Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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tungen unter einer Kapitelüberschrift darzulegen, 
deren Zusammenhang mit dem Beweismateriale 
oft sehr locker ist. Nimmt man dazu die unkritische 
Behandlung der Quellen, eine kaum begreifliche 
Verwendung häufig oft ganz belangloser Tat- 
sachen, die Unfertigkeit einzelner Abteilungen wie 
die Unabgeschlossenheit des Ganzen, so begreift 
sich, warum die Polemik über den Grundgedanken 
der Schrift, über Inhalt und Bedeutung kein Ende 
nehmen wollte. 
Wenn man sich später, namenklich unter dem 
Einflusse des Doktrinarismus Royer Collards und 
Benjamin Constants, darin einigte, in Montes- 
quien den Vorkämpfer der konstitutio- 
nellen Monarchie zu verherrlichen, so trifft 
dies nicht zu. Nichts lag Montesquien ferner, da 
er in Bezug auf die Regierungsform nur in all- 
gemeinen Thesen sich gefiel, aus „Furcht, etwas 
zu sagen, was wider Erwarten anstößig wäre“. 
So unterscheidet er zwar die Monarchie vom 
Despotismus unter dem Vorwande, erstere sei 
durch Gesetze eingeschränkt; allein er muß zugeben, 
daß unter beiden Regierungsformen das Gesetz der 
Ausdruck eines Einzelwillens ist. Uberhaupt fand 
bei dem ihm eignen Fatalismus der Anschauungs- 
weise die Verantwortlichkeit und Mitbestimmung 
des einzelnen wie der Völker über ihre Geschicke 
keinen Raum. Geistreichigkeiten wie die, der 
Monarchie als ihr Prinzip die Ehre, der Republik 
das der Tugend zuzuweisen, halfen über solchen 
Fatalismus nicht hinaus; hier ist Wirkung und 
Ursache, Prinzip und Resultat, die Krönung des 
Gebäudes mit dem Fundamente verwechselt. Aus 
den fatalistischen Grundanschauungen Montes- 
quieus erklärt sich auch seine Abneigung gegen jede 
Anderung der Landesverfassung, gegen jede Revo- 
lution. Unter den Mißbräuchen der alten Mon- 
archie gibt er die Käuflichkeit der Amter, die Kost- 
spieligkeit, Länge und Gefahr des Prozeßverfahrens 
zu; er predigt Toleranz, will aber die Häresie 
nicht ungestraft lassen, fordert nur Vorsicht bei 
Anwendung der Strafe. Er stellt den Grundsatz 
auf: „Man fühlt die Mißbräuche und sucht ihre 
Besserung, aber man sieht auch bald die Miß- 
bräuche der Besserung. Man beläßt das Böse, 
wenn man Schlimmeres befürchtet; man beläßt 
das Gute, wenn man am Besseren zweifelt.“ — 
Auch über die Dreiteilung der öffentlichen Gewalt 
und ihre gegenseitige Neutralisierung nach dem 
angeblichen Vorbild der englischen Verfassung hat 
sich Montesquien nicht offen ausgesprochen. Im 
Gegenteil. „Muß man“, fragt er, „um die poli- 
tische Freiheit in einer Verfassung zu entdecken, 
so viel Aufhebens von derselben machen? Wenn 
man sie dort sehen kann, wo sie ist, wenn man sie 
gefunden hat, warum sie dann noch suchen?“ Daß 
die „Neutralisation“ der Machtvollkommenheiten 
einer Regierung im tatsächlichen Volksleben, wie 
in England, etwas ganz anderes ist und bedeutet 
als in der Abstraktion der liberalen Verfassungs- 
theoretiker des Kontinents, blieb Montesquien 
Montesquien. 
  
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ebenso verborgen wie seinen weniger geistreichen 
Nachbetern. Kurz, wir finden in Montesquien 
weder den Erfinder noch den Theoretiker des mo- 
dernen Verfassungsstaates, wohl aber den Vor- 
kämpfer des Liberalismus in der Grundlegung 
jener modernen Staatsideen, die, von Christentum 
und Kirche wie vom natürlichen und historischen 
Rechte abstrahierend, öffentliches Recht und poli- 
tisches Leben den alleinigen Forderungen des ra- 
tionellen Denkens unterstellten. 
Der steigende, bis heute andauernde Einfluß 
Montesquieus auf die antichristliche und anti- 
soziale Tendenz der liberalen Politik erklärt sich 
aus dem antichristlichen Zeitgeiste. Er 
geht nach der Gewohnheit des 18. Jahrh. von 
der Trennung der Politik und der Religion aus, 
ähnlich wie später A. Smith von der Trennung 
der Wirtschaftslehre und der Moral; er abstrahiert 
von aller positiven Religion, zieht dieselbe zwar 
noch als ideales Moment für seine Politik in Be- 
tracht, aber nur insoweit sie sich derselben einsügt. 
Die Religionen sind ihm lediglich Erscheinungen 
des historischen Zufalls, das Produkt aller der 
Ursachen, die bestimmend auf die Gesellschaften 
einwirken. Die Religion behält zwar noch lokale 
Zuständigkeit, und insofern braucht der Staat, 
welcher sich mit der in seinem Bereiche bestehenden 
Religion zufrieden erklärt, nicht zu dulden, daß 
eine andere Religion eingeführt wird; allein die 
Religion zählt nur insoweit noch mit, als sie zur 
Wertschätzung und Wahrung der politischen und 
sozialen „Gesetze“ beizutragen imstande ist. Als 
das höhere Gesetz der sozialen Verfassung, als das 
Prinzip, welches, wie Vico lehrte, jeder Gesellschaft 
ihre Form gibt, ist die Religion bei Montesquien 
beseitigt. Ahnlich ist es mit dem Prinzip der Frei- 
heit. Montesquien sagt zwar, sie könne nur darin 
bestehen, das tun zu können, was man wollen soll, 
und dazu nicht gezwungen zu werden, was man 
nicht wollen soll; aber sofort fügt er sorgsam bei, 
die Freiheit sei nur das Recht, das zu tun, was 
die „Gesetze“ gestatten. Dies ist dem Wesen nach 
jene Sälularisation der Legalität, wie sie der Li- 
beralismus will. 
So bestimmte sich sein Verhältnis zur 
anhebenden Revolutionsbewegung von 
selbst. Zur Zeit, da die Considérations und der 
Esprit erschienen, begannen inmitten heftiger Er- 
schütterungen der geistigen und sittlichen Welt in- 
olge der Fortschritte der Manufakturindustrie, der 
schnelleren Bevölkerungszunahme, der veränderten 
Handelspolitik, des erweiterten Verkehrs und der 
aufsteigenden Kolonialbestrebungen große, unauf- 
haltsame Umgestaltungen im innern Staats= und 
Gesellschaftsleben sich anzubahnen. Die bestehen- 
den, an sich durch absolutistische Bedrängung er- 
schütterten Institutionen versagten inmitten der 
wirtschaftlichen Anderungen des Privat= und 
Ständelebens ihren Dienst, während der sittigende 
Einfluß der Kirche immer mehr zurückgedrängt 
wurde; sie standen nicht mehr mit den sich 
 
	        
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