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tungen unter einer Kapitelüberschrift darzulegen,
deren Zusammenhang mit dem Beweismateriale
oft sehr locker ist. Nimmt man dazu die unkritische
Behandlung der Quellen, eine kaum begreifliche
Verwendung häufig oft ganz belangloser Tat-
sachen, die Unfertigkeit einzelner Abteilungen wie
die Unabgeschlossenheit des Ganzen, so begreift
sich, warum die Polemik über den Grundgedanken
der Schrift, über Inhalt und Bedeutung kein Ende
nehmen wollte.
Wenn man sich später, namenklich unter dem
Einflusse des Doktrinarismus Royer Collards und
Benjamin Constants, darin einigte, in Montes-
quien den Vorkämpfer der konstitutio-
nellen Monarchie zu verherrlichen, so trifft
dies nicht zu. Nichts lag Montesquien ferner, da
er in Bezug auf die Regierungsform nur in all-
gemeinen Thesen sich gefiel, aus „Furcht, etwas
zu sagen, was wider Erwarten anstößig wäre“.
So unterscheidet er zwar die Monarchie vom
Despotismus unter dem Vorwande, erstere sei
durch Gesetze eingeschränkt; allein er muß zugeben,
daß unter beiden Regierungsformen das Gesetz der
Ausdruck eines Einzelwillens ist. Uberhaupt fand
bei dem ihm eignen Fatalismus der Anschauungs-
weise die Verantwortlichkeit und Mitbestimmung
des einzelnen wie der Völker über ihre Geschicke
keinen Raum. Geistreichigkeiten wie die, der
Monarchie als ihr Prinzip die Ehre, der Republik
das der Tugend zuzuweisen, halfen über solchen
Fatalismus nicht hinaus; hier ist Wirkung und
Ursache, Prinzip und Resultat, die Krönung des
Gebäudes mit dem Fundamente verwechselt. Aus
den fatalistischen Grundanschauungen Montes-
quieus erklärt sich auch seine Abneigung gegen jede
Anderung der Landesverfassung, gegen jede Revo-
lution. Unter den Mißbräuchen der alten Mon-
archie gibt er die Käuflichkeit der Amter, die Kost-
spieligkeit, Länge und Gefahr des Prozeßverfahrens
zu; er predigt Toleranz, will aber die Häresie
nicht ungestraft lassen, fordert nur Vorsicht bei
Anwendung der Strafe. Er stellt den Grundsatz
auf: „Man fühlt die Mißbräuche und sucht ihre
Besserung, aber man sieht auch bald die Miß-
bräuche der Besserung. Man beläßt das Böse,
wenn man Schlimmeres befürchtet; man beläßt
das Gute, wenn man am Besseren zweifelt.“ —
Auch über die Dreiteilung der öffentlichen Gewalt
und ihre gegenseitige Neutralisierung nach dem
angeblichen Vorbild der englischen Verfassung hat
sich Montesquien nicht offen ausgesprochen. Im
Gegenteil. „Muß man“, fragt er, „um die poli-
tische Freiheit in einer Verfassung zu entdecken,
so viel Aufhebens von derselben machen? Wenn
man sie dort sehen kann, wo sie ist, wenn man sie
gefunden hat, warum sie dann noch suchen?“ Daß
die „Neutralisation“ der Machtvollkommenheiten
einer Regierung im tatsächlichen Volksleben, wie
in England, etwas ganz anderes ist und bedeutet
als in der Abstraktion der liberalen Verfassungs-
theoretiker des Kontinents, blieb Montesquien
Montesquien.
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ebenso verborgen wie seinen weniger geistreichen
Nachbetern. Kurz, wir finden in Montesquien
weder den Erfinder noch den Theoretiker des mo-
dernen Verfassungsstaates, wohl aber den Vor-
kämpfer des Liberalismus in der Grundlegung
jener modernen Staatsideen, die, von Christentum
und Kirche wie vom natürlichen und historischen
Rechte abstrahierend, öffentliches Recht und poli-
tisches Leben den alleinigen Forderungen des ra-
tionellen Denkens unterstellten.
Der steigende, bis heute andauernde Einfluß
Montesquieus auf die antichristliche und anti-
soziale Tendenz der liberalen Politik erklärt sich
aus dem antichristlichen Zeitgeiste. Er
geht nach der Gewohnheit des 18. Jahrh. von
der Trennung der Politik und der Religion aus,
ähnlich wie später A. Smith von der Trennung
der Wirtschaftslehre und der Moral; er abstrahiert
von aller positiven Religion, zieht dieselbe zwar
noch als ideales Moment für seine Politik in Be-
tracht, aber nur insoweit sie sich derselben einsügt.
Die Religionen sind ihm lediglich Erscheinungen
des historischen Zufalls, das Produkt aller der
Ursachen, die bestimmend auf die Gesellschaften
einwirken. Die Religion behält zwar noch lokale
Zuständigkeit, und insofern braucht der Staat,
welcher sich mit der in seinem Bereiche bestehenden
Religion zufrieden erklärt, nicht zu dulden, daß
eine andere Religion eingeführt wird; allein die
Religion zählt nur insoweit noch mit, als sie zur
Wertschätzung und Wahrung der politischen und
sozialen „Gesetze“ beizutragen imstande ist. Als
das höhere Gesetz der sozialen Verfassung, als das
Prinzip, welches, wie Vico lehrte, jeder Gesellschaft
ihre Form gibt, ist die Religion bei Montesquien
beseitigt. Ahnlich ist es mit dem Prinzip der Frei-
heit. Montesquien sagt zwar, sie könne nur darin
bestehen, das tun zu können, was man wollen soll,
und dazu nicht gezwungen zu werden, was man
nicht wollen soll; aber sofort fügt er sorgsam bei,
die Freiheit sei nur das Recht, das zu tun, was
die „Gesetze“ gestatten. Dies ist dem Wesen nach
jene Sälularisation der Legalität, wie sie der Li-
beralismus will.
So bestimmte sich sein Verhältnis zur
anhebenden Revolutionsbewegung von
selbst. Zur Zeit, da die Considérations und der
Esprit erschienen, begannen inmitten heftiger Er-
schütterungen der geistigen und sittlichen Welt in-
olge der Fortschritte der Manufakturindustrie, der
schnelleren Bevölkerungszunahme, der veränderten
Handelspolitik, des erweiterten Verkehrs und der
aufsteigenden Kolonialbestrebungen große, unauf-
haltsame Umgestaltungen im innern Staats= und
Gesellschaftsleben sich anzubahnen. Die bestehen-
den, an sich durch absolutistische Bedrängung er-
schütterten Institutionen versagten inmitten der
wirtschaftlichen Anderungen des Privat= und
Ständelebens ihren Dienst, während der sittigende
Einfluß der Kirche immer mehr zurückgedrängt
wurde; sie standen nicht mehr mit den sich