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sache hätte wieder aufheben müssen. Aller Enthu-
siasmus und der ganze abstrakte Phrasenschwall
eines Rousseau und seiner Nachbeter vermochten
die Tatsache nicht hinwegzuschaffen, daß es ver-
schiedenklassige und verschiedenbegabte Menschen
gibt, die durch keine Erziehung zu gleicher Höhe
der Tüchtigkeit und Rechtsfähigkeit erhoben wer-
den können.
Der Art. 2 bezeichnet als „den Endzweck aller
Staatsverbindung die Erhaltung der natürlichen,
unverlierbaren Rechte des Menschen: Freiheit,
Eigentum, Sicherheit und die Befugnis, sich der
Unterdrückung zu widersetzen“. Welche Unbe-
stimmtheit! Was ist unter Freiheit zu verstehen?
Persönliche oder politische, und welcher Grad der
letzteren? Und wie weit geht das Recht auf Schutz
des Eigentums? Darf nie eine Expropriation
stattfinden? Und ist von Eigentum und der-
gleichen Rechten im engeren, technischen Sinne
oder überhaupt von rechtmäßigem Vermögen und
allen erworbenen Rechten die Rede? Was soll
man aber erst von der „Befugnis, sich der Unter-
drückung zu widersetzen“, sagen? Kann es etwas
Ungehörigeres oder Unklugeres geben, als in eine
Verfassung ein solches schrankenloses Recht des
Widerstandes gegen die Obrigkeit aufzunehmen
und der Nation dadurch offiziell die umstürzendsten
Theorien einzuprägen? Mit welchen Kautelen
haben jene, welche die bewaffnete Erhebung der
Bevölkerung gegen die äußerste Tyrannei und
schlimmsten Gewissensdruck vertraten, diese Theorie
umgeben, und wie unsinnig ist es dagegen, die
Massen auf die Existenz desselben aufmerksam zu
machen, bevor noch der Fall eingetreten ist, in
welchem es sich um die eventuelle Geltendmachung
dieser so zweischneidigen Befugnis handelt!
Es würde zu weit führen, hier alle die Sätze,
welche in diesen Erklärungen der Menschenrechte
niedergelegt sind, durchzugehen. Der Geist, in
welchem dieselben abgefaßt wurden, und ihr
wesentlicher Inhalt, der natürlich das Prinzip
der Volkssouveränität allenthalben zum Ausdruck
bringt, ist ja durch das im vorhergehenden Ge-
sagte zur Genüge gekennzeichnet. Was von ge-
sunden und lebensfähigen Prinzipien in diesen
Erklärungen der Menschenrechte sich niedergelegt
findet, ist allgemein in die Verfassungen der
Rechtsstaaten der Jetztzeit übergegangen. Uberall
herrscht in diesen Staaten das Prinzip der Gleich-
heit vor dem Gesetze, der Zugänglichkeit der öffent-
lichen Amter für alle die nötige Qualifikation zu
denselben Aufweisenden, das Verbot der Kabinetts-
justiz usw. Die feierlich proklamierten Fun-
damentalrechte der besprochenen Deklarationen in
der ihnen in diesen Urkunden gegebenen Aus-
dehnung und Formulierung haben keinen dauern-
den Bestand gehabt oder erweisen sich als praktisch
Unwirksam. Schon in der französischen Ver-
fassung vom Jahre VIII (vom 15. Nov. 1799)
findet sich die Deklaration nicht mehr wiederholt,
und in der abermaligen Verfassungsänderung
Menschenrechte.
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vom 13. Dez. 1800 wird dieselbe sogar als über-
flüssig erklärt. Was hätte auch ein Bonaparte
mit einem derartigen Wuste anfangen sollen? Und
wie wenig in der dritten Republik den schön-
klingenden Phrasen, die man sogar in der ethi-
chen Jugenderziehung zur Grundlage nehmen
will (ugl. z. B. Belot u. Bertrand, La Decla-
ration des droits de Phomme et du citoyen.
Livret d’éducation civique et social, Paris
1901), die Praxis entspricht, das hat die neueste
Kirchenverfolgung wieder bis zum Überdruß be-
wiesen.
Das Jahr 1848 mit seiner revolutionären Be-
wegung weist auch für Deutschland viele Ana-
logien mit dem allerdings weit furchtbareren
Sturme auf, der in den 1790er Jahren Europa
durchtobte. So geschah es denn, daß die kon-
stituierende Nationalversammlung zu Frankfurt
die sog. Grundrechte des deutschen Volkes be-
schloß, welche am 21. Dez. 1848 vom Reichs-
verweser, Erzherzog Johann, als Gesetz verkündet
und sodann als Abschnitt IV in die Reichsverf.
vom 28. März 1849 ausgenommen wurden.
Auch in diesem Falle hatte aber eine Sturm= und
Drangperiode ein unpraktisches und unhaltbares
Machwerk geschaffen. Man nahm unter die
Grundrechte nicht nur die in den meisten deutschen
Ländern schon verfassungsmäßig garantierten
wahren und nützlichen Urrechte (die Gleichheit
vor dem Gesetze, den Grundsatz, daß niemand
seinem gesetzlichen Richter entzogen werden dürfe,
die gleiche verhältnismäßige Heranziehung aller
zu den öffentlichen Lasten usw.) auf, sondern
mischte auch sehr unzweckmäßig eine große Anzahl
von Bestimmungen über Verhällnisse ein, welche
nicht politischer Natur sind, sondern nur Ver-
waltungsfragen betreffen, wie die Aufhebung der
Jagdrechte usw. Sodann aber fand sich auch eine
Anzahl ganz ungerechter Bestimmungen (wie die
Aufhebung des Adels als Stand, der nicht mit
einem Amte verbundenen Titel, der Fideikommisse;
das Verbot, von einem auswärtigen Staate Orden
anzunehmen usw.) den „Grundrechten“ beige-
mengt, welche ein wohlverdientes Geschick ereilte,
indem sie durch den deutschen Bundesbeschluß vom
23. Aug. 1851 überall wieder außer Wirkung
wurden. In die Verfassungen der meisten
Bundesstaaten, wie in die preußische
vom 31. Jan. 1850, ist ein sehr ver-
und auf das vernünftige Maß be-
Katalog von Grundrechten aufgenom-
men, während die Reichsverfassung eines solchen
entbehrt. „In Wahrheit ist aber im Deutschen
Reiche das Maß öffentlicher Rechte des Indivi-
duums viel größer als in den meisten Staaten mit
verfassungsmäßig katalogisierten Grundrechten“
(Jellinek a. a. O.). Die praktische Bewahrung
und Durchführung der echten und ewigen Men-
schenrechte ist nicht sowohl von ihrer verfassungs-
mäßigen Formulierung abhängig, als von der sie
allein sichernden christlichen Grundgesinnung der
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