Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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Auffallend ist die gewaltige Zunahme der Ge- 
hilfenbetriebe im Handel. Die Zahl der Handels- 
betriebe betrug: 
  
  
  
  
  
Jahr Alleinbetriebe Gehilfenbetriebe zusammen 
1895 350 572 284 687 635 209 
1907 318 300 523 840 842 140 
Verhängnisvoll ist nun aber die Tatsache, daß 
sich diese Vermehrung der Zahl der Detailhand- 
lungen keineswegs in den Bahnen einer gesunden 
Entwicklung vollzieht, sondern daß vielmehr eine 
Überfüllung der Handelsbetriebe konstatiert wer- 
den muß, welche den tatsächlichen Verhältnissen 
nicht mehr entspricht. Doppelt verhängnisvoll, 
weil gerade die kleinen proletarischen Existenzen 
im Kleinhandel eine Zunahme erfahren haben. 
Der Kleinhandel gehört zu jenen Berufsarten, 
welche leicht zugänglich sind und, ohne mit schwerer 
körperlicher Arbeit verbunden zu sein, die Ver- 
wertung auch kleinerer Kapitalien ermöglichen. 
Dabei ist es nicht allzu schwer, Waren auf Kredit 
zu erhalten. So ist dem Kleinhandel eine Kon- 
kurrenz erstanden durch zahllose, gänzlich untaug- 
Mittelstand. 
  
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liche Elemente, welche weder die erforderliche 
Kreditfähigkeit noch auch die nölige kaufmännische 
Bildung besitzen, ohne welche eine zeitgemäße Auf- 
fassung des geschäftlichen Berufes undenkbar ist; 
durch „Auchkaufleute“, welche manchmal kaum 
lesen und schreiben können und die von einer Buch- 
führung keine blasse Ahnung besitzen. „So ist 
der Kleinhandel“, heißt es in einer amtlichen 
Dentschrift der sächsischen Regierung vom März 
1902, „das große Sammelbecken geworden für 
zahlreiche Personen, die daran verzweifeln, auf 
anderem Wege ihr Auskommen zu finden. So 
lange der Kleinhandel den breiten Strom aller 
dieser Existenzen in sich aufzunehmen hat, wird 
seine Lage trotz Ausnahmebesteuerung der Groß- 
geschäfte und Konsumvereine eine schwierige 
bleiben."“ 
Handel und Verkehr haben denn auch, wie aus 
der nachstehenden Tabelle ersichtlich ist, allein eine 
Zunahme der „selbständig“" Erwerbenden zu ver- 
zeichnen, wobei allerdings auch der starke Zuwachs 
an Gast= und Schankwirtschaften in Berechnung ge- 
zogen werden muß. 
  
  
  
  
  
Selbständige Erwerbs- Gehilfen, Lehrlinge, 
Gewerbeabteilungen tätige Fabrikarbeiter 
1895 1007 isos 1007 
A. Landwirtschaft, Gärtnerei usm.. ..... 9 468 821 7 795 398 8 781262 96637 929 
. «..... «.............. 6552 964 5979049 12 949 135 18 675 141 
C. Handel und Verkehr (einschl. Gast= und Schankwirtschaften) 2817 793 3129 049 2531 437 4 061 737 
Imaallgemeinen werden, speziell was die neueren 
Entwicklungstendenzen im Kleingewerbe betrifft, 
die Ergebnisseder monographischen Untersuchungen, 
welche der Verein für Sozialpolitik über die Lebens- 
fähigkeit des Handwerks in Deutschland und Oster- 
reich angestellt hat, durch die Detailresultate der 
Gewerbestatistik vollauf bestätigt. Professor K. 
Bücher, der zu jenen Erhebungen in erster Linie 
den Anstoß gegeben und das gesamte Enquete- 
material nach einheitlichen Gesichtspunkten ver- 
arbeitet hat, konstatiert, wenn wir seine Aus- 
führungen resümieren wollen, folgende große Ent- 
wicklungsreihen, die den Gang des Umbildungs- 
und Aufsaugungsprozesses im Handwerke kenn- 
zeichnen: 
1. Eine Verdrängung des Handwerks durch 
gleichartige Fabrik- und Verlagsproduktion. Hier 
gestaltet sich die Entwicklung verschieden, je nach- 
dem die Fabrikprodukte eine Reparatur zulassen 
oder nicht. Ist das letztere der Fall, so verschwindet 
das Handwerk gänzlich, andernfalls verwandelt 
es sich in ein Reparaturgewerbe mit oder ohne 
Ladengeschäft. 
2. Eine Schmälerung des Produktionsgebietes 
durch Fabrik oder Verlag, sei es nun, daß z. B. 
verschiedene Handwerke zu einer einheitlichen Pro- 
duktionsanstalt verschmolzen werden (z. B. Tisch- 
ler, Holzbildhauer, Drechsler, Polsterer, Maler, 
Lackierer, zu einer Möbelfabrik), oder daß lohnende 
Artikel, welche zur fabrikmäßigen Massenproduk- 
tion sich eignen, dem Handwerke entzogen werden. 
  
  
  
3. Eine Angliederung des Handwerks an die 
großen Unternehmungen, wodurch es seine Voll- 
ständigkeit verliert. („Jede größere Brauerei oder 
Weinhandlung hat heute ihre eigne Böttcherwerk- 
stätte; Konservenfabriken haben eigne Klempnereien; 
eine Schiffsbauanstalt hält Tischler; eine Schlosser- 
und Reparaturwerkstätte hat fast jeder größere 
Fabrikbetrieb.") 
4. Eine Verarmung des Handwerks durch Be- 
sazfäbetschtebung oder durch Aufhören des Be- 
arfs. 
5. Eine Herabdrückung des Handwerks zur 
Heimarbeit durch die Magazine in Fällen, wo 
die Produkte nur durch das Mittel der Verkaufs- 
läden ihre Abnehmer finden. 
Soviel steht fest, daß ein Teil der handwerks- 
mäßigen Kleinbetriebe nicht mehr in der Lage sein 
wird, den Wettlauf in der Arena der fortschreiten- 
den Technik mitzumachen, und daß das Handwerk 
im allgemeinen einen herben Daseinskampf zu 
kämpfen hat. Dennoch wird trotz des Verwitte- 
rungs= und Umbildungsprozesses im modernen 
Gewerbsleben auch in Zukunft noch immer Raum 
für das alte Handwerk verbleiben. Namentlich 
wird dem Handwerke auf dem Lande, woselbst 
sich die Verhältnisse ungleich günstiger stellen als 
in der Stadt, auch fernerhin die Existenz gesichert 
bleiben. Aber auch in den Städten bieten sich 
dem Handwerker, trotz der vielen Abbröckelungen, 
die wir konstatieren mußten, noch zahlreiche Exi- 
stenzmöglichkeiten. Noch herrscht heute der hand-
	        
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