Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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verkannt werden, daß ein weises Maß politischer 
Freiheit und eine Verteilung der politischen Macht 
unter verschiedene Gewaltträger, wie in konstitutio- 
nellen Regierungssystemen, vielfach und besonders 
unter den Verhältnissen, wie sie in der Gegen- 
wart in den Ländern der europäischen Kultur 
und Zivilisation vorwalten, das Wohl der Na- 
tionen am besten und wirksamsten zu sichern ge- 
eignet ist. 
Aus den angeführten Tatsachen, welche dadurch 
nicht entkräftet werden, daß die verschiedenen 
Staats= und Gesellschaftsorganisationen sich viel- 
fach auch als mangelhaft erwiesen, ergibt sich nun 
der Schluß, daß die verschiedenen Menschenrechts- 
theorien, welche seit dem 18. Jahrh. aufgetaucht sind, 
mit der Wahrheit in Widerspruch stehen. Sie sollen 
mehr zur theoretischen Rechtfertigung der gleichzei- 
tigen politischen, gesellschaftlichen und religiösen 
Umwälzungen dienen als zur Festigung dauern- 
der Wahrheiten und Rechte. Schon im 16. Jahrh. 
waren infolge der Kirchentrennung allerlei weit- 
gehende Theorien über die Staatsgewalt in Um- 
lauf gekommen. Die revolutionären Taten des 
Bauernkrieges, die Greuel der Wiedertäufer- 
herrschaft in Münster waren Anzeichen einer ganz 
neuen Stimmung weiter Schichten der niederen 
Bevölkerung in den Ländern, welche sich den 
Grundsätzen der religiösen Neuerung zuwandten. 
Wenn diese Stimmung in den deutschen Landen 
unter dem harten Druck der von den Predigern 
des Luthertums unterstützten protestantischen Po- 
tentaten auch bald verschwand, so war in den 
Gebieten, wo der in seinem System logischere 
Kalvinismus starke Verbreitung fand oder sogar 
die Oberhand behielt, das Gegenteil der Fall. 
Der Widerstand gegen die mit dem Königtum ver- 
bundene Episkopalkirche zeitigte die Theorie der sog. 
Monarchomachen eines Buchanan, Milton usw., 
wonach die Summe der Gewalt dem Volke zusteht 
und von diesem dem Herrscher übertragen wird. 
Diese Theorie wurde dann von Locke mit den 
Anschauungen über Naturrecht, wie sie Hobbes, 
der extreme Absolutist, und der gewiß nicht revo- 
lutionäre, aber auf dem Boden des Ursprungs 
der Staatsgewalt durch die Übertragung seitens 
des Volkes stehende Hugo Grotius vortrugen, zu 
einem System verschmolzen. Aber immerhin hat 
erst J. J. Rousseau, der unheilvolle pathetische 
Demagoge, unter dem Eindrucke der vielen Übel- 
stände, an denen die staatliche Gesellschaft des 
18. Jahrh., besonders in Frankreich, krankte, und 
angesichts der Privilegien eines die entsprechenden 
Pflichten vielfach nicht mehr übenden Adels sowie 
des schlimmen Gebrauchs, den viele Monarchen 
von der absoluten Staatsgewalt machten, in seinem 
Contrat social das Evangelium der Revolutionen 
verkündet, nämlich eine höchst oberflächliche und 
phantastische, von allen Tatsachen der historischen 
Entwicklung absehende und mit dem Wesen des 
Menschen und der menschlichen Gesellschaft in un- 
lösbarem Widerspruch stehende Staatslehre. 
Menschenrechte. 
  
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In wunderbar klarer Weise hat Taine, welcher 
der Herstellung der geschichtlichen Wahrheit gegen- 
über der revolutionären Legende unsterbliche Dienste 
geleistet, in seinem Ancien régime (261906), 
dem ersten Teile der Origines de la France 
contemporaine, nachgewiesen, wie sich das Über- 
wuchern der revolutionären Ideen im 18. Jahrh. 
aus dem Zusammenwirken zweier Entwicklungs- 
phasen erklären läßt: Einerseits hatte der auf das 
Elegante und Logische sich richtende, aber der Basis 
gehöriger tatsächlicher Beobachtung entbehrende 
esprit classique, wie er sich vom Hofe Lud- 
wigs XIV. in Literatur und Kunst, später aber 
auch in Philosophie über die gebildete europäische 
Welt verbreitete, die Geister der richtigen Wür- 
digung des historisch Gewordenen entwöhnt und 
des Verständnisses für den unter allen Miß- 
bräuchen noch vorhandenen gesunden, konserva- 
tiven Kern in den öffentlichen Institutionen be- 
raubt. Anderseits aber war der Aufschwung, den 
die naturwissenschaftlichen Studien genommen 
hatten, Anlaß zu einer förmlich materialistischen 
Strömung in der gelehrten Welt geworden, welche 
auch den sogar von Voltaire und Rousseau noch 
nicht angetasteten Gottesglauben unterminierte. 
So fand sich dann alles zur Aufnahme radikaler 
Theorien vorbereitet, wie sie der beredte, feurige 
Genfer Philosoph in die Welt schleuderte. 
Rousseaus Lehre von der ursprünglichen Güte 
der nur durch die verfehlte Erziehung verderbten 
menschlichen Natur bildet die Grundlage der 
wirklichkeitsfremden und vieldeutigen Lehre von 
der Gleichheit und Freiheit der Menschen, wie sie 
in den Erklärungen der Menschenrechte zum Aus- 
druck kam. Nach den Grundsätzen, welche Rousseau 
in seinem Systeme aufgestellt hat, kann es nicht 
wundernehmen, daß er seine Staatslehre in dem 
Satze zusammenfaßt: Die Souveränität ist beim 
Volke, ist unvertilgbar, unteilbar, unvertretbar 
und unbeschränkbar. Bevor aber diese Theorien 
noch in Frankreich zu gesetzgeberischen Maximen 
erhoben wurden, geschah dies in den jungen Ver- 
einigten Staaten von Amerika, und zwar 
merkwürdigerweise ohne daß vorerst die Institu- 
tionen dieses Staatswesens den proklamierten 
Prinzipien gemäß umgestaltet worden wären, wes- 
halb denn auch die amerikanische Formulierung 
der Menschenrechte weniger von sich reden gemacht 
hat. Der letzte Ursprung dieser amerikanischen 
Erklärungen liegt nämlich, wie die bis 1620 
zurückgehenden Gründungeverträge der Einzel- 
kolonien erweisen (vgl. G. Jellinek, Die Erklärung 
der Menschen= und Bürgerrechte (219041; auch 
A. Wahl, Zur Geschichte der Menschenrechte, in 
Historische Zeitschrift CIII 1909) 79—85), im 
religiösen Individualismus der ausgewanderten 
protestantischen Sekten. Die konsequente Durch- 
führung und abstrakt-allgemeingültige Formu- 
lierung fanden sie aber erst unter dem Einfluß 
französischer Revolutionsideen. Und es ist kein 
Wunder, daß man in dem am 4. Juli 1776 vom
	        
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