Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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und fort einander anzogen. Der erstere, ein 
durchaus praktischer Diplomat und deshalb als 
Protokollführer verwendet bei allen europäischen 
Kongressen, welche seit Napoleons Sturz die 
Zwecke der Restauration verfolgten, schreibt in 
einem Briefe vom 8. Juli 1816 an seinen Freund 
unter anderem folgendes zu dessen Charakteristik 
Dienende: „Ich spreche sehr oft mit Stadion und 
Metternich von Ihnen, und ich will Ihnen nicht 
bergen, daß wir uns oft gemeinschaftlich wundern 
über den Kontrast zwischen Ihrer Exzentrizität 
als Schriftsteller und der praktischen Vortreff- 
lichkeit Ihrer geist= und sachreichen Berichte" 
(Briefwechsel S. 228). Die Gegensätze ihrer 
beiderseitigen Anschauungen sind sehr bedeutend. 
„Von allem, was durch Vernunft erkennbar ist", 
so schreibt Gentz an seinen Freund, „muß auch 
eine Appellation an die Vernunft, und zwar 
an die Vernunft eines jeden, gelten. . Der 
Sinn für den Glauben ist mir nie aufgegangen. 
Mithin kann Offenbarung in Ihrer, der theo- 
logischen Bedeutung des Wortes für mich weder 
mittelbar noch unmittelbar existieren“ (S. 236 
bis 239, 248, 262/263). Als ihm besonders 
unsympathisch bezeichnet Gentz die Lehre seines 
Freundes, daß die Bürgschaft der Staaten, der 
Bestand und die Verbesserung der gesellschaftlichen 
Verfassungen und der Friede der Welt einzig und 
allein von der lebendigen Erkenntnis der Mensch- 
werdung Gottes abhänge (S. 221). Er kann sich 
auch nicht mit dessen Tendenz befreunden, die 
Kirchen-, Lehns-, Dienst-, Geld= und Handels- 
verfassung vergangener Jahrhunderte zurückzu- 
fordern und in dem glühenden Bestreben, die 
Antirevolution zu predigen, halbwegs selber Re- 
volution zu predigen (S. 245, 329). Adam 
Müller suchte diesen Einreden gegenüber seine 
Lehre in immer volleres Licht zu stellen (S. 231 
bis 233, 241/242, 260, 264, 279/281) und 
deren Urheber sogar zu bewegen, gleich ihm einen 
letzten Schritt zu tun und zum Katholizismus 
überzutreten, ohne daß letzterer einer solchen Auf- 
sorderung Folge gab, so nahe er auch dem Katho- 
lizismus gekommen war, wie der von ihm nach 
Kotzebues Ermordung an seinen Freund gerichtete 
Brief vom 19. April 1819 (S. 274/277) verrät. 
Die Schriften Adam Müllers sind zwar voll 
von fruchtbaren und geistreichen Gedanken, ohne 
aber in so fesselnde Formen gekleidet zu sein wie 
die Schriften de Maistres, und in so rein positiver 
Haltung und Plastik uns entgegenzutreten wie die 
Schriften K. L. v. Hallers. Adam Müller hatte 
sich durch die Vernunftspekulation Schellings hin- 
durchgewunden und die Widersprüche, die sie ihm 
zurückgelassen, durch einen höheren, übervernünf- 
tigen Glauben zu lösen gesucht, ohne es indessen zu 
einer klaren Auseinandersetzung dieser verschieden- 
artigen Elemente zu bringen. Das Vernunft- 
wissen blieb ihm beschränkt auf die Sinnenwelt 
und die Gegensätze, welche sie durchziehen und 
bewegen; alles Ubersinnliche dagegen wurde ihm 
Müller. 
  
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zum Gegenstande eines bloßen positiv-übernatür- 
lichen Offenbarungsglaubens als Quelle aller 
wahren Moral und alles höheren, urbildlichen, 
idealen Rechts. Ein solcher Offenbarungsglaube 
war aber trotz seiner sachlichen Berechtigung ein 
für die subjektive Vernunft völlig unmotivierter, 
irrationalistischer Glaube. Aus dieser unbefrie- 
digenden Wissens= und Glaubenslehre ergab sich 
von selber auch eine unbefriedigende Rechtslehre. 
Da nämlich alle wahre Religion und Moral und 
alles höhere, urbildliche Recht nach Müller der 
positiv-göttlichen Offenbarung entstammt, so mußte 
eine natürliche Religion und Moral und ein na- 
türlich-göttliches Recht, ein ideales Vernunftrecht 
oder Naturrecht ihm als bloße Schimäre erscheinen. 
Das Recht „der Stärke und des Stärkeren“ ist 
ihm also Naturrecht, und soweit es geltend ge- 
macht wird, auch positiv-menschliches Recht. Er 
berührt sich hierin mit Haller. Das Naturrecht 
ist nun allerdings (darin ist diesen Autoren bei- 
zupflichten) kein bloßes Erzeugnis des freien Ver- 
tragswillens aller einzelnen, es ist aber auch nicht, 
wie sie wollen, ein bloßer Machtwille des Stärke- 
ren, folglich ist auch das positiv-menschliche Recht 
nicht lediglich ein Machtwille, der mit überlegener 
Stärke sich Geltung verschafft. Wenn Müller 
sagt: „Das Recht ist nur, inwiefern es positiv 
und historisch bleibt; denn sein Wesen ist eben 
das Positive, wohlverstanden aber nicht das ge- 
schriebene Positive“ (Von der Notwendigkeit einer 
theologischen Grundlage der gesetzlichen Staats- 
wissenschaft 24/25), so streift er mit diesen Worten 
einen späterhin durch die historische Rechtsschule 
zum Ausdruck gebrachten Gedanken, welcher wohl 
die dem Gewohnheitsrecht im Verhältnis zum 
Gesetzgebungsrecht zukommende Bedeutung her- 
vorgehoben hat, aber ohne sattsamen Grund das 
Naturrecht preisgab, anstatt es richtig zu fassen 
und zu bestimmen. 
Adam Müller berührte sich mit Haller auch 
darin, daß er auf dessen Impuls hin den Staat 
in eine bloße Privatgemeinschaft erweiterten Um- 
fanges und das Staatsrecht in ein bloßes Privat- 
recht auflöste; dieses kann in Wahrheit aber nur 
als eine das staatliche Gemeinwesen nominalistisch 
verflüchtigende, völlig unzureichende Auffassung 
betrachtet werden. Mit Haller berührte er sich 
weiterhin in der Forderung der Wiederherstellung 
der durch die Revolution zugrunde gerichteten 
und zerstörten korporativen Bestände und Ver- 
bände. Es war dieses an und für sich ein ganz 
beachtenswerter Grundgedanke, wiewohl unser 
Autor in Verfolgung desselben mitunter Vorschläge 
machte, welche den Bedürfnissen der Zeit nicht 
entsprachen und unfruchtbar bleiben mußten. Aus 
dem Begriffe der Oberlehnsherrlichkeit Gottes er- 
gibt sich, nur um dieses eine zu erwähnen, nicht 
eine Oberlehnsherrlichkeit des irdischen Herrschers 
im Sinne des mittelalterlichen Lehnrechts als ein 
für immer anzustrebendes Ideal, also auch nicht 
eine im Sinne desselben gehaltene Organisation 
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