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unterwerfe, als wenn ich mit placet hätte
stimmen können."“
Als der Bischof vom Konzil heimkehrte, war
die Kriegsfurie entfesselt. Er widmete sich mit
großem Eifer der Pflege der Verwundeten und
nahm seine lange unterbrochenen Hirtengeschäfte
wieder auf. Schon in nächster Zeit aber nahm er
bei verschiedenen Gelegenheiten Anlaß, die Lehren
des Vatikanums ausführlich und entschieden zu
verteidigen und zu erklären.
Die ungewöhnliche geistige Arbeitskraft, welche
v. Ketteler durch eine strenge Tagesordnung in-
mitten seiner mannigfachen äußeren Verpflich-
tungen sich erhielt, offenbart sich in einer langen
Reihe von schriftstellerischen Arbeiten,
welche teils als Hirtenbriefe, Abdrücke von Pre-
digten, als Broschüren, Erklärungen und Zei-
tungsartikel, teils aber auch als größere Werke
erschienen (s. eine vollständige Zusammenstellung
bei Pfülf, Bischof v. Ketteler III 368 ffy.
Unter den größeren Arbeiten sind besonders fol-
gende zu bemerken: Die großen sozialen Fragen
der Gegenwart, sechs Predigten (1849); Das
Recht und der Rechtsschutz der katholischen Kirche
in Deutschland (1854); Soll die Kirche allein
rechtlos sein? (1861); Freiheit, Autorität und
Kirche, Erörterung der großen Probleme der
Gegenwart (1862); Die Arbeiterfrage und das
Christentum (1864); Das allgemeine Konzil und
seine Bedeutung für die Gegenwart (1869); Das
unfehlbare Lehramt des Papstes nach den Ent-
scheidungen des Vatikanischen Konzils (1871).
v. Kettelers Briefe und Predigten sind heraus-
gegeben worden von Raich (1878 f). [Eine Aus-
wahl: „Soziale Schriften des Frhr v. Ketteler“,
erschien 1908.] Seine literarische Tätigkeit be-
wegte sich auf den mannigfaltigsten Gebieten, ihr
Ziel war aber stets die Verteidigung der Kirche
und die Darlegung der Grundsätze des Christen-
tums, insbesondere in Beziehung auf die gesell-
schaftlichen Verhältnisse.
lEine gute Auswahl wichtiger Meinungsäuße-
rungen aus den verschiedensten seiner Schriften,
welche v. Ketteler als vorausschauenden, geradezu
führenden und vorbildlichen Geist für die nach
ihm kommende Zeit erscheinen lassen, hat später
Goyau veröffentlicht (G. Goyau, TKetteler
LLa Pensée Chrétienne. Textes et Etu-
des] Paris 1908) — ein Zeichen zugleich, in
wie hohem Maße seit v. Kettelers Tod seine gei-
stige Bedeutung im Ausland wie im Inland zur
Anerkennung gekommen ist. Bei der dreißig-
sten Wiederkehr seines Todestages ist daher
auch sein Name in der katholischen Presse all-
gemein und glänzender als je zu seinen Lebzeiten
gefeiert worden.)
Bahnbrechend und providentiell erscheint das
Eingreifen des Freiherrn v. Ketteler in die so-
ziale Bewegung, welche damals, in den ersten
Anfängen stehend, theoretisch durch Marx, agita-
torisch von Lassalle behandelt, in den von dem
Staatslexikon. III. 8. Aufl.
Ketteler.
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Manchestertum beherrschten Regierungskreisen aber
vollständig ignoriert ward. Freiherr v. Ketteler
war der erste, welcher in seiner Schrift „Die Ar-
beiterfrage und das Christentum“ (1864) die
Lohnverhältnisse der Arbeiter prüfte und die Not-
wendigkeit betonte, die Arbeit zu schützen und ge-
setzlich zu ordnen. Indem er den arbeitenden
Klassen ein Recht auf Schutz und Wahrung ihrer
Interessen zuerkannte, trat er ebenso entschieden
dem herzlosen Manchestertum entgegen wie den
unzulänglichen Vorschlägen der Selbsthilfe, mit
welchen Schulze-Delitzsch sich breit machte. Er
forderte eine Organisation der Arbeit nach den
Grundsätzen der Gerechtigkeit und der Menschen-
liebe auf dem Boden des Christentums. Zugleich
aber mahnte er mit überwältigender Energie die
Arbeiter an die große Wahrheit, daß die sozialen
Leiden teilweise eine Folge der Genußsucht und
der Unsittlichkeit seien, daß Frömmigkeit, Sitten-
reinheit, Sparsamkeit, Mäßigkeit und Fleiß das
Wohl des Arbeiters bedingen. Die letztere Seite
seines Eingreifens in die soziale Bewegung tritt
ganz besonders in der Ansprache hervor, die er
1869 an ca 10 000 Arbeiter bei einer Wallfahrt
auf der Liebfrauenheide hielt.
Die hohe Bedeutung v. Kettelers auf diesem
Gebiete ist in neuester Zeit in den weitesten
Kreisen anerkannt worden, und es sind eben da-
mit auch die Vorwürfe verstummt, welche gehässige
Gegner ihm machten, indem sie ihn als Agitator
oder als Staatssozialisten darstellten, v. Kettelers
Eingreifen in die soziale Bewegung war lediglich
geleitet und bestimmt durch seine christliche
Nächstenliebe und zugleich durch sein Verständnis
des Volkes. Er lebte für das Volk und in
dem Volk.
Wenn die Stellung v. Kettelers zu der sozialen
Frage vielfach mißverstanden wurde, so nicht
minder seine Stellung zu den politischen
Fragen. Er hatte denselben gegenüber zwei lei-
tende Grundsätze: 1) Wahrung der natürlichen
Freiheit und Selbständigkeit des Individuums,
der Familie und Gemeinde, und 2) Wahrung der
auf der Religion, dem Christentum und der Kirche
ruhenden Autoritäten. Die Staatsverfassung und
das dynastische Interesse waren ihm eine unter-
geordnete Sache. Daß er den Kleinstaaten Süd-
deutschlands keinen Geschmack abgewinnen konnte,
ist ebenso begreiflich, wie daß er die schweren
Schäden Osterreichs nicht billigte. Der habs-
burgischen Dynastie in Ehrfurcht zugetan, war er
doch durch seine ganze Erziehung und Entwick-
lung Preußen zugeneigt. Daher ist erklärlich,
daß er nach 1866 entschieden für die neuen Ver-
hältnisse eintrat und auf Preußen auch in kirch-
licher Beziehung große Hoffnungen setzte, welche
leider in dem Kulturkampf sich nicht bewährten.
Auf allen Gebieten seines Wirkens erscheint
v. Ketteler als ein fester Charakter und klarer
Geist, welcher, von den unverbrüchlichen Grund-
sätzen des Glaubens geleitet, für die tatsächlichen
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