Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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kommt die große Übereinstimmung in den An- 
schauungen, Sitten und Gebräuchen zwischen 
beiden. Der orientalische Dualismus, die Sitte, 
die Toten in Kisten auf Bäumen oder besondern 
Gerüsten aufzustellen oder auch in sitzender Stel- 
lung zu begraben, das grausame Skalpieren usw. 
finden sich in Amerika wie in Asien. 
Ein vierter Einwurf gegen die Einheit des 
Menschengeschlechtes wird aus der Sintflut und 
der alleinigen Rettung Noes und seiner Familie 
in der Arche erhoben. Es ist unmöglich, sagt man, 
daß die vielen Millionen Menschen, welche jetzt 
auf der Erde leben, in der verhältnismäßig kurzen 
Zeit, die seit der Sintflut verflossen ist, von Noe 
und seinen Söhnen abstammen sollten. „Welche 
Wunder“, sagt Burmeister, „welche seltenen Fü- 
gungen des Schicksals gehörten dazu, um inner- 
halb eines Zeitraumes von 4000 Jahren (von Noe 
an gerechnet) 1000 Millionen Menschen (so viel 
Menschen leben gegenwärtig auf der Erde) von 
einem einzigen Punkte aus bevölkern zu lassen!“ 
„Selbst Mäuse und Kaninchen", meint Vogt, 
„müßten an einer ähnlichen Emporbringung ihrer 
Nachkommenschaft in so kurzer Zeit verzweifeln.“ 
Vogt hat leider übersehen, daß wenn 3 Menschen- 
paare in jeder Generation stets nur 4 Kinder pro 
Paar zeugen, die Zahl der Nachkommen schon in 
der 29. Generation, also in 779 Jahren, die erste 
Milliarde überschritten hat. Wie weit dann erst 
in 4000 Jahren! Ferner setzt der fragliche Ein- 
wand voraus, daß die Sintflut, welche Noe 
und seine Familie überlebten, allgemein gewesen sei, 
und zwar sowohl geographisch wie anthro- 
pologisch. Während früher allgemein die An- 
sicht vertreten war, die Sintflut habe sich über 
die ganze Erde erstreckt, so daß alle Tiere mit Aus- 
nahme derjenigen, welche in der Arche waren, zu- 
grunde gegangen seien, ward dieselbe infolge der 
sich erhebenden Schwierigkeiten immer mehr auf- 
gegeben. Gegen die geographische Allgemeinheit 
wurden besonders aus der Physik und Zoologie 
Einwände erhoben. Eine Überschwemmung der 
ganzen Erde bis weit über die Spitzen der höchsten 
Berge würde eine so ungeheure Wassermenge er- 
fordern, wie sie überhaupt nicht existiert. Wäre 
die Sintflut geographisch allgemein gewesen, so 
hätten ferner alle Tierarten in der Arche Unter- 
kunft und Nahrung finden müssen. Dazu reichte 
aber weder der Raum der Arche noch die Arbeits- 
kraft der acht in ihr lebenden Menschen aus; auch 
der Aufenthalt der Tiere der verschiedenen Zonen 
in der gleichen Temperatur der Arche sowie die Ver- 
breitung der Tiere über die ganze Erde vom Stand- 
orte der Arche aus bleibt bei der Annahme der 
geographischen Allgemeinheit unerklärlich. Dabei 
blieben viele Forscher noch stehen: sie nahmen 
zwar nicht die geographische Allgemeinheit der 
Sintflut an, lehrten aber, sie habe sich über alle 
von Menschen bewohnten Gebiete erstreckt, so daß 
das ganze Menschengeschlecht mit Ausnahme der 
Familie Noes in ihr zugrunde gegangen sei, 
Mensch und Menschheit. 
  
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d. h. sie lehrten die anthropologische All- 
gemeinheit. In den letzten Jahrzehnten ist aber 
unter den katholischen Exegeten ein lebhafter Streit 
entbrannt darüber, ob die Sintflut auch anthro- 
pologisch beschränkt gewesen sei, sich nicht über 
alles von Menschen bewohnte Gebiet erstreckt habe. 
Als Resultat der Untersuchungen kann bezeichnet 
werden, daß gegen die anthropologische Be- 
schränkung von der Theologie ein durchschlagender 
Beweis bis jetzt nicht erbracht ist, während ander- 
seits Ethnographie, Sprachwissenschaft und Pa- 
läontologie die Notwendigkeit der anthropologi- 
schen Beschränkung noch nicht erwiesen haben. 
Um diese Frage wissenschaftlich entscheiden zu 
können, müßten wir erstens wissen, welche Flut 
des geologischen Diluviums der Sintflut entspricht; 
zweitens wie weit diese Flut über die Erde sich 
erstreckte; drittens, wie weit die Erde damals von 
Menschen schon bewohnt war. 
7. Das Alter des Menschengeschlechtes. 
Darüber gibt die Heilige Schrift direkt keinen 
Aufschluß, sie sagt nur, daß der Mensch am Ende 
des Sechstagewerkes erschaffen worden sei. Die 
Wissenschaft kann hauptsächlich aus den in den 
Erdschichten sich findenden menschlichen Uberresten 
das Alter des Menschengeschlechtes bestimmen. 
Den Schwerpunkt bildet hier die Frage, ob das 
Menschengeschlecht bis in die geologische Tertüär= 
periode zurückreicht. Tatsächlich kennt die Paläon= 
tologie keinen Tertiärmenschen, sondern nur 
einen Quartärmenschen (Diluvialmenschen). 
Manche Forscher wollten allerdings aus gewissen 
Feuersteinstücken (Eolithen), denen sie eine Be- 
arbeitung durch Menschenhand zuschrieben, auf 
ein tertiäres Alter des Menschen schließen. Doch 
haben de Lapparent, Obermaier u. a. gezeigt, daß 
die Annahme einer tertiären Eolithenindustrie un- 
begründet ist. Sichere menschliche Werkzeuge treffen 
wir erst in der älteren Steinzeit (im Altpaläoli- 
thikum). Bei der Annahme von vier Eiszeiten der 
Diluvialperiode ist ihr Beginn nach Obermaier in 
die Zwischeneiszeit der dritten und vierten Eiszeit 
zu verlegen. In diese als Chelléo-Moustérien be- 
zeichnete Epoche fällt auch das erste Auftreten 
zweifelloser menschlicher Skelettreste, des sog. Ur- 
menschen (s. oben unter Nr 2, Sp. 1072). Eine 
absolute Altersbestimmung dieser Funde ist zur- 
zeit noch ganz unmöglich. Wahrscheinlich ist das 
erste Auftreten des Menschen erheblich über den 
früher angenommenen Termin (7. Jahrtausend v. 
Chr.) zurückzuverlegen. 
Literatur. Duilhé de Saint-Projet (Braig), 
Apologie des Christentums auf dem Boden der 
empirischen Forschung (1889); Gutberlet, Psycho- 
logie ((1904); ders., Der Mensch (21903); ders., 
Der Kampf um die Seele (21903); Güttler, Natur- 
sorschung u. Bibel (1877); Huber, Die Lehre Dar- 
wins kritisch beleuchtet (1871); Peschel, Völkerkunde 
(1897); Ouatrefages, L'espece humaine (Par. 
611886 deutsch 1878); Rauch, Die Einheit des 
Menschengeschlechtes (1873); Schanz, Apologie 
(3 Bde, 1903/06); derf., Das Alter des Menschen-
	        
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