Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

1239 
schrieben, suchte Montesquieu aus zusammenfassen- 
den Übersichten aller dieser Momente ein System 
vernunftgemäß sich aufbauender Politik zu machen. 
Was ihn indessen hier wie bei seinem Hauptwerk 
(s. unten) hinderte, eine wissenschaftlich ausreichende 
Erklärung der römischen Staats= und Gesellschafts- 
entwicklung zu liefern, waren der Mangel echten 
Geschichtssinnes, tieferer Quellenkunde, die Ten- 
denz, aus einzelnen, ihrem historischen Lebens- 
grunde entrissenen Tatsachen eine Römergeschichte 
neuer Art zu konstruieren, aus der Zusammen- 
stellung ähnlich scheinender Ereignisse willkürlich 
politische Schlüsse zu ziehen, die im Grunde nichts 
waren als subjektive Meinungen, politische Ab- 
straktionen der Denkweise Montesquieus, den Vor- 
urteilen und Leidenschaften seiner Zeit und Um- 
gebung angepaßt. 
Montesquien überzeugte seine Mitwelt davon, 
daß nicht der Zufall die Größe Roms gebildet; er 
täuschte sich und sie darin, daß diese Größe ledig- 
lich das Produkt großer Institutionen und mensch- 
lichen Herrschergenies gewesen. Von der christlichen 
Auffassung der Weltgeschichte und der 
Größe Roms, von den übernatürlichen Ursprüngen 
und Zielen alles Menschen= und Volkslebens, von 
der übernatürlichen Intervention der göttlichen 
Vorsehung, von der wunderbaren pragmatischen 
Verkettung sekundärer und primärer Ursachen bei 
allen entscheidenden Wendungen geschichtlichen 
Lebens sah Montesquien nichts. Und doch hatte 
Bossuet bereits 1679 in seinem berühmten Dis- 
cours sur Thistoire universelle die große Ein- 
heit und providentielle Harmonie aller Einzel- 
erscheinungen der Weltgeschichte im Hinblick auf 
Christus gerade in der Römergeschichte so tief und 
überzeugend nachgewiesen, daß man die Considé- 
rations als Ganzes nur als einen Rückschritt, als 
das Resultat einer durch Vorurteil und rationali- 
sierende Abstraktion verengten Weltanschauung, 
als Franzosenpolitik in der Toga Altroms ansehen 
kann. Man wird daran immer wieder erinnert, 
wennmanlliest, wie leicht Montesquien dem Ruhme 
Roms namenlose Verbrechen verzeiht, wenn er in 
der Darlegung der sittlichen Gebrechen Noms, 
der Mißachtung der Frauenwürde, des Loses der 
Sklaven und Schwachen, der Selbstmordmanie 
u. a. kein Wort des Gewissens, des Rechtssinnes, 
der Menschlichkeit zu scharfer Rüge findet, dagegen 
der sittlichen Hoheit des Christentums ironisierend 
gegenübersteht. Die Considérations bieten eine 
geistreiche Naturgeschichte Roms, eine bestechende 
Wahrscheinlichkeitsberechnung seines Entstehens 
und Vergehens; in Bezug auf die letzten entschei- 
denden Gründe dieses Cntstehens und Vergehens 
an sich und im Zusammenhange des großen, ein- 
heitlichen und lebensvollen Organismus der Welt- 
geschichte führen sie leicht irre. 
it den Considérations hatte Montesquien 
die Höhe seines Ruhmes erstiegen. Der Erfolg 
des Buches ließ ihn eifriger als je zu dem Versuche 
zurückkehren, das, was er geschichtsphilosophisch 
Montesquien. 
  
1240 
mit der Römergeschichte getan, mit Bezug auf die 
andern Völker und die späteren Zeiten zu versuchen. 
Es dauerte noch 14 Jahre, ehe das Resultat dieser 
Arbeiten in dem Esprit des Lois (3 Bde, 
Genf 1748) erschien, und zwar diesmal gegen das 
dringende Abwehren seiner Freunde, namentlich 
Helvétius' und Buffons, welch letzterer ihm die 
Unfertigkeit der Arbeit, den Mangel leitender 
Ideen und die Lückenhaftigkeit in der harmonischen 
Abhängigkeit der Gedanken vorhielt — mit Recht, 
wenn auch für die letzten Gründe dieser Fehler 
mehr Irrungen der Rechtsanschauung 
als der Arbeitsmethode obwalteten. 
„Die Gesetze“, sagt Montesquien, „sind im 
weitesten Sinne die notwendigen Beziehungen, 
die aus der Natur der Dinge sich ergeben, und in 
diesem Sinne haben alle Wesen ihre Gesetze, die 
Gottheit, die materielle Welt usw.“ Die notwen- 
digen Gesetze sucht Montesquien nicht etwa in der 
in allem Wechsel beharrenden Ordnung der Ideen, 
sondern in jener der Tatsachen. Auch der Mensch 
ist für ihn eine der Naturerscheinungen, abhängig 
von ihren „Gesetzen“, die er in den sein Leben be- 
dingenden Erscheinungen der Regierungsgewalt, 
der Sitten, des Klimas, der Religion, des Handels 
sucht und formuliert. Montesquien bemächtigt sich 
der Tausende der von ihm gesammelten Tatsachen, 
wie der Baukünstler der Steine, die er nach seiner 
Idee zusammenlegt und zurechtstutzt. Die Chrono- 
logie ist verschwunden, die Annalen der verschiede- 
nen Völker werden ohne Rücksicht auf innern 
Wert, Glaubwürdigkeit, Vollständigkeit ausein- 
andergerissen und in bunter Reihe einer neuen 
Ordnung, jener der Vernunft unterstellt, d. h. der 
Vernunft Montesquieus. Dergestalt sollen die 
Geschichte durch die Gesetze, die Gesetze einzelner 
Völker durch ihre Sitten, die Sitten durch die ver- 
borgensten Instinkte der Menschennatur in ihrer 
Abhängigkeit von der Eigenart in der Entwicklung 
einer jeden Gesellschaft, von den Einflüssen des 
Klimas, zumal von den einem jeden Lande durch 
seine geographische Lage geschaffenen Bedürfnisse 
erklärt werden. Montesquien steht den Einzeltat- 
sachen beobachtend und generalisierend, anscheinend 
indifferent gegenüber, sie mit oft so vorsichtigem, 
im Ausdruck so zurückhaltendem Urteile messend 
und seiner Denkweise anschmiegend, daß der un- 
kritische Leser sie lediglich als Anwendungen und 
Bestätigungen Montesquieuscher „Gesetze“ ansehen 
lernt; im Grunde handelt es sich, wie Madame 
du Deffand sofort sagte, um Montesquieusche 
„Geistreichigkeiten" über die Gesetze. 
Daß der Erfolg des Esprit hinter dem der 
Considérations anfangs weit zurückblieb, darf 
nicht wundernehmen, da die Mängel der Be- 
arbeitung bei dem großen Umfange des Werkes 
schärfer als je zutage traten: aphoristische, oft 
zweideutige und dunkle Ausdrucksweise, der ein- 
förmige, periodenlose, ermüdende Satzbau, die Ge- 
pflogenheit, den Gedanken nicht in einem Satze, 
sondern in einer Reihe von getrennten Behaup-
	        
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