1075
gerichtet sein, während doch das in seinem Innern
sich ankündigende sittliche Gesetz ihn verpflichtet,
nicht willenlos der Sinnlichkeit sich hinzugeben,
sondern sie mit starker Hand unter das Macht-
gebot der Vernunft zu beugen. Nur unter der
Voraussetzung, daß der Mensch nicht ein Tier ist,
sondern durch ein höheres, geistiges Prinzip, das
in ihm lebt, über die Tierheit sich erhebt, läßt sich
dieser hohe Vorzug des Menschen, der in der
sittlichen Anlage gegeben ist, erklären. — Ein
weiterer Vorzug des Menschen vor dem Tiere ist
die Sprache. Kein Tier spricht. Es kann zwar
gewisse Naturlaute ausstoßen, mit denen es seinen
Empfindungen Ausdruck zu verleihen vermag,
und die in andern Tieren, welche sie hören, ent-
sprechende Empfindungen hervorrufen können;
aber einer artikulierten Sprache ist das Tier nicht
fähig. Denn die Sprache ist Ausdruck des Ge-
dankens; sie setzt also die Vernunft und das
Denken wesentlich voraus. — Zu den Vorzügen
des Menschen gehört ferner seine unbegrenzte
Vervollkommnungsfähigkeit. Das Tier
bleibt unverrückt auf derjenigen Stufe der Voll-
kommenheit stehen, auf welche die Natur es gestellt
hat; es lernt nicht wie der Mensch. Zwar können
manche Tiere durch die Geschicklichkeit und Sorg-
falt des Menschen oder dadurch, daß sie mit dem
Menschen in andauernde Berührung kommen, ge-
zähmt, abgerichtet und dressiert werden; aber so-
bald der Mensch sich von ihnen zurückzieht, fallen
sie bald in ihren ehemaligen Zustand zurück und
„verlernen“ wieder alles, was ihnen vorher äußer-
lich beigebracht worden. Aus und durch sich selbst
vervollkommnet sich das Tier nur innerhalb sehr
enger Grenzen der sinnlichen Erfahrung. Seine
Kunstfertigkeit bleibt, wenn es sich allein über-
lassen ist, stets auf dem gleichen Niveau. Die
Bienen z. B. haben von jeher ihre Waben gebaut,
wie sie selbe jetzt bauen, und keine Biene bringt
es dahin, sie besser zu bauen als die andere. Der
Mensch dagegen ist vervollkommnungsfähig in
jeder Beziehung. Diese Vervollkommnungsfähig-
keit ist begründet in seiner Natur; der Mensch
vervollkommnet sich von innen heraus, nicht etwa
durch bloße äußere Zwangsanwendung. Es liegt
in ihm auch ein natürlicher Drang, sich nach den
verschiedenen Beziehungen seiner Tätigkeit hin
immer mehr zu vervollkommnen.
5. Die Einheit der menschlichen Natur.
Obgleich nun aber der Mensch aus Leib und
Geist besteht, so ist er doch eine durchaus einheit-
liche Natur, d. h. aus der Verbindung von Leib
und Seele entsteht eine einheitliche (dritte) Natur,
die als solche wesentlich verschieden ist von ihren
beiden Bestandteilen, beide für sich betrachtet.
Diese Einheit der menschlichen Natur zeigt sich
schon in dem Selbstbewußtsein oder vielmehr in
dem wesentlichen Charakter des Ich-Gedankens.
Wenn wir sagen „Ich“, so verstehen wir darunter
nicht bloß unsere Seele, auch nicht bloß unsern
Leib, sondern wir begreifen unter diesem Ich beide,
Mensch und Menschheit.
1076
Seele und Leib, und zwar nicht etwa als vonein-
ander gesonderte, miteinander nur in äußerer Ver-
bindung stehende Dinge, sondern wir fassen sie als
eine ungetrennte Einheit. Das wäre nicht mög-
lich, wenn beide nicht wirklich zu einer einheitlichen
Natur miteinander verbunden wären.
Daher kann die Art und Weise, wie die Seele
mit dem Leibe im Menschen vereinigt ist, nicht
derart aufgefaßt werden, daß die Seele bloß im
Leibe wohne, der Leib aber ein für sich seiendes
und für sich lebendes Wesen sei. Denn wohnt
die Seele bloß im Leibe, ist aber der Leib ein
eigenlebendes Wesen, dann haben wir immer nur
eine Synthese von Seele und Leib im Menschen,
nie aber bilden sie miteinander eine einheitliche
Natur. Eine einheitliche Natur ist nur unter der
Bedingung gegeben, daß Leib und Seele zuein-
ander in dem Verhältnis von Materie und Form
stehen, d. h. der leibliche Organismus als Ma-
terie, die intellektive Seele dagegen als substan-
tielle oder Wesensform des Menschen betrachtet
wird. Denn gerade darin besteht das Verhältnis
zwischen Materie und Form, daß aus beiden eine
einheitliche (dritte) Substanz resultiert, in welcher
die Materie als Potentialität, die Form dagegen
als Aktualität erscheint, die aber als solche etwas
ganz anderes ist als Materie und Form, beide
für sich genommen. Als substantielle Form ist die
Seele das Prinzip aller Lebenstätigkeiten im
Menschen, auch derjenigen, welche im Leibe und
seinen Organen sich abwickeln. Denn von der
Form geht in jedem Wesen in letzter Instanz alle
Tätigkeit aus. Jedes Wesen ist tätig in Kraft
seiner Wesensform und gemäß dieser Wesens-
form. Der dreifache Lebenskreis im Menschen,
der organisch leibliche, der animalische und der
intellektive, wurzelt in der Seele als in dem einen
Lebensprinzip; nur übt die Seele diese Lebens-
tätigkeiten aus durch verschiedene Kräfte: die
organisch leiblichen durch die vegetativen, die
animalischen durch die sensitiven, und die intel-
lektiven durch die intellektiven Kräfte. In solcher
Weise ist der Mensch, obgleich aus Leib und Seele
bestehend, doch ein durchaus einheitliches Wesen.
Obgleich nun aber der Mensch ein einheitliches
Wesen ist, das aus Leib und Seele besteht, so ist
seine Existenz und sein Leben nach der geistigen
Seite hin doch nicht auf diese irdische Zeitlichkeit
beschränkt. Der Mensch ist seiner Seele nach in-
korruptibel und unsterblich, und zwar von Natur
aus. Korruptibel kann nämlich nur ein solches
Wesen sein, das aus Materie und Form zusammen-
gesetzt ist. Die Korruption besteht hier darin, daß
ein solches Wesen seine substantielle Form verliert,
infolgedessen seine materiellen Bestandteile aus
ihrer durch die Form bedingten Verbindung sich
lösen und in eine andere Form übergehen. Be-
siteht dagegen ein Wesen nicht aus Materie und
Form, ist es eine immaterielle, einfache Substanz,
1 dann ist eine solche Korruption bei ihm undenkbar.
Die menschliche Seele ist aber eine solche imma-