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werksmäßige Betrieb vor und ist konkurrenzfähig
bei den Bäckern, Metzgern, Sattlern, Schmieden,
Wagnern, Buchbindern usw., und bei einer Reihe
von Handwerkszweigen, es sei hier nur beispiels-
weise an die dekorativen Gewerbe der Flach= und
Dekorationsmaler, Gipser, Stukkateurs, Tape-
zierer, Graveurs, an die Coiffeurs, Maurer,
Zimmerleute, Dachdecker, Kaminfeger usw. er-
innert, hat der fabrikmäßige Betrieb überhaupt
nicht Boden gefaßt.
Das Handwerk besitzt eine Reihe von besondern
Vorzügen, welche dessen Lebensfähigkeit als äußerst
wünschenswert erscheinen lassen, indem es im all-
gemeinen günstigere Arbeitsverhältnisse ausweist
als die Großindustrie, indem es solidere Produkte
auf den Markt bringt als letztere und des weiteren
günstigere Gelegenheit zur Ausbildung darbietet
als die Fabrik. Das Handwerk bildet die wesent-
lichste Grundlage des städtischen Mittelstandes,
und deshalb liegt in seiner Erhaltung und Förde-
rung ein Hauptziel einer jeden gesunden Sozial-
politik. Wirtschaftliche Augenblickspolitik freilich
kann hier nicht zum Ziele führen. Vielmehr gilt
es, auf dem Wege einer zielbewußten, praktischen
Mittelstandspolitik der Aussaugung und Zer-
setzung des Handwerks entgegenzukämpfen und
jenes Gleichgewicht unter den gesellschaftlichen
Gruppen herzustellen, welches die erste und un-
erläßliche Voraussetzung bildet für die allgemeine
Wohlfahrt des Volkes, wobei die Staatshilfe und
die Selbsthilfe der organisierten Berufsgruppen
Hand in Hand für die Erhaltung und Neubelebung
des alten Mittelstandes tätig sein müssen. Gleich-
zeitig wird es das Ziel einer vernünftigen Mittel-
standspolitik bilden, durch eine gesunde Ver-
einigung von Arbeit und Besitz auch dem streb-
samen Lohnarbeiter die Möglichkeit zu bieten, sich
in den Mittelstand zu erheben, und des ferneren
Mittelstand.
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auch für den durch die heutigen wirtschaftlichen und
sozialen Verhältnisse zum Teil hart betroffenen und
ungünstig gestellten neuen Mittelstand der Beamten,
Angestellten und freien Berufe Sorge zu tragen.
III. Mittelstandspolitik. 1. Die Mittel
der Selbsthilfe. Wir sind durchaus mit
Dr J. Wernicke (Der Mittelstand und seine wirt-
schaftliche Lage) darin einig, daß eigentlich „alle
Mittel, welche dazu dienen, die Leistungs= und
Konkurrenzfähigkeit der Kleingewerbetreibenden
durch Erhöhung ihrer technischen und kaufmänni-
schen Bildung, durch genossenschaftlichen Zusam-
menschluß, durch Rabatt= und Sparvereine usw.
zu steigern, ins Gebiet der Selbsthilfe oder deren
Grundlagen gehören“.
In erster Linie müssen die Gewerbetreibenden
selbst auf dem Wege der Selbsthilfe, durch Zu-
sammenschluß in Fachvereinen und Genossenschaften
den Gewerbestand zu heben trachten, die einhei-
mische Erwerbstätigkeit fördern und den überhand-
nehmenden Mißständen im gewerblichen Leben ent-
gegenkämpfen.
Alsallgemeine große Mittelstandsorganisationen
Deutschlands sind an erster Stelle der „Zentral-
verband deutscher Gewerbetreibender“ und die
schon an anderer Stelle genannte „Deutsche Mittel-
standsvereinigung“ zu erwähnen.
Große Hoffnung hatte man auf das gewerb-
liche Genossenschaftswesen gesetzt, die sich jedoch
bis heute nur in bescheidenem Maße erfüllt haben.
Gegenseitige Mißgunst und kleinlicher Konkurrenz-
neid standen dessen Ausbreitung hindernd im
Wege. Daß sich das gewerbliche Genossenschafts-
wesen auch in Deutschland nur sehr langsam ent-
wickelt hat, geht aus der nachstehenden tabellarischen
Zusammenstellung hervor, welche sich im „Jahr-
buch des Allgemeinen Genossenschaftsverbandes“
für das Jahr 1904 findet:
n——————e. ————————
Jahr " 22#½ genossenschaften genossenschaften genoffenschaften genossenschaften v m
»- »»-—-—- «-—-—---.——-———·-—.--Os.,.
S 5 gew. sandw. gew. landw. gew. landw. gew. landw. 1 s ES#
1890 7608 3910 110 980 8 286 61 7 131 274 — —
1900 D! 19557 12110 145 1394 67 546 79 154 255 2507 — —
1901 21 127 12779 188 1521 78 591 81 201 303 2819 — —
1902° 22 512 13481 215 1673 91 636 94 244 323 2968 — —
1903 24061 14280 266 1837 105 671 108 269 345 3130 — —
1904 25 398 15011 290 1949 112 707 120 284 368 3270 — —
1905 25 714 15620 257 1786 341 321 73 290 230 3362 129 125
Einen starken Aufschwung haben somit lediglich
Sparvereine, deren Mitglieder sich verpflichten,
die Kreditvereine zu verzeichnen. Und doch sind bei allen Bareinkäufen eine bestimmte Rabatt-
auch die gewerblichen Genossenschaften berufen, abgabe (gewöhnlich 5% der Einkaufssumme) zu
dem Gewerbestande die wertvollsten Dienste zu gewähren. Im Jahre 1908 umfaßte der über
leisten und auch dem Handwerke bis zu einem ganz Deutschland ausgedehnte Verband der Ra-
gewissen Grade die Vorteile des Großbetriebs zu-
zuwenden.
Auch im Kleinhandel hat der Genossenschafts-
batt= und Sparvereine insgesamt 263 Vereine
mit 50 593 Mitgliedern, welche 25 Mill. M zur
Auszahlung gelangen ließen.
gedanke noch nicht in bedeutenderem Maße Wurzel Der Pflege der Standesorganisation und be-
gefaßt. Nur die Kolonialwarenbranche weist eine ruflichen Interessenförderung dienen endlich auch
größere Zahl von Einkaufsvereinigungen auf. die zahlreichen Detaillistenschutzvereine, welche sich
Sehr gut bewährt haben sich die seit Mitte neben der Bekämpfung des unlauteren Wettbe-
der 1890er Jahre entstandenen Rabatt= und werbes in erster Linie auch die soziale Schulung