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verkannt werden, daß ein weises Maß politischer
Freiheit und eine Verteilung der politischen Macht
unter verschiedene Gewaltträger, wie in konstitutio-
nellen Regierungssystemen, vielfach und besonders
unter den Verhältnissen, wie sie in der Gegen-
wart in den Ländern der europäischen Kultur
und Zivilisation vorwalten, das Wohl der Na-
tionen am besten und wirksamsten zu sichern ge-
eignet ist.
Aus den angeführten Tatsachen, welche dadurch
nicht entkräftet werden, daß die verschiedenen
Staats= und Gesellschaftsorganisationen sich viel-
fach auch als mangelhaft erwiesen, ergibt sich nun
der Schluß, daß die verschiedenen Menschenrechts-
theorien, welche seit dem 18. Jahrh. aufgetaucht sind,
mit der Wahrheit in Widerspruch stehen. Sie sollen
mehr zur theoretischen Rechtfertigung der gleichzei-
tigen politischen, gesellschaftlichen und religiösen
Umwälzungen dienen als zur Festigung dauern-
der Wahrheiten und Rechte. Schon im 16. Jahrh.
waren infolge der Kirchentrennung allerlei weit-
gehende Theorien über die Staatsgewalt in Um-
lauf gekommen. Die revolutionären Taten des
Bauernkrieges, die Greuel der Wiedertäufer-
herrschaft in Münster waren Anzeichen einer ganz
neuen Stimmung weiter Schichten der niederen
Bevölkerung in den Ländern, welche sich den
Grundsätzen der religiösen Neuerung zuwandten.
Wenn diese Stimmung in den deutschen Landen
unter dem harten Druck der von den Predigern
des Luthertums unterstützten protestantischen Po-
tentaten auch bald verschwand, so war in den
Gebieten, wo der in seinem System logischere
Kalvinismus starke Verbreitung fand oder sogar
die Oberhand behielt, das Gegenteil der Fall.
Der Widerstand gegen die mit dem Königtum ver-
bundene Episkopalkirche zeitigte die Theorie der sog.
Monarchomachen eines Buchanan, Milton usw.,
wonach die Summe der Gewalt dem Volke zusteht
und von diesem dem Herrscher übertragen wird.
Diese Theorie wurde dann von Locke mit den
Anschauungen über Naturrecht, wie sie Hobbes,
der extreme Absolutist, und der gewiß nicht revo-
lutionäre, aber auf dem Boden des Ursprungs
der Staatsgewalt durch die Übertragung seitens
des Volkes stehende Hugo Grotius vortrugen, zu
einem System verschmolzen. Aber immerhin hat
erst J. J. Rousseau, der unheilvolle pathetische
Demagoge, unter dem Eindrucke der vielen Übel-
stände, an denen die staatliche Gesellschaft des
18. Jahrh., besonders in Frankreich, krankte, und
angesichts der Privilegien eines die entsprechenden
Pflichten vielfach nicht mehr übenden Adels sowie
des schlimmen Gebrauchs, den viele Monarchen
von der absoluten Staatsgewalt machten, in seinem
Contrat social das Evangelium der Revolutionen
verkündet, nämlich eine höchst oberflächliche und
phantastische, von allen Tatsachen der historischen
Entwicklung absehende und mit dem Wesen des
Menschen und der menschlichen Gesellschaft in un-
lösbarem Widerspruch stehende Staatslehre.
Menschenrechte.
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In wunderbar klarer Weise hat Taine, welcher
der Herstellung der geschichtlichen Wahrheit gegen-
über der revolutionären Legende unsterbliche Dienste
geleistet, in seinem Ancien régime (261906),
dem ersten Teile der Origines de la France
contemporaine, nachgewiesen, wie sich das Über-
wuchern der revolutionären Ideen im 18. Jahrh.
aus dem Zusammenwirken zweier Entwicklungs-
phasen erklären läßt: Einerseits hatte der auf das
Elegante und Logische sich richtende, aber der Basis
gehöriger tatsächlicher Beobachtung entbehrende
esprit classique, wie er sich vom Hofe Lud-
wigs XIV. in Literatur und Kunst, später aber
auch in Philosophie über die gebildete europäische
Welt verbreitete, die Geister der richtigen Wür-
digung des historisch Gewordenen entwöhnt und
des Verständnisses für den unter allen Miß-
bräuchen noch vorhandenen gesunden, konserva-
tiven Kern in den öffentlichen Institutionen be-
raubt. Anderseits aber war der Aufschwung, den
die naturwissenschaftlichen Studien genommen
hatten, Anlaß zu einer förmlich materialistischen
Strömung in der gelehrten Welt geworden, welche
auch den sogar von Voltaire und Rousseau noch
nicht angetasteten Gottesglauben unterminierte.
So fand sich dann alles zur Aufnahme radikaler
Theorien vorbereitet, wie sie der beredte, feurige
Genfer Philosoph in die Welt schleuderte.
Rousseaus Lehre von der ursprünglichen Güte
der nur durch die verfehlte Erziehung verderbten
menschlichen Natur bildet die Grundlage der
wirklichkeitsfremden und vieldeutigen Lehre von
der Gleichheit und Freiheit der Menschen, wie sie
in den Erklärungen der Menschenrechte zum Aus-
druck kam. Nach den Grundsätzen, welche Rousseau
in seinem Systeme aufgestellt hat, kann es nicht
wundernehmen, daß er seine Staatslehre in dem
Satze zusammenfaßt: Die Souveränität ist beim
Volke, ist unvertilgbar, unteilbar, unvertretbar
und unbeschränkbar. Bevor aber diese Theorien
noch in Frankreich zu gesetzgeberischen Maximen
erhoben wurden, geschah dies in den jungen Ver-
einigten Staaten von Amerika, und zwar
merkwürdigerweise ohne daß vorerst die Institu-
tionen dieses Staatswesens den proklamierten
Prinzipien gemäß umgestaltet worden wären, wes-
halb denn auch die amerikanische Formulierung
der Menschenrechte weniger von sich reden gemacht
hat. Der letzte Ursprung dieser amerikanischen
Erklärungen liegt nämlich, wie die bis 1620
zurückgehenden Gründungeverträge der Einzel-
kolonien erweisen (vgl. G. Jellinek, Die Erklärung
der Menschen= und Bürgerrechte (219041; auch
A. Wahl, Zur Geschichte der Menschenrechte, in
Historische Zeitschrift CIII 1909) 79—85), im
religiösen Individualismus der ausgewanderten
protestantischen Sekten. Die konsequente Durch-
führung und abstrakt-allgemeingültige Formu-
lierung fanden sie aber erst unter dem Einfluß
französischer Revolutionsideen. Und es ist kein
Wunder, daß man in dem am 4. Juli 1776 vom