Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

97 
unterwerfe, als wenn ich mit placet hätte 
stimmen können."“ 
Als der Bischof vom Konzil heimkehrte, war 
die Kriegsfurie entfesselt. Er widmete sich mit 
großem Eifer der Pflege der Verwundeten und 
nahm seine lange unterbrochenen Hirtengeschäfte 
wieder auf. Schon in nächster Zeit aber nahm er 
bei verschiedenen Gelegenheiten Anlaß, die Lehren 
des Vatikanums ausführlich und entschieden zu 
verteidigen und zu erklären. 
Die ungewöhnliche geistige Arbeitskraft, welche 
v. Ketteler durch eine strenge Tagesordnung in- 
mitten seiner mannigfachen äußeren Verpflich- 
tungen sich erhielt, offenbart sich in einer langen 
Reihe von schriftstellerischen Arbeiten, 
welche teils als Hirtenbriefe, Abdrücke von Pre- 
digten, als Broschüren, Erklärungen und Zei- 
tungsartikel, teils aber auch als größere Werke 
erschienen (s. eine vollständige Zusammenstellung 
bei Pfülf, Bischof v. Ketteler III 368 ffy. 
Unter den größeren Arbeiten sind besonders fol- 
gende zu bemerken: Die großen sozialen Fragen 
der Gegenwart, sechs Predigten (1849); Das 
Recht und der Rechtsschutz der katholischen Kirche 
in Deutschland (1854); Soll die Kirche allein 
rechtlos sein? (1861); Freiheit, Autorität und 
Kirche, Erörterung der großen Probleme der 
Gegenwart (1862); Die Arbeiterfrage und das 
Christentum (1864); Das allgemeine Konzil und 
seine Bedeutung für die Gegenwart (1869); Das 
unfehlbare Lehramt des Papstes nach den Ent- 
scheidungen des Vatikanischen Konzils (1871). 
v. Kettelers Briefe und Predigten sind heraus- 
gegeben worden von Raich (1878 f). [Eine Aus- 
wahl: „Soziale Schriften des Frhr v. Ketteler“, 
erschien 1908.] Seine literarische Tätigkeit be- 
wegte sich auf den mannigfaltigsten Gebieten, ihr 
Ziel war aber stets die Verteidigung der Kirche 
und die Darlegung der Grundsätze des Christen- 
tums, insbesondere in Beziehung auf die gesell- 
schaftlichen Verhältnisse. 
lEine gute Auswahl wichtiger Meinungsäuße- 
rungen aus den verschiedensten seiner Schriften, 
welche v. Ketteler als vorausschauenden, geradezu 
führenden und vorbildlichen Geist für die nach 
ihm kommende Zeit erscheinen lassen, hat später 
Goyau veröffentlicht (G. Goyau, TKetteler 
LLa Pensée Chrétienne. Textes et Etu- 
des] Paris 1908) — ein Zeichen zugleich, in 
wie hohem Maße seit v. Kettelers Tod seine gei- 
stige Bedeutung im Ausland wie im Inland zur 
Anerkennung gekommen ist. Bei der dreißig- 
sten Wiederkehr seines Todestages ist daher 
auch sein Name in der katholischen Presse all- 
gemein und glänzender als je zu seinen Lebzeiten 
gefeiert worden.) 
Bahnbrechend und providentiell erscheint das 
Eingreifen des Freiherrn v. Ketteler in die so- 
ziale Bewegung, welche damals, in den ersten 
Anfängen stehend, theoretisch durch Marx, agita- 
torisch von Lassalle behandelt, in den von dem 
Staatslexikon. III. 8. Aufl. 
Ketteler. 
  
98 
Manchestertum beherrschten Regierungskreisen aber 
vollständig ignoriert ward. Freiherr v. Ketteler 
war der erste, welcher in seiner Schrift „Die Ar- 
beiterfrage und das Christentum“ (1864) die 
Lohnverhältnisse der Arbeiter prüfte und die Not- 
wendigkeit betonte, die Arbeit zu schützen und ge- 
setzlich zu ordnen. Indem er den arbeitenden 
Klassen ein Recht auf Schutz und Wahrung ihrer 
Interessen zuerkannte, trat er ebenso entschieden 
dem herzlosen Manchestertum entgegen wie den 
unzulänglichen Vorschlägen der Selbsthilfe, mit 
welchen Schulze-Delitzsch sich breit machte. Er 
forderte eine Organisation der Arbeit nach den 
Grundsätzen der Gerechtigkeit und der Menschen- 
liebe auf dem Boden des Christentums. Zugleich 
aber mahnte er mit überwältigender Energie die 
Arbeiter an die große Wahrheit, daß die sozialen 
Leiden teilweise eine Folge der Genußsucht und 
der Unsittlichkeit seien, daß Frömmigkeit, Sitten- 
reinheit, Sparsamkeit, Mäßigkeit und Fleiß das 
Wohl des Arbeiters bedingen. Die letztere Seite 
seines Eingreifens in die soziale Bewegung tritt 
ganz besonders in der Ansprache hervor, die er 
1869 an ca 10 000 Arbeiter bei einer Wallfahrt 
auf der Liebfrauenheide hielt. 
Die hohe Bedeutung v. Kettelers auf diesem 
Gebiete ist in neuester Zeit in den weitesten 
Kreisen anerkannt worden, und es sind eben da- 
mit auch die Vorwürfe verstummt, welche gehässige 
Gegner ihm machten, indem sie ihn als Agitator 
oder als Staatssozialisten darstellten, v. Kettelers 
Eingreifen in die soziale Bewegung war lediglich 
geleitet und bestimmt durch seine christliche 
Nächstenliebe und zugleich durch sein Verständnis 
des Volkes. Er lebte für das Volk und in 
dem Volk. 
Wenn die Stellung v. Kettelers zu der sozialen 
Frage vielfach mißverstanden wurde, so nicht 
minder seine Stellung zu den politischen 
Fragen. Er hatte denselben gegenüber zwei lei- 
tende Grundsätze: 1) Wahrung der natürlichen 
Freiheit und Selbständigkeit des Individuums, 
der Familie und Gemeinde, und 2) Wahrung der 
auf der Religion, dem Christentum und der Kirche 
ruhenden Autoritäten. Die Staatsverfassung und 
das dynastische Interesse waren ihm eine unter- 
geordnete Sache. Daß er den Kleinstaaten Süd- 
deutschlands keinen Geschmack abgewinnen konnte, 
ist ebenso begreiflich, wie daß er die schweren 
Schäden Osterreichs nicht billigte. Der habs- 
burgischen Dynastie in Ehrfurcht zugetan, war er 
doch durch seine ganze Erziehung und Entwick- 
lung Preußen zugeneigt. Daher ist erklärlich, 
daß er nach 1866 entschieden für die neuen Ver- 
hältnisse eintrat und auf Preußen auch in kirch- 
licher Beziehung große Hoffnungen setzte, welche 
leider in dem Kulturkampf sich nicht bewährten. 
Auf allen Gebieten seines Wirkens erscheint 
v. Ketteler als ein fester Charakter und klarer 
Geist, welcher, von den unverbrüchlichen Grund- 
sätzen des Glaubens geleitet, für die tatsächlichen 
4 
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.