die Form bedingten Verbindung sich 
lösen und in eine andere Form übergehen. Be- 
siteht dagegen ein Wesen nicht aus Materie und 
Form, ist es eine immaterielle, einfache Substanz, 
1 dann ist eine solche Korruption bei ihm undenkbar. 
Die menschliche Seele ist aber eine solche imma- 
  
 
	        
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