Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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in ein bloßes Privatrecht aufzulösen; so in der 
1820 erschienenen Abhandlung „Von der Not- 
wendigkeit einer theologischen Grundlage der ge- 
samten Staatswissenschaften“. Ihre Grundge- 
danken sind folgende. Jeder Mensch ist Glied 
eines Staates, eines höheren Ganzen, dem er hörig 
oder untertan ist, und Haupt eines Staates in 
Bezug auf Sachen, über die er verfügen kann als 
Fürst. Gutsherr, Hausvater, Eigentümer oder 
Disponent. Jenes ist sein persönlicher Staat, 
dieses sein sachlicher. In ersterer Hinsicht ist er ge- 
bunden, in zweiter frei. So ist der Mensch ein 
Staat im Staate. Dieses leugnen wollen, heißt 
den konkreten, lebendigen, positiven Staat ver- 
nichten und einen abstrakten sich ersinnen, der nur 
ein Traum, ein Schimäre ist und eine bloße Masse, 
worin alles haltlos zusammenfließt. Über diesen 
schimärischen Staat, der lediglich ein Erzeugnis 
des abstrakten Wissens ist, können wir uns zum 
konkreten, urbildlichen, idealen Staate nur er- 
heben durch den Glauben; das Urbild eines solchen 
ist wie alle Urbilder von obenher gegeben und ge- 
offenbart, ist nicht unser Machwerk, sondern Ab- 
glanz einer Majestät, die über uns thront. „Das 
Recht der Natur ist das Recht der Stärke und des 
Stärkeren.“ Doch gebietet die Natur anderseits 
auf instinktmäßige Weise anbetrachts der Ab- 
hängigkeit des Menschen den mäßigen Gebrauch 
dieser Stärke oder Klugheit in deren Anwendung. 
Aus diesem Widerspruch von Recht und Klugheit 
kommt der natürliche Mensch nicht heraus; dazu 
bedarf es eines ausgleichenden, versöhnenden 
Dritten, und dieses ist „die Beziehung des Men- 
schen auf den lebendigen Gott“ kraft des höheren, 
urbildlichen Rechts und eines höheren Beistandes 
(S. 1/14). 
Es gibt keinen Unterschied zwischen Staats- 
und Privatrecht, es gibt nur einerlei Recht. 
Der Staat ist ein Staat von Staaten, ein von 
einem Fürsten beherrschtes Gebiet, innerhalb dessen 
unzählige Staaten, Gebiete von Privatgerecht- 
samen bestehen, über welche der Wille des Fürsten 
nichts vermag, wie der menschliche Wille über un- 
zählige Organe des menschlichen Körpers nichts 
vermag. In diesem Sinne ist er ein organischer 
Staat. Er ist nicht ein allgemeines Gedanken- 
wesen, wozu man in den letzten drei Jahrhun- 
derten ihn gemacht hat. Einem solch neumodischen 
Staate zuliebe will man nunmehr „keine Art von 
gutsherrlicher Gerichtsbarkeit, keine moralischen 
Personen (mit einziger Ausnahme der Geld= und 
Schuldenkorporationen), keine Innungen, keine 
Zünfte, keine Eigentümlichkeiten der Provinzial- 
und Städteverfassungen, kurz, keine Staaten im 
Staate dulden“", macht aus ihm vielmehr ein all- 
gemeines Subjekt, welches alle Privatrechte ver- 
schlingt, einen Götzen, dem alles zum Opfer fallen 
soll. Seit dem Auftauchen dieses falschen Staats- 
begriffes regierte man „im Namen des Staates 
anstatt im Namen Gottes, des Anordners alles 
irdischen Regimentes; man leitete die Gewalt her 
Miüller. 
  
1252 
aus dem Gesetze anstatt von Gott; man sprach 
von Staatsdienst anstatt des Herrendienstes um 
Gottes willen; der König, hieß es, sei erster Be- 
amter des Staates oder Volkes anstatt erster Be- 
amter Gottes“. Dieser alles Privatrecht ver- 
schlingende Moloch soll zerstört werden; „Karl 
Ludwig Haller hat dieses große Werk begonnen, 
wir bieten ihm treu und dankbar die Hände“ 
(S. 14/19). Staats= und Privatrecht sind also 
nicht qualitativ verschieden; das „wahre Staats- 
recht ist ein gewöhnliches Privatrecht, auf größere 
Gerechtsame angewendet“. Auch das Völkerrecht 
ist nichts anderes als dasselbe positive Recht, auf 
einem „noch größeren Gebiete herrschend“. Ein 
natürliches Völkerrecht ist eine bloße Schimäre, ein 
eitles Lehrgebäude der menschlichen Vernunft; ein 
solches „respektiert niemand, solange er noch über 
Kanonen und Linienschiffe zu gebieten hat, und 
wenn nicht Gott unmittelbar und selbst hilft, sich 
offenbart, entspricht und gebietet, so gehört von 
Rechts wegen und ohne Appellation dem Stär- 
keren die Welt“ (S. 23/25). 
Wie es die Rechtswissenschaft mit dem positiv 
Gegebenen der Vergangenheit zu tun hat, so die 
Staatswirtschaft oder Politik mit dem Nutzen, 
der für die Zukunft gewonnen werden soll. Auch 
dieser Widerspruch von Recht und Nutzen, Recht 
und Klugheit, Legitimität und Liberalismus kann 
nur gelöst werden durch die Religion; denn wie 
die Rechtswissenschaft vermittels dieser uns zum 
Begriffeeines „allerhöchsten Weltenrichters, Macht- 
verleihers und Machtinhabers“ hinführt, so die 
Staatswirtschaftslehre zur Vorstellung eines 
„obersten Hausvaters“. Der Mensch ist einerseits 
Diener Gottes in Gehorsam gegen seine Gebote 
und anderseits Kind oder Ebenbild Gottes zu 
freier Verwaltung des ihm anvertrauten väterlichen 
Erbes, Meier Gottes, maior domus (S. 27/33). 
Die Theologie als „Wissenschaft von den 
geoffenbarten göttlichen Wahrheiten“ ist somit 
das die Rechts= und Staatswirtschaftslehre ver- 
söhnende höhere Element. Sie hat allererst die 
eigentliche und wahre Moral zu begründen, welche 
gegenüber der vermeintlichen Vernunftmoral eine 
durchaus positive Wissenschaft ist und sich lediglich 
auf das bezieht, was „der unwandelbare und 
ewige Gott in positiven Offenbarungen als gut 
oder böse festgesetzt hat“. Durch eine solche Moral 
hat die Theologie die Rechtswissenschaft zu be- 
gründen, indem die juristischen Pflichten ja eben- 
falls iuris divini sind und der Gehorsam gegen 
die weltlichen Gesetze uns durch göttliches Gesetz 
zur Pflicht gemacht ist. In gleicher Weise hat 
die Theologie die allgemeine Staatswirtschafts- 
lehre und durch diese die besondere zu begründen 
(37) 
  
S. 34 . 
Von besonderem Interesse ist der 1857 er- 
schienene „Briefwechsel zwischen Friedrich Gentz 
und Adam Müller“. Beide blieben zeitlebens 
Freunde trotz verschiedener Artung und Richtung. 
Sie bildeten enigegengesetzte Geistespole, die fort 
–
	        
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