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Völker Europas bedrückten, indem sie altrömische
Einrichtungen nachzuahmen und zu übertreffen
suchten.
Im Gegensatz dazu bietet Deutschland, nament-
lich Preußen, in seiner nationalen Erhebung gegen
die französische Fremdherrschaft und Knechtschaft
einen erfreulichen Anblick. Ein Volk in Waffen
sehen wir, welches das unwürdige Joch des Aus-
landes abwirft, für seine Rechte und seinen Besitz-
stand kämpft und seine Freiheit von fremder Herr-
schaft erringt. Das erregt Bewunderung und ver-
dient Nachahmung, weil die allgemeine Not des
Ausnahmezustandes die Anspannung aller Volks-
kräfte zugunsten des einen kriegerischen Zweckes,
des Befreiungskampfes, notwendig erscheinen
läßt. Nur in der Freiheit und Selbständigkeit
vermag der Staat seinen hohen Aufgaben gerecht
zu werden, ja sie sind geradezu Vorbedingungen
für den Erfolg seines Wirkens. Deshalb dürfen,
ja sollen um ihretwillen andere Seiten seiner
Tätigkeit zurückgesetzt werden. Allein das Volk in
Waffen vergrößerte die Staatsgewalt und brachte
die Versuchung, die erhöhte Macht auch für die
Zukunft zu sichern. Dazu kam die moderne pan-
theistische Auffassung von Staat und Staatszweck,
welche den Staat zum Selbstzweck und zum un-
beschränkten Schöpfer der Rechtsordnung macht.
Mag nun die neue Richtung den Staat mit Hegel
als den präsenten Gott, mit Stahl als die sitt-
liche Welt schlechthin, mit den meisten neueren
Rechtslehrern als nationalen Kulturstaat, mit
andern als Rechtsstaat oder mit Ahrens als Kul-
tur-Humanitäts-Rechtsstaat betrachten: immer gilt
ihr der Staat als einzige Rechtsquelle; ein Natur-
gesetz und ein darauf gegründetes Naturrecht als
Wurzel der mernschlichen Gesetzgebung ist ihr un-
bekannt; immer geht sie von der Voraussetzung
aus, daß der Staat kein Mittel oder wenigstens
kein ausschließliches Mittel zur Wohlfahrt seiner
Glieder sei, sondern darüber hinaus in sich selbst
seinen Zweck habe, das Staatswohl, welches ge-
funden wird „in einer immer größeren Macht-
entfaltung, einer immer reicheren gesellschaftlichen
Organisation, einer immer weiter gehenden Be-
herrschung des individuellen Lebens durch die Ge-
samtheit“, also wesentlich verschieden ist von der
oben gegebenen Erklärung der Salus oder pro-
speritas publica. Diese Auffassung, daß der
Mensch um des Staates willen da sei, war der
Neugestaltung des nationalen Militarismus
förderlich. Es ist sicher kein zufälliges Zusammen-
treffen, daß von Preußen, das den Zusammen-
bruch des königlichen Militarismus und die
Morgenröte nationaler Erhebung schaute, einer-
seits die neue Richtung der Philosophie und
Rechtslehre, anderseits die Schöpfung und Pflege
des neuen Mililarismus ausging. Die Durch-
bildung des ganzen Volkes für den Krieg schwebte
Machthabern und Gesetzgebern als letztes Ziel
aller Maßnahmen vor, und jede Reform aller
Reorganisation des Heeres brachte sie diesem Ziele
Militarismus.
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näher, von dessen Erreichung sie heutzutage nicht
mehr weit entfernt sind.
Die Steigerung der militärischen Rüstungen
eines Staates zwingt die andern Staaten, auch
ihre Rüstungen zu verstärken, um gegen die ihrem
Gebiet, ihrer wirtschaftlichen Entwicklung und
ihrer Unabhängigkeit drohenden Gefahren ge-
sichert zu sein. Mit dem wachsenden Weltverkehr
entsteht daher aus dem Rüstungswettlauf der be-
teiligten Staaten ein internationaler Mili-
tarismus, dessen treibender Gedanke das Streben
nach Weltherrschaft ist. Der Weg zur Weltherr=
schaft ist die See, das Werkzeug hierzu die See-
macht. Die neueste Phase der Fortentwicklung
des Militarismus ist deshalb durch den imperia-
listischen Zug der Weltpolitik und durch die maß-
lose Verstärkung der Kriegsflotten gekennzeichnet.
Die Vernichtung der spanischen Flotte durch die
Amerikaner beleuchtet grell die gegenwärtige Lage
eines ungenügend gerüsteten Staates.
II. Der Militarismus der Gegenwart wird
am besten aus dem Stand des Militärwesens in
den heutigen Großmächten erkannt. Von den klei-
neren Staaten, die übrigens auch ihr Militär nach
Kräften zu verstärken suchen, kann hier abgesehen
werden.
1. Über die Ausnützung der Volkskraft zu
militärischen Zwecken gibt der Veltzesche Armee-
almanach für 1907 folgende Heer und Marine
umfassende Zahlen, bei welchen dem budgetären
Friedenspräsenzstand der maximale Kriegsstand,
d. h. die Zahl der ausgebildeten dienstpflichtigen
Leute gegenübergestellt wird:
Friedens- .
präfenzstand Kriegsstand
in Pro- in Pro-
Etaat 1 absolut zenten absolut zenten
in Tau= der in Tau= der
seenden Bevöl-senden Bevöl=
kerung kerung
Deutsches Reich 614 1.0 4350 7.25
ÖOsterreich-Ungarn 385 08 3700 7,00
Italien 254 0,8 2500 7,50
Frankreich 563 1.4 5500 11,00
Großbritannien 278 0.6 720 1,70
Ru .... 1414 0.7 5000 3,.50
Japan (1904) 220 04 800 bis 1·.80 bis
1000 2,00
Vereinigte Staalen x
von Amerika. 60 0,008 250 0)35
Diese Statistik gibt aber ein unvollkommenes
Bild von der Ausnützung der Volkskraft zu mili-
tärischen Zwecken, da hier die Zahl der Dienst-
pflichtigen nur mit der Gesamtzahl der Bevölke-
rung verglichen wird, während sich die Vergleichung
eigentlich beschränken sollte auf die in voller Ar-
beitskraft stehenden Männer. Dazu kommt, daß
die Großmächte namentlich seit dem deutsch-fran-
zösischen Krieg von 1870/71 die Zahl ihrer
Truppen beständig vermehrt haben und immer
noch vermehren. Sieht man von den Männern
ab, welche wegen ihres Alters oder körperlichen
Zustandes den Anforderungen des Waffendienstes
nicht gewachsen sind oder durch Begehung von