Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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sache hätte wieder aufheben müssen. Aller Enthu- 
siasmus und der ganze abstrakte Phrasenschwall 
eines Rousseau und seiner Nachbeter vermochten 
die Tatsache nicht hinwegzuschaffen, daß es ver- 
schiedenklassige und verschiedenbegabte Menschen 
gibt, die durch keine Erziehung zu gleicher Höhe 
der Tüchtigkeit und Rechtsfähigkeit erhoben wer- 
den können. 
Der Art. 2 bezeichnet als „den Endzweck aller 
Staatsverbindung die Erhaltung der natürlichen, 
unverlierbaren Rechte des Menschen: Freiheit, 
Eigentum, Sicherheit und die Befugnis, sich der 
Unterdrückung zu widersetzen“. Welche Unbe- 
stimmtheit! Was ist unter Freiheit zu verstehen? 
Persönliche oder politische, und welcher Grad der 
letzteren? Und wie weit geht das Recht auf Schutz 
des Eigentums? Darf nie eine Expropriation 
stattfinden? Und ist von Eigentum und der- 
gleichen Rechten im engeren, technischen Sinne 
oder überhaupt von rechtmäßigem Vermögen und 
allen erworbenen Rechten die Rede? Was soll 
man aber erst von der „Befugnis, sich der Unter- 
drückung zu widersetzen“, sagen? Kann es etwas 
Ungehörigeres oder Unklugeres geben, als in eine 
Verfassung ein solches schrankenloses Recht des 
Widerstandes gegen die Obrigkeit aufzunehmen 
und der Nation dadurch offiziell die umstürzendsten 
Theorien einzuprägen? Mit welchen Kautelen 
haben jene, welche die bewaffnete Erhebung der 
Bevölkerung gegen die äußerste Tyrannei und 
schlimmsten Gewissensdruck vertraten, diese Theorie 
umgeben, und wie unsinnig ist es dagegen, die 
Massen auf die Existenz desselben aufmerksam zu 
machen, bevor noch der Fall eingetreten ist, in 
welchem es sich um die eventuelle Geltendmachung 
dieser so zweischneidigen Befugnis handelt! 
Es würde zu weit führen, hier alle die Sätze, 
welche in diesen Erklärungen der Menschenrechte 
niedergelegt sind, durchzugehen. Der Geist, in 
welchem dieselben abgefaßt wurden, und ihr 
wesentlicher Inhalt, der natürlich das Prinzip 
der Volkssouveränität allenthalben zum Ausdruck 
bringt, ist ja durch das im vorhergehenden Ge- 
sagte zur Genüge gekennzeichnet. Was von ge- 
sunden und lebensfähigen Prinzipien in diesen 
Erklärungen der Menschenrechte sich niedergelegt 
findet, ist allgemein in die Verfassungen der 
Rechtsstaaten der Jetztzeit übergegangen. Uberall 
herrscht in diesen Staaten das Prinzip der Gleich- 
heit vor dem Gesetze, der Zugänglichkeit der öffent- 
lichen Amter für alle die nötige Qualifikation zu 
denselben Aufweisenden, das Verbot der Kabinetts- 
justiz usw. Die feierlich proklamierten Fun- 
damentalrechte der besprochenen Deklarationen in 
der ihnen in diesen Urkunden gegebenen Aus- 
dehnung und Formulierung haben keinen dauern- 
den Bestand gehabt oder erweisen sich als praktisch 
Unwirksam. Schon in der französischen Ver- 
fassung vom Jahre VIII (vom 15. Nov. 1799) 
findet sich die Deklaration nicht mehr wiederholt, 
und in der abermaligen Verfassungsänderung 
Menschenrechte. 
  
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vom 13. Dez. 1800 wird dieselbe sogar als über- 
flüssig erklärt. Was hätte auch ein Bonaparte 
mit einem derartigen Wuste anfangen sollen? Und 
wie wenig in der dritten Republik den schön- 
klingenden Phrasen, die man sogar in der ethi- 
chen Jugenderziehung zur Grundlage nehmen 
will (ugl. z. B. Belot u. Bertrand, La Decla- 
ration des droits de Phomme et du citoyen. 
Livret d’éducation civique et social, Paris 
1901), die Praxis entspricht, das hat die neueste 
Kirchenverfolgung wieder bis zum Überdruß be- 
wiesen. 
Das Jahr 1848 mit seiner revolutionären Be- 
wegung weist auch für Deutschland viele Ana- 
logien mit dem allerdings weit furchtbareren 
Sturme auf, der in den 1790er Jahren Europa 
durchtobte. So geschah es denn, daß die kon- 
stituierende Nationalversammlung zu Frankfurt 
die sog. Grundrechte des deutschen Volkes be- 
schloß, welche am 21. Dez. 1848 vom Reichs- 
verweser, Erzherzog Johann, als Gesetz verkündet 
und sodann als Abschnitt IV in die Reichsverf. 
vom 28. März 1849 ausgenommen wurden. 
Auch in diesem Falle hatte aber eine Sturm= und 
Drangperiode ein unpraktisches und unhaltbares 
Machwerk geschaffen. Man nahm unter die 
Grundrechte nicht nur die in den meisten deutschen 
Ländern schon verfassungsmäßig garantierten 
wahren und nützlichen Urrechte (die Gleichheit 
vor dem Gesetze, den Grundsatz, daß niemand 
seinem gesetzlichen Richter entzogen werden dürfe, 
die gleiche verhältnismäßige Heranziehung aller 
zu den öffentlichen Lasten usw.) auf, sondern 
mischte auch sehr unzweckmäßig eine große Anzahl 
von Bestimmungen über Verhällnisse ein, welche 
nicht politischer Natur sind, sondern nur Ver- 
waltungsfragen betreffen, wie die Aufhebung der 
Jagdrechte usw. Sodann aber fand sich auch eine 
Anzahl ganz ungerechter Bestimmungen (wie die 
Aufhebung des Adels als Stand, der nicht mit 
einem Amte verbundenen Titel, der Fideikommisse; 
das Verbot, von einem auswärtigen Staate Orden 
anzunehmen usw.) den „Grundrechten“ beige- 
mengt, welche ein wohlverdientes Geschick ereilte, 
indem sie durch den deutschen Bundesbeschluß vom 
23. Aug. 1851 überall wieder außer Wirkung 
wurden. In die Verfassungen der meisten 
Bundesstaaten, wie in die preußische 
vom 31. Jan. 1850, ist ein sehr ver- 
und auf das vernünftige Maß be- 
Katalog von Grundrechten aufgenom- 
men, während die Reichsverfassung eines solchen 
entbehrt. „In Wahrheit ist aber im Deutschen 
Reiche das Maß öffentlicher Rechte des Indivi- 
duums viel größer als in den meisten Staaten mit 
verfassungsmäßig katalogisierten Grundrechten“ 
(Jellinek a. a. O.). Die praktische Bewahrung 
und Durchführung der echten und ewigen Men- 
schenrechte ist nicht sowohl von ihrer verfassungs- 
mäßigen Formulierung abhängig, als von der sie 
allein sichernden christlichen Grundgesinnung der 
— 
  
  
  
 
	        
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