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in ein bloßes Privatrecht aufzulösen; so in der
1820 erschienenen Abhandlung „Von der Not-
wendigkeit einer theologischen Grundlage der ge-
samten Staatswissenschaften“. Ihre Grundge-
danken sind folgende. Jeder Mensch ist Glied
eines Staates, eines höheren Ganzen, dem er hörig
oder untertan ist, und Haupt eines Staates in
Bezug auf Sachen, über die er verfügen kann als
Fürst. Gutsherr, Hausvater, Eigentümer oder
Disponent. Jenes ist sein persönlicher Staat,
dieses sein sachlicher. In ersterer Hinsicht ist er ge-
bunden, in zweiter frei. So ist der Mensch ein
Staat im Staate. Dieses leugnen wollen, heißt
den konkreten, lebendigen, positiven Staat ver-
nichten und einen abstrakten sich ersinnen, der nur
ein Traum, ein Schimäre ist und eine bloße Masse,
worin alles haltlos zusammenfließt. Über diesen
schimärischen Staat, der lediglich ein Erzeugnis
des abstrakten Wissens ist, können wir uns zum
konkreten, urbildlichen, idealen Staate nur er-
heben durch den Glauben; das Urbild eines solchen
ist wie alle Urbilder von obenher gegeben und ge-
offenbart, ist nicht unser Machwerk, sondern Ab-
glanz einer Majestät, die über uns thront. „Das
Recht der Natur ist das Recht der Stärke und des
Stärkeren.“ Doch gebietet die Natur anderseits
auf instinktmäßige Weise anbetrachts der Ab-
hängigkeit des Menschen den mäßigen Gebrauch
dieser Stärke oder Klugheit in deren Anwendung.
Aus diesem Widerspruch von Recht und Klugheit
kommt der natürliche Mensch nicht heraus; dazu
bedarf es eines ausgleichenden, versöhnenden
Dritten, und dieses ist „die Beziehung des Men-
schen auf den lebendigen Gott“ kraft des höheren,
urbildlichen Rechts und eines höheren Beistandes
(S. 1/14).
Es gibt keinen Unterschied zwischen Staats-
und Privatrecht, es gibt nur einerlei Recht.
Der Staat ist ein Staat von Staaten, ein von
einem Fürsten beherrschtes Gebiet, innerhalb dessen
unzählige Staaten, Gebiete von Privatgerecht-
samen bestehen, über welche der Wille des Fürsten
nichts vermag, wie der menschliche Wille über un-
zählige Organe des menschlichen Körpers nichts
vermag. In diesem Sinne ist er ein organischer
Staat. Er ist nicht ein allgemeines Gedanken-
wesen, wozu man in den letzten drei Jahrhun-
derten ihn gemacht hat. Einem solch neumodischen
Staate zuliebe will man nunmehr „keine Art von
gutsherrlicher Gerichtsbarkeit, keine moralischen
Personen (mit einziger Ausnahme der Geld= und
Schuldenkorporationen), keine Innungen, keine
Zünfte, keine Eigentümlichkeiten der Provinzial-
und Städteverfassungen, kurz, keine Staaten im
Staate dulden“", macht aus ihm vielmehr ein all-
gemeines Subjekt, welches alle Privatrechte ver-
schlingt, einen Götzen, dem alles zum Opfer fallen
soll. Seit dem Auftauchen dieses falschen Staats-
begriffes regierte man „im Namen des Staates
anstatt im Namen Gottes, des Anordners alles
irdischen Regimentes; man leitete die Gewalt her
Miüller.
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aus dem Gesetze anstatt von Gott; man sprach
von Staatsdienst anstatt des Herrendienstes um
Gottes willen; der König, hieß es, sei erster Be-
amter des Staates oder Volkes anstatt erster Be-
amter Gottes“. Dieser alles Privatrecht ver-
schlingende Moloch soll zerstört werden; „Karl
Ludwig Haller hat dieses große Werk begonnen,
wir bieten ihm treu und dankbar die Hände“
(S. 14/19). Staats= und Privatrecht sind also
nicht qualitativ verschieden; das „wahre Staats-
recht ist ein gewöhnliches Privatrecht, auf größere
Gerechtsame angewendet“. Auch das Völkerrecht
ist nichts anderes als dasselbe positive Recht, auf
einem „noch größeren Gebiete herrschend“. Ein
natürliches Völkerrecht ist eine bloße Schimäre, ein
eitles Lehrgebäude der menschlichen Vernunft; ein
solches „respektiert niemand, solange er noch über
Kanonen und Linienschiffe zu gebieten hat, und
wenn nicht Gott unmittelbar und selbst hilft, sich
offenbart, entspricht und gebietet, so gehört von
Rechts wegen und ohne Appellation dem Stär-
keren die Welt“ (S. 23/25).
Wie es die Rechtswissenschaft mit dem positiv
Gegebenen der Vergangenheit zu tun hat, so die
Staatswirtschaft oder Politik mit dem Nutzen,
der für die Zukunft gewonnen werden soll. Auch
dieser Widerspruch von Recht und Nutzen, Recht
und Klugheit, Legitimität und Liberalismus kann
nur gelöst werden durch die Religion; denn wie
die Rechtswissenschaft vermittels dieser uns zum
Begriffeeines „allerhöchsten Weltenrichters, Macht-
verleihers und Machtinhabers“ hinführt, so die
Staatswirtschaftslehre zur Vorstellung eines
„obersten Hausvaters“. Der Mensch ist einerseits
Diener Gottes in Gehorsam gegen seine Gebote
und anderseits Kind oder Ebenbild Gottes zu
freier Verwaltung des ihm anvertrauten väterlichen
Erbes, Meier Gottes, maior domus (S. 27/33).
Die Theologie als „Wissenschaft von den
geoffenbarten göttlichen Wahrheiten“ ist somit
das die Rechts= und Staatswirtschaftslehre ver-
söhnende höhere Element. Sie hat allererst die
eigentliche und wahre Moral zu begründen, welche
gegenüber der vermeintlichen Vernunftmoral eine
durchaus positive Wissenschaft ist und sich lediglich
auf das bezieht, was „der unwandelbare und
ewige Gott in positiven Offenbarungen als gut
oder böse festgesetzt hat“. Durch eine solche Moral
hat die Theologie die Rechtswissenschaft zu be-
gründen, indem die juristischen Pflichten ja eben-
falls iuris divini sind und der Gehorsam gegen
die weltlichen Gesetze uns durch göttliches Gesetz
zur Pflicht gemacht ist. In gleicher Weise hat
die Theologie die allgemeine Staatswirtschafts-
lehre und durch diese die besondere zu begründen
(37)
S. 34 .
Von besonderem Interesse ist der 1857 er-
schienene „Briefwechsel zwischen Friedrich Gentz
und Adam Müller“. Beide blieben zeitlebens
Freunde trotz verschiedener Artung und Richtung.
Sie bildeten enigegengesetzte Geistespole, die fort
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