Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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Stadt einen Herd zu gründen oder ohne solchen 
weniger mühevollen Verdienst zu suchen. Männ- 
liche und weibliche Dienstboten, jüngere Söhne 
und Töchter folgen ihrem Beispiele und verlassen 
gern das heimatliche Dorf, indem sie in der Stadt 
leichteren Erwerb, zwangloseren Genuß, Bequem- 
lichkeit des Lebens erwarten. Daher wachsen die 
Städte riesig an, das Land aber zeigt selten Meh- 
rung, vielfach Rückgang der Bevölkerung. 
Die Dienstbotenfrage ist für den Bauern ver- 
hängnisvoll geworden. Er muß nicht nur der 
militärdienstpflichtigen Söhne bei der Arbeit ent- 
behren, er findet auch keinen oder nur minder- 
wertigen Ersatz für sie. Es ist allgemeine Klage 
der Bauern, daß sie die Mühen ihres Berufes 
und die Sorge für Haus und Hofs, für Vieh und 
Habe mit halbwüchsigen Burschen teilen müssen, 
da gediente Leute auf dem Lande nicht oft zu 
finden seien. In der Tat gibt es in der Land- 
wirtschaft nur wenig ältere, zuverlässige Knechte. 
Die Mehrzahl der Gedienten verschlingt das 
Wachstum der Stadt. Da die Arbeiter vom 
Lande in der Regel keine gewerbliche Vorschulung 
besitzen, sind sie vorzüglich auf den Verdienst als 
Handlanger und Taglöhner, zumeist in Fabriken 
und bei öffentlichen Arbeiten angewiesen. Sie 
liefern überzählige Arme und drücken auf die Löhne. 
b) Die technisch geschulten Arbeiter werden unter 
die Waffen gerufen, wenn sie ihre Vorschulung 
kaum beendet und die Praxis nötig haben, um 
dauernde Fertigkeit zu erwerben. Jahrelang stehen 
sie ihrem Berufe fern; statt sich zu vervollkommnen, 
gehen sie zurück und vermögen den Verlust an 
Geschicklichkeit in späteren Jahren nicht mehr ganz 
nachzuholen. Diese Schädigung wird noch schwerer, 
da die späteren Einberufungen Reservisten und 
Landwehrmänner wiederholt auf längere Zeit 
ihrem friedlichen Berufe entziehen. Sehr schlimm 
ist der kleine Handwerker daran. Infolge einer 
Gesetzgebung, welche ihn der freien Konkurrenz des 
übermächtigen Kapitals preisgibt, vermag er nur 
durch Anspannung aller Kräfte und Mithilfe der 
Seinigen seine Werkstätte zu erhalten. Nun ge- 
hören seine Söhne vom 20. Jahre an dem Staate, 
und er selbst muß beim Ausbruch eines Krieges 
dem Rufe des Vaterlandes folgen. 
3. Die gewaltigen Militärausgaben kommen 
vorzugsweise dem großen Kapital, vor allem 
der Großindastrie und dem Großhandel zugute. 
Die Lieferungen von Kleidung und Nahrung, die 
Bauten von Kasernen, Militärspitälern, Zeug- 
häusern, Kriegswerkstätten, Festungen und Kriegs- 
häfen, die Anfertigung der gesamten Kriegsaus- 
rüstung, insbesondere der Waffen jeglicher Gat- 
tung, vom kleinen Revolver bis zur Kruppschen 
Riesenkanone, die Gestellung von Fahrzeugen und 
Rossen werden Großunternehmern übertragen. Die 
regelmäßigen Einnahmen vermögen die über- 
mäßigen Heereskosten nicht zu decken, so daß fast 
alljährlich kleinere oder größere Anlehen gemacht 
werden müssen. An ihnen verdient wieder nur das 
Militarismus. 
  
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Großkapital, welches die Schuldpapiere mit Ge- 
winn absetzt, und die kleinen Sparer müssen teurer 
kaufen, um zu ihrem Zins zu kommen. Im Kriegs- 
falle erhöht sich der Gewinn der Reichen zu ge- 
waltigen Summen. Die Last der Abgaben und 
Steuern wie der persönlichen Dienstpflicht aber 
drückt vorzugsweise auf den mittleren und kleineren 
Mann, der von den reichen Absatz= und Einnahme- 
quellen, welche der Militarismus großenteils auf 
seine Kosten eröffnet, so gut wie ausgeschlossen 
bleibt. So wird der Militarismus zum mächtigen 
Förderer des Kapitalismus auf Kosten des 
Mittelstandes, den die Hauptlast des Militaris-= 
mus trifft. " 
4. Der Militarismus ist ferner kein glücklicher 
Gegner des Sozialismus; die Kaserne ist 
vielmehr sein bester Nährboden. Der harmlose 
Sohn und Knecht des Landmannes tritt in enge 
Kameradschaft mit dem Arbeiter, der in der Fa- 
brikluft der Städte die neuen Lehren eingesogen 
hat und von Begierde brennt, ihr Anhänger zu 
gewinnen. Nur zu leicht fällt ihm der arglose 
Rekrut vom Lande in die gestellten Netze. Von 
Haus aus weiß der junge Mann sehr gut, daß 
den Vater wie den Nachbar der Schuh drückt, 
und nur zu oft kehrt er als halber oder ganzer 
Sozialist in die Heimat zurück, nachdem der Ver- 
lust der guten Sitten und religiöse Gleichgültig- 
keit dem neuen Evangelium Tür und Tor geöffnet 
haben. Nun wirkt er als zugkräftiger Agitator 
der Sozialdemokratie in der Heimat, wo der Bo- 
den für sein Auftreten vorbereitet ist. Die außer- 
ordentlichen persönlichen Opfer und finanziellen 
Lasten, welche die Staatsgewalt namentlich durch 
ihren Militarismus auferlegt, erzeugen Unzufrie- 
denheit mit den bestehenden Verhältnissen. Die 
immer wiederkehrende Betonung der Pflichten 
gegen König und Vaterland, die darauf gegrün- 
deten Forderungen von Geld und Blut sind allein 
wenig geeignet, die Vaterlandsliebe zu nähren, 
die Anhänglichkeit an die Person des Herrschers 
zu mehren. Für äußern Glanz und Ruhm aber 
hat der gemeine Mann wenig Verständnis; er hat 
ja dafür nur Opfer zu bringen. Außerdem stellt 
der Militarismus selbst ein Stück Sozialismus 
dar. Das sog. Volk in Waffen ist eine Riesen- 
masse, die Leben und Bewegung empfängt durch 
den Wink eines einzigen, also gewissermaßen von 
einem Geiste beseelt ist. Der Staat besorgt für 
sie die Befriedigung aller Bedürfnisse des täglichen 
Lebens; er kleidet sie, nährt sie und führt sie an 
den Ort, an welchem, und zu der Tätigkeit, für 
welche er sie haben will. Fast scheint es nur ein 
weiterer Schritt, wenn er nicht nur die Waffen- 
tragenden, sondern auch ihre Familien in gleicher 
Weise kleidet, nährt, leitet und zu diesem Zwecke 
Arbeitsteilung und Arbeitsanweisung besorgt. Die 
Wesensverwandtschaft des Militarismus und So- 
zialismus zeigt sich auch deutlich in der von beiden 
geübten systematischen Unterdrückung einer selb- 
ständigen Entwicklung der Individualität. Der
	        
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