Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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aus ergab sich rechtsphilosophisch die Superiori= 
tät der Kirche über die christlichen Staaten. Die 
staatliche Ordnnung ist ein dienender Bestandteil 
der kirchlichen, die staatliche Gewalt wird auf die 
kirchliche Vermittlung zurückgeführt, der Staat 
geht in der Kirche auf. Die kirchliche Juris- 
prudenz trug kein Bedenken, die Kirche mit der 
Hierarchie zu identifizieren (papa, qui potest 
dici ecclesia (Aegidius Rom.]). Die führenden 
Theologen Hugo von St-Victor, Lombardus, 
Thomas suchten den hierarchischen mit dem spiri- 
tuellen Kirchenbegriff zu vereinigen. Hugo von 
St-Victor (De sacramentis 2, 2) definiert die 
Kirche im Anschluß an Augustinus als corpus 
Christi uno Spiritu vivificata et unita fide 
una et sanctificata. Nach Thomas ist die 
Kirche unum corpus mysticum, dessen Haupt 
secundum ordinem, perfectionem et virtutem 
Christus, dessen Herz der Heilige Geist ist, welcher 
die Kirche unsichtbar belebt und in ihrer Einheit 
erhält (Summa theol. 3, q. 8, a. 1). Zur Regie- 
rung der Kirche durch Lehrautorität und Sakra- 
mentenspendung sind die Apostel und ihre Nach- 
folger als Stellvertreter Gottes berufen (Grab- 
mann, Die Lehre des hl. Thomas von Aquin von 
der Kirche als Gotteswerk (19031). Wiclif und 
Hus haben nicht die Kirche als sakramentale An- 
stalt, sondern nur die hierarchische Gliederung und 
die sittlichen Bedingungen in Anlehnung an Augu- 
stinus bekämpft. Ebenso haben die Episkopalen 
den zmpirisch-monarchischen Kirchenbegriff bean- 
standet, indem sie die Fülle der Kirchengewalt dem 
Episkopate zuschrieben und den Papst nur als 
primus inter pares gelten lassen wollten (Reform- 
konzilien von Konstanz und Basel, Declaratio 
cleri gallicani 1682, Synode von Pistoia 1786, 
Emser Punktation 1786). Dagegen verwarfen 
die Reformatoren die Autorität der katholischen 
Kirche, lehrten eine unsichtbare Kirche und mach- 
ten dadurch eine äußere Organisation unmöglich. 
„Die Kirche ist die Versammlung der Heiligen, 
in welcher das Evangelium recht gelehrt und die 
Sakramente recht verwaltet werden“ (Augsburger 
Konfession), „eine Gemeinschaft des Glaubens 
und des Heiligen Geistes in den Herzen“ (Apolo- 
getik). Die Kirche hat keine Definition gegeben, 
aber Grenzen gezogen, indem sie die Lehre der 
Novatianer, Donatisten, Pelagianer, Waldenser 
u. a., daß nur Gerechte oder Sündenlose zur Kirche 
gehören, sowie die Lehre Wiclifs, Hus', Calvins 
und einzelner Jansenisten, daß nur die Prädesti- 
nierten die Kirche bilden, verurteilte. Auch das 
Tridentinum ging nicht auf die Lehre von der 
Kirche ein. Im römischen Katechismus wird im 
Anschluß an den hl. Augustinus und den hl. Tho- 
mas bemerkt: „Die Kirche ist das über den Erd- 
kreis zerstreute christliche Volk.“ „Die streitende 
Kirche ist die Gemeinschaft aller Gläubigen, 
welche noch auf Erden leben.“ Diese werden in 
zwei Klassen, Gute und Böse, unterschieden (I, 
10, 2. 5. 6). Das Valikanum lehrt: Pastor 
Kirche. 
  
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eternus et episcopus animarum nostrarum, 
ut salutiferum redemptionis opus perenne 
redderet, sanctam Ecclesiam aedificare de- 
crevit, in qua veluti in domo Dei viventis 
fideles ommes unius fidei et charitatis vinculo 
continerentur (sess.IV, prooem.). Das Schema 
De ecclesia (Coll. Lac. VII 567 ff) kam nicht zur 
Verhandlung. Von den Propositionen des Decr. 
Lamentabili vom 3. Juli 1907 beziehen sich 
Nr 52/56 auf die unveränderlichen Grundlagen 
der kirchlichen Verfassung gegen protestantische und 
modernistische Theorien. Die am meisten berück- 
sichtigten Definitionen von Theologen sind: „Unsere 
Meinung ist, die eine und wahre Kirche sei eine 
Vereinigung von Menschen, durch dasselbe Be- 
kenntnis des christlichen Glaubens und die Gemein- 
schaft derselben Sakramente verbunden, unter der 
Leitung der gesetzmäßigen Hirten und besonders 
des einen Stellvertreters auf Erden“ (Bellarmin, 
De concillüs et eccl. milit. III 2). „Unter der 
Kirche auf Erden verstehen die Katholiken die 
von Christus gestiftete, sichtbare Gemeinschaft aller 
Gläubigen, in welcher die von ihm während seines 
irdischen Lebens zur Entsündigung und Heiligung 
der Menschheit entwickelten Tätigkeiten unter der 
Leitung seines Geistes bis zum Weltende vermittels 
eines von ihm angeordneten, ununterbrochen wäh- 
renden Apostolats fortgesetzt und alle Völker im 
Verlauf der Zeiten zu Gott zurückgeführt werden“ 
(Möhler, Symboliks § 36, S. 331 f). Die De- 
finition Bellarmins betont mehr die sichtbare 
(Kirche im Rechtssinne), die Möhlers mehr die 
unsichtbare Seite der Kirche. 
II. Zweckh, Aufgabe und Eigenschaften. 
Nach Schrift und Tradition erscheint die Kirche 
als übsrnatürliche, von Christus gestiftete Heils- 
anstalt.“ Vaticanum sess. IV, prooem.; sess. 
III, cap. 3: Deus per Filium suum unigeni- 
tum Ecclesiam instituit, suaeque institutionis 
manifestis notis instruxit, ut ea tamquam 
custos et magistra verbi revelati ab omnibus 
posset agnosci. Der Catech. Rom. I, e. 10, 
20 sagt: Confitemur, nos Ecclesiae ortum, 
munera et dignitatem non humana ratione 
cognoscere, sed fidei oculis intueri. Der 
nächste und unmittelbare Zweck der Kirche liegt 
daher auf dem religiös-sittlichen und übernatür- 
lichen Gebiete: das Reich der Gnade und Tugend 
in der Welt und in den einzelnen zu verwirk- 
lichen und die Menschen dem Himmel zuzuführen. 
Daraus folgt einerseits die Selbständigkeit der 
Kirche auf ihrem Gebiete (Syllab. 19, 20), ander- 
seits die Überlassung von Aufgaben welllichen 
Charakters an den Staat (Matth. 22, 21). Wenn 
die Kirche im Mittelalter rein weltliche Materien 
in den Bereich ihrer Gesetzgebung, Rechtsprechung 
und Verwaltung einbezogen hat, so erklärt sich 
dies aus ihrer damaligen Stellung und der noch 
unentwickelten Staatsidee; sie hat dadurch eine 
hohe kulturhistorische Mission erfüllt. Die Auf- 
gabe der Kirche ist eine allgemeine, sie erstreckt
	        
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