Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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den höheren Gerichtsherrn und gegen dessen ab- 
lehnenden Bescheid die Anrufung der Entschei- 
dung des Reichsmilitärgerichts zu (Mil.St.G.O. 
§§ 24, 247). — 6) Für die Hauptverhand- 
lung ist die Mündlichkeit voll durchgeführt 
und der Grundsatz der Offentlichkeit an- 
erkannt. Den für den bürgerlichen Strafprozeß 
geltenden Gründen für die Ausschließung der 
Offentlichkeit ist als weiterer Grund, wie in 
Art. 138 der bayrischen Mil. t.G.O., die „Ge- 
fährdung militärdienstlicher Interessen“ hinzuge- 
fügt und außerdem dem Kaiser noch ausdrücklich die 
Befugnis gewahrt, auf Grund des 8 8 des Reichs- 
militärgesetzes vom 2. Mai 1874 allgemeine Vor- 
schriften darüber zu erlassen, unter welchen Vor- 
aussetzungen das Gericht die Offentlichkeit der 
Verhandlung wegen Gefährdung der Disziplin 
auszuschließen hat. Diese Vorschriften sind er- 
gangen in der kaiserlichen Verordnung vom 28.Dez. 
1899, welche bestimmt: „Die Disziplin verlangt, 
daß auch im gerichtlichen Verfahren das Ansehen 
der Kommandogewalt, der militärischen Einrich- 
tungen, Verordnungen und Gebräuche erhalten, 
der Sinn für die unbedingte Unterordnung des 
Untergebenen unter den Vorgesetzten jeden Grades 
gewahrt und dem berechtigten Ehrgefühl aller Be- 
teiligten, insbesondere derjenigen des Offizier- 
standes, Rechnung getragen wird. Sobald dieser 
Grundsatz gefährdet ist, sei es nach dem Gegen- 
stand der Anklage, nach den Einzelheiten des zur 
Verhandlung kommenden Falles, nach der Persön- 
lichkeit des Angeklagten oder der Zeugen, nach 
zeitlichen oder örtlichen besondern Verhältnissen, 
ist die Offentlichkeit auszuschließen.“ Die Voll- 
zugsbestimmungen zur bayrischen Mil. St.G.O. 
hatten sich mit der Erläuterung begnügt, es 
könne die Offentlichkeit ausgeschlossen werden, 
„wenn nach der Beschaffenheit des Falles zu be- 
sorgen steht, daß durch die Offentlichkeit der 
Verhandlung die militärische Standeswürde und 
das Ansehen des Standes irgendwie eine Beein-- 
trächtigung oder Gefährdung erleiden könnte“. 
Der Zutritt zu öffentlichen Verhandlungen ist 
aktiven Militärpersonen nur insoweit gestattet, als 
dieselben im Range nicht unter dem des Ange- 
klagten stehen. Der Verletzte kann übrigens auch 
in diesen Fällen sowie zu nichtöffentlichen Ver- 
handlungen zugelassen werden (Mil.St. G.O. 
§§ 282/288). Hier wie bei den auch sehr dehn- 
baren Bestimmungen der bürgerlichen Gerichts- 
verfassung über den Ausschluß der Offentlich- 
keit kommt es wesentlich auf die Handhabung 
der Vorschriften in der Gerichtspraxis an, welche 
zur Gewinnung und Erhaltung des Vertrauens 
in die Unparteilichkeit und Tüchtigkeit der Rechts- 
pflege ein verständiges Maß von Offentlichkeit 
im eigensten Interesse gewähren muß. Leider 
läßt die Praxis der Militärgerichte in dieser Be- 
ziehung immer noch viel zu wünschen übrig. — 
7) Die Selbständigkeit der Gerichte bei ihren 
Entscheidungen ist gewahrt. Die Gerichte ent- 
Militärstrafverfahren, deutsches. 
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scheiden nach freier Überzeugung; die Richter 
haben die Erfüllung ihrer Pflichten eidlich zu ge- 
loben. Die Entscheidung der Schuldfrage erfordert 
eine Mehrheit von zwei Dritteilen der Stimmen. 
Nur die im Feld und an Bord ergangenen Urteile 
bedürfen der Bestätigung; im übrigen erlangen 
die militärgerichtlichen Urteile ohne Bestätigung 
ihre Rechtskraft, und die „Bestätigungsorder" hat 
bei ihnen nur die Bedeutung der Feststellung, daß 
das Urteil rechtskräftig geworden, und soweit es 
auf Verurteilung lautet, zu vollstrecken, mit an- 
dern Worten, daß von dem Begnadigungsrecht 
kein Gebrauch gemacht worden ist (Mil. St.G.O. 
§8 315, 323, 416, 419). — 8) Die ordent- 
lichen Rechtsmittel sind die Rechtsbe- 
schwerde gegen Entscheidungen, welche nicht 
Urteile sind, und die Berufung sowie die 
Revision gegen die gerichtlichen Urteile. Die 
Fälle der Rechtsbeschwerde sind gegenüber den im 
bürgerlichen Strafverfahren zugelassenen Fällen 
der Beschwerde eingeschränkt; dagegen ist die Be- 
rufung grundsätzlich gegen alle militärgerichtlichen 
Urteile erster Instanz zugelassen. Die Revision 
findet nur gegen die Urteile der Oberkriegsgerichte 
statt. Bei den im Feld und an Bord ergangenen 
Urteilen wird Berufung und Revision durch ein 
besonderes Bestätigungs= und Aushebungsver- 
fahren ersetzt, da die dort herrschenden Verhältnisse 
eine möglichst einfache und rasche Herbeiführung 
der rechtskräftigen Entscheidung erfordern. In 
bestimmten außerordentlichen Fällen ist auch die 
Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil 
geschlossenen Verfahrens vorgesehen; die im Wie- 
deraufnahmeverfahren freigesprochenen Personen 
haben Anspruch auf Entschädigung nach den für 
das bürgerliche Verfahren geltenden Bestimmungen 
(Mil. St.G.O. 8§ 363 ff, 436 ff, 465 ff). — 
9) Strafvollzug. Die gegen Militärper- 
sonen auf Grund eines gerichtlichen Erkennt- 
nisses von den Militärbehörden zu vollstreckenden 
Strafen werden im Heer nach Maßgabe der 
Militärstrafoollstreckungsvorschrift vom 19. März 
1908, in der Marine nach der Marinestrafvoll= 
streckungsvorschrift vom 21. Nov. 1908 voll- 
zogen. — 10) Die Kosten des militärgericht- 
lichen Verfahrens und der durch die Militär- 
behörden bewirkten Strafvollstreckung fallen der 
Militärjustizverwaltung zur Last; die Kosten der 
Wahlverteidigung und der Strafvollstreckung durch 
bürgerliche Behörden hat der Beschuldigte zu tragen 
(Mil. St. G.O. § 469). Die geltenden Bestim- 
mungen über die Entschädigung für un- 
(schuldig erlittene Untersuchungs- 
haft findet auf die im militärgerichtlichen Ver- 
fahren freigesprochenen Personen mit der Maß- 
gabe entsprechende Anwendung, daß an die Stelle 
der Staatskasse im Heer die Kasse desjenigen Kon- 
tingents, bei dessen Gericht das Strafverfahren 
in erster Instanz anhängig war, in der Marine 
die Reichskasse ersatzpflichtig, und daß statt der 
Staatsanwaltschaft der Gerichtsherr erster In- 
  
 
	        
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