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Stadt einen Herd zu gründen oder ohne solchen
weniger mühevollen Verdienst zu suchen. Männ-
liche und weibliche Dienstboten, jüngere Söhne
und Töchter folgen ihrem Beispiele und verlassen
gern das heimatliche Dorf, indem sie in der Stadt
leichteren Erwerb, zwangloseren Genuß, Bequem-
lichkeit des Lebens erwarten. Daher wachsen die
Städte riesig an, das Land aber zeigt selten Meh-
rung, vielfach Rückgang der Bevölkerung.
Die Dienstbotenfrage ist für den Bauern ver-
hängnisvoll geworden. Er muß nicht nur der
militärdienstpflichtigen Söhne bei der Arbeit ent-
behren, er findet auch keinen oder nur minder-
wertigen Ersatz für sie. Es ist allgemeine Klage
der Bauern, daß sie die Mühen ihres Berufes
und die Sorge für Haus und Hofs, für Vieh und
Habe mit halbwüchsigen Burschen teilen müssen,
da gediente Leute auf dem Lande nicht oft zu
finden seien. In der Tat gibt es in der Land-
wirtschaft nur wenig ältere, zuverlässige Knechte.
Die Mehrzahl der Gedienten verschlingt das
Wachstum der Stadt. Da die Arbeiter vom
Lande in der Regel keine gewerbliche Vorschulung
besitzen, sind sie vorzüglich auf den Verdienst als
Handlanger und Taglöhner, zumeist in Fabriken
und bei öffentlichen Arbeiten angewiesen. Sie
liefern überzählige Arme und drücken auf die Löhne.
b) Die technisch geschulten Arbeiter werden unter
die Waffen gerufen, wenn sie ihre Vorschulung
kaum beendet und die Praxis nötig haben, um
dauernde Fertigkeit zu erwerben. Jahrelang stehen
sie ihrem Berufe fern; statt sich zu vervollkommnen,
gehen sie zurück und vermögen den Verlust an
Geschicklichkeit in späteren Jahren nicht mehr ganz
nachzuholen. Diese Schädigung wird noch schwerer,
da die späteren Einberufungen Reservisten und
Landwehrmänner wiederholt auf längere Zeit
ihrem friedlichen Berufe entziehen. Sehr schlimm
ist der kleine Handwerker daran. Infolge einer
Gesetzgebung, welche ihn der freien Konkurrenz des
übermächtigen Kapitals preisgibt, vermag er nur
durch Anspannung aller Kräfte und Mithilfe der
Seinigen seine Werkstätte zu erhalten. Nun ge-
hören seine Söhne vom 20. Jahre an dem Staate,
und er selbst muß beim Ausbruch eines Krieges
dem Rufe des Vaterlandes folgen.
3. Die gewaltigen Militärausgaben kommen
vorzugsweise dem großen Kapital, vor allem
der Großindastrie und dem Großhandel zugute.
Die Lieferungen von Kleidung und Nahrung, die
Bauten von Kasernen, Militärspitälern, Zeug-
häusern, Kriegswerkstätten, Festungen und Kriegs-
häfen, die Anfertigung der gesamten Kriegsaus-
rüstung, insbesondere der Waffen jeglicher Gat-
tung, vom kleinen Revolver bis zur Kruppschen
Riesenkanone, die Gestellung von Fahrzeugen und
Rossen werden Großunternehmern übertragen. Die
regelmäßigen Einnahmen vermögen die über-
mäßigen Heereskosten nicht zu decken, so daß fast
alljährlich kleinere oder größere Anlehen gemacht
werden müssen. An ihnen verdient wieder nur das
Militarismus.
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Großkapital, welches die Schuldpapiere mit Ge-
winn absetzt, und die kleinen Sparer müssen teurer
kaufen, um zu ihrem Zins zu kommen. Im Kriegs-
falle erhöht sich der Gewinn der Reichen zu ge-
waltigen Summen. Die Last der Abgaben und
Steuern wie der persönlichen Dienstpflicht aber
drückt vorzugsweise auf den mittleren und kleineren
Mann, der von den reichen Absatz= und Einnahme-
quellen, welche der Militarismus großenteils auf
seine Kosten eröffnet, so gut wie ausgeschlossen
bleibt. So wird der Militarismus zum mächtigen
Förderer des Kapitalismus auf Kosten des
Mittelstandes, den die Hauptlast des Militaris-=
mus trifft. "
4. Der Militarismus ist ferner kein glücklicher
Gegner des Sozialismus; die Kaserne ist
vielmehr sein bester Nährboden. Der harmlose
Sohn und Knecht des Landmannes tritt in enge
Kameradschaft mit dem Arbeiter, der in der Fa-
brikluft der Städte die neuen Lehren eingesogen
hat und von Begierde brennt, ihr Anhänger zu
gewinnen. Nur zu leicht fällt ihm der arglose
Rekrut vom Lande in die gestellten Netze. Von
Haus aus weiß der junge Mann sehr gut, daß
den Vater wie den Nachbar der Schuh drückt,
und nur zu oft kehrt er als halber oder ganzer
Sozialist in die Heimat zurück, nachdem der Ver-
lust der guten Sitten und religiöse Gleichgültig-
keit dem neuen Evangelium Tür und Tor geöffnet
haben. Nun wirkt er als zugkräftiger Agitator
der Sozialdemokratie in der Heimat, wo der Bo-
den für sein Auftreten vorbereitet ist. Die außer-
ordentlichen persönlichen Opfer und finanziellen
Lasten, welche die Staatsgewalt namentlich durch
ihren Militarismus auferlegt, erzeugen Unzufrie-
denheit mit den bestehenden Verhältnissen. Die
immer wiederkehrende Betonung der Pflichten
gegen König und Vaterland, die darauf gegrün-
deten Forderungen von Geld und Blut sind allein
wenig geeignet, die Vaterlandsliebe zu nähren,
die Anhänglichkeit an die Person des Herrschers
zu mehren. Für äußern Glanz und Ruhm aber
hat der gemeine Mann wenig Verständnis; er hat
ja dafür nur Opfer zu bringen. Außerdem stellt
der Militarismus selbst ein Stück Sozialismus
dar. Das sog. Volk in Waffen ist eine Riesen-
masse, die Leben und Bewegung empfängt durch
den Wink eines einzigen, also gewissermaßen von
einem Geiste beseelt ist. Der Staat besorgt für
sie die Befriedigung aller Bedürfnisse des täglichen
Lebens; er kleidet sie, nährt sie und führt sie an
den Ort, an welchem, und zu der Tätigkeit, für
welche er sie haben will. Fast scheint es nur ein
weiterer Schritt, wenn er nicht nur die Waffen-
tragenden, sondern auch ihre Familien in gleicher
Weise kleidet, nährt, leitet und zu diesem Zwecke
Arbeitsteilung und Arbeitsanweisung besorgt. Die
Wesensverwandtschaft des Militarismus und So-
zialismus zeigt sich auch deutlich in der von beiden
geübten systematischen Unterdrückung einer selb-
ständigen Entwicklung der Individualität. Der