Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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Völker Europas bedrückten, indem sie altrömische 
Einrichtungen nachzuahmen und zu übertreffen 
suchten. 
Im Gegensatz dazu bietet Deutschland, nament- 
lich Preußen, in seiner nationalen Erhebung gegen 
die französische Fremdherrschaft und Knechtschaft 
einen erfreulichen Anblick. Ein Volk in Waffen 
sehen wir, welches das unwürdige Joch des Aus- 
landes abwirft, für seine Rechte und seinen Besitz- 
stand kämpft und seine Freiheit von fremder Herr- 
schaft erringt. Das erregt Bewunderung und ver- 
dient Nachahmung, weil die allgemeine Not des 
Ausnahmezustandes die Anspannung aller Volks- 
kräfte zugunsten des einen kriegerischen Zweckes, 
des Befreiungskampfes, notwendig erscheinen 
läßt. Nur in der Freiheit und Selbständigkeit 
vermag der Staat seinen hohen Aufgaben gerecht 
zu werden, ja sie sind geradezu Vorbedingungen 
für den Erfolg seines Wirkens. Deshalb dürfen, 
ja sollen um ihretwillen andere Seiten seiner 
Tätigkeit zurückgesetzt werden. Allein das Volk in 
Waffen vergrößerte die Staatsgewalt und brachte 
die Versuchung, die erhöhte Macht auch für die 
Zukunft zu sichern. Dazu kam die moderne pan- 
theistische Auffassung von Staat und Staatszweck, 
welche den Staat zum Selbstzweck und zum un- 
beschränkten Schöpfer der Rechtsordnung macht. 
Mag nun die neue Richtung den Staat mit Hegel 
als den präsenten Gott, mit Stahl als die sitt- 
liche Welt schlechthin, mit den meisten neueren 
Rechtslehrern als nationalen Kulturstaat, mit 
andern als Rechtsstaat oder mit Ahrens als Kul- 
tur-Humanitäts-Rechtsstaat betrachten: immer gilt 
ihr der Staat als einzige Rechtsquelle; ein Natur- 
gesetz und ein darauf gegründetes Naturrecht als 
Wurzel der mernschlichen Gesetzgebung ist ihr un- 
bekannt; immer geht sie von der Voraussetzung 
aus, daß der Staat kein Mittel oder wenigstens 
kein ausschließliches Mittel zur Wohlfahrt seiner 
Glieder sei, sondern darüber hinaus in sich selbst 
seinen Zweck habe, das Staatswohl, welches ge- 
funden wird „in einer immer größeren Macht- 
entfaltung, einer immer reicheren gesellschaftlichen 
Organisation, einer immer weiter gehenden Be- 
herrschung des individuellen Lebens durch die Ge- 
samtheit“, also wesentlich verschieden ist von der 
oben gegebenen Erklärung der Salus oder pro- 
speritas publica. Diese Auffassung, daß der 
Mensch um des Staates willen da sei, war der 
Neugestaltung des nationalen Militarismus 
förderlich. Es ist sicher kein zufälliges Zusammen- 
treffen, daß von Preußen, das den Zusammen- 
bruch des königlichen Militarismus und die 
Morgenröte nationaler Erhebung schaute, einer- 
seits die neue Richtung der Philosophie und 
Rechtslehre, anderseits die Schöpfung und Pflege 
des neuen Mililarismus ausging. Die Durch- 
bildung des ganzen Volkes für den Krieg schwebte 
Machthabern und Gesetzgebern als letztes Ziel 
aller Maßnahmen vor, und jede Reform aller 
Reorganisation des Heeres brachte sie diesem Ziele 
Militarismus. 
  
  
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näher, von dessen Erreichung sie heutzutage nicht 
mehr weit entfernt sind. 
Die Steigerung der militärischen Rüstungen 
eines Staates zwingt die andern Staaten, auch 
ihre Rüstungen zu verstärken, um gegen die ihrem 
Gebiet, ihrer wirtschaftlichen Entwicklung und 
ihrer Unabhängigkeit drohenden Gefahren ge- 
sichert zu sein. Mit dem wachsenden Weltverkehr 
entsteht daher aus dem Rüstungswettlauf der be- 
teiligten Staaten ein internationaler Mili- 
tarismus, dessen treibender Gedanke das Streben 
nach Weltherrschaft ist. Der Weg zur Weltherr= 
schaft ist die See, das Werkzeug hierzu die See- 
macht. Die neueste Phase der Fortentwicklung 
des Militarismus ist deshalb durch den imperia- 
listischen Zug der Weltpolitik und durch die maß- 
lose Verstärkung der Kriegsflotten gekennzeichnet. 
Die Vernichtung der spanischen Flotte durch die 
Amerikaner beleuchtet grell die gegenwärtige Lage 
eines ungenügend gerüsteten Staates. 
II. Der Militarismus der Gegenwart wird 
am besten aus dem Stand des Militärwesens in 
den heutigen Großmächten erkannt. Von den klei- 
neren Staaten, die übrigens auch ihr Militär nach 
Kräften zu verstärken suchen, kann hier abgesehen 
werden. 
1. Über die Ausnützung der Volkskraft zu 
militärischen Zwecken gibt der Veltzesche Armee- 
almanach für 1907 folgende Heer und Marine 
umfassende Zahlen, bei welchen dem budgetären 
Friedenspräsenzstand der maximale Kriegsstand, 
d. h. die Zahl der ausgebildeten dienstpflichtigen 
Leute gegenübergestellt wird: 
  
  
  
  
  
  
  
Friedens- . 
präfenzstand Kriegsstand 
in Pro- in Pro- 
Etaat 1 absolut zenten absolut zenten 
in Tau= der in Tau= der 
seenden Bevöl-senden Bevöl= 
kerung kerung 
Deutsches Reich 614 1.0 4350 7.25 
ÖOsterreich-Ungarn 385 08 3700 7,00 
Italien 254 0,8 2500 7,50 
Frankreich 563 1.4 5500 11,00 
Großbritannien 278 0.6 720 1,70 
Ru .... 1414 0.7 5000 3,.50 
Japan (1904) 220 04 800 bis 1·.80 bis 
1000 2,00 
Vereinigte Staalen x 
von Amerika. 60 0,008 250 0)35 
Diese Statistik gibt aber ein unvollkommenes 
Bild von der Ausnützung der Volkskraft zu mili- 
tärischen Zwecken, da hier die Zahl der Dienst- 
pflichtigen nur mit der Gesamtzahl der Bevölke- 
rung verglichen wird, während sich die Vergleichung 
eigentlich beschränken sollte auf die in voller Ar- 
beitskraft stehenden Männer. Dazu kommt, daß 
die Großmächte namentlich seit dem deutsch-fran- 
zösischen Krieg von 1870/71 die Zahl ihrer 
Truppen beständig vermehrt haben und immer 
noch vermehren. Sieht man von den Männern 
ab, welche wegen ihres Alters oder körperlichen 
Zustandes den Anforderungen des Waffendienstes 
nicht gewachsen sind oder durch Begehung von
	        
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