Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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testen erreicht und zugleich die Nationen vor allzu 
einseitiger Entwicklung und gegenseitiger starrer 
Absperrung bewahrt. Ebensogut als wir zu sagen 
berechtigt sind, die Scheidung des Menschen- 
geschlechts in Nationen sei ein Werk der Vor- 
sehung, können wir behaupten, die mannigfache 
staatliche Vermengung derselben liege im gött- 
lichen Weltplane. Hat doch Gott selbst die ganze 
jüdische Nation im Dienste seiner Vorsehung unter 
alle Völker der Erde zerstreut. Und ist die Tat- 
sache, daß wir immer und überall in der Ge- 
schichte dieser politischen Vermengung der Natio- 
nalitäten begegnen, ja daß dieselbe auch heute 
trotz aller Nationalitätsbestrebungen nicht aus der 
Welt geschafft werden kann, nicht der beste Be- 
weis, wie tief sie in den menschlichen Verhältnissen 
begründet ist? 
Dem Nationalitätsprinzip — und damit be- 
rühren wir die eigentlichste und tiefste Quelle 
dieses Irrtums — liegt eine materialistische, so- 
zusagen rein naturhistorische oder zoologische 
Auffassung des Menschengeschlechts zugrunde. 
Im Tierreich allerdings beruht die Vereinigung 
nur auf physischen Trieben und Neigungen. Trotz 
aller Ahnlichkeit vereinigen sich die Bienen und 
Ameisen nur immer mit Individuen desselben 
Stammes. Fremde Bienen werden in einem 
Bienenschwarm nie geduldet. So wird das ganze 
Tierreich, soweit es eine Analogie des geselligen 
Lebens bietet, nach den strengsten Forderungen des 
Nationalitätsprinzips eingeteilt. In der gleichen 
Weise sollte nun auch, der Forderung unserer 
Gegner zufolge, das Menschengeschlecht in Stämme 
eingeteilt werden. Bei der Staatenbildung sollten 
der Typus und die Nationalsprache allein maß- 
gebend sein. Aber gegen eine solche Auffassung 
des Menschengeschlechts müssen wir uns mit aller 
Entschiedenheit verwahren. Der Liberalismus 
gerät auch durch dieselbe in den offensten Wider- 
spruch mit sich selbst. Die Anhänger des Libera- 
lismus, wenigstens in seiner älteren Form, bauen 
sonst den ganzen Staat mit seiner Organisation 
auf die menschliche Freiheit, und nun wollen 
sie dem Nationalitätsprinzip zulieb die Staaten 
nach rein physiologischen, von der menschlichen 
Freiheit fast ganz unabhängigen Rücksichten ein- 
geteilt sehen. Aber auch abgesehen von diesem 
Widerspruch, ist die genannte Anschauung völlig 
unhaltbar und des Menschen unwürdig. Die 
Stammverwandtschaft wird allerdings auch bei 
der Staatenbildung mitwirken. Die Menschen 
werden im allgemeinen eine Neigung haben, sich 
mit denen politisch zu vereinen, denen sie ver- 
wandter und ähnlicher sind. Aber trotz dieser 
Neigung bleiben sie in Bezug auf die konkrete Art 
und Weise der Staatsbildung frei, zumal da jener 
Neigung oft andere, mächtigere Ursachen entgegen- 
wirken, welche eine politische Trennung derselben 
Nation oder die politische Vereinigung verschie- 
dener Nationen zur Folge haben. Auch in der 
Ehe wird die Neigung im allgemeinen Individuen 
  
Nation usw. 
  
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derselben Nationalität zusammenführen; die Fa- 
milie wird also vorwiegend einen nationalen Cha- 
rakter zeigen. Trotzdem werden manchmal Ehen 
zwischen Gatten verschiedener Nationalität ein- 
gegangen, weil eben die Vereinigung unter den 
Menschen sich nicht nach rein physiologischen Mo- 
menten vollzieht, sondern vor allem ein Werk der 
Freiheit ist. Ganz dasselbe gilt von der Ent- 
stehung der Staaten. Die örtliche Lage, die Vor- 
teile des Handels und des gegenseitigen Schutzes, 
eine gemeinsame längere ruhmreiche Geschichte und 
ähnliche Ursachen werden oft mächtiger auf die 
Entstehung oder Erhaltung der Staaten wirken 
als die bloße Stammverwandtschaft. Die Natio- 
nalitäten werden durch diese staatliche Vereinigung 
nicht zerstört, wohl aber vor egoistischer Isolierung 
bewahrt und zum Zusammenwirken am Fortschritt 
des Menschengeschlechts hingeführt, so daß die 
Vielheit der Nationen ihre Einigung nicht hindert 
und so auch in Bezug auf die Nationen das große 
Weltgesetz von der harmonischen Einigung des 
Mannigfaltigen sich bewährt. 
Neuere Staatsrechtslehrer, wie Mohl und 
Bluntschli, rechnen es dem Fortschritt der mo- 
dernen liberalen Wissenschaft zugute, daß die 
Nationalitätenfrage mehr in den Vordergrund der 
rechtswissenschaftlichen Erörterungen getreten ist. 
Wir wollen dem modernen Liberalismus dieses 
Verdienst, wenn es eines ist, nicht streitig machen; 
namentlich geben wir gerne zu, daß das Natio- 
nalitätsprinzip eine völlig moderne Erfindung ist. 
Solange die europäischen Völker sich als Glieder 
einer großen christlichen Völkerfamilie 
fühlten, solange das Band desselben Glaubens 
alle umschlang und zu großen gemeinsamen Unter- 
nehmungen für ideale Ziele vereinigte, traten die 
nationalen Gegensätze zurück. Nicht als ob man 
damals die Heimat mit ihrer Sprache, ihren Ge- 
bräuchen und Sitten weniger innig geliebt hätte; 
aber die glühendste Vaterlandsliebe war gepaart mit 
dem Geiste christlicher Duldung und Nächstenliebe 
gegen andere Nationen (s. Bd II, Sp. 323). Zudem 
war das zentralistische Bestreben der Neuzeit, die 
sich darin gefällt, alle organisch gesonderten, natur- 
wüchsig aus dem Volke hervorkeimenden Gebilde 
einer allgemeinen Gleichmacherei zulieb zu ver- 
nichten, völlig unbekannt. Daher fehlte es auch 
an jenen offenen oder geheimen Feindseligkeiten 
gegen die nationale Eigentümlichkeit, die in einem 
kurzsichtigen Streben nach Einheit und Macht 
wurzeln und beständig nationale Abneigung und 
Erbitterung wachrufen und erhalten. 
Die Glaubensspaltung zerrif dieses ein- 
heitliche Band des Glaubens und der Liebe und 
setzte an Stelle der einen, alle Völker umfassenden 
Universalkirche Territorialkirchen (ugl. Sp. 130), 
deren Grenzpfähle nicht weiter reichen als die 
des Staates. Mit den Gegensätzen im religiösen 
Leben schärften sich auch die nationalen Gegensätze. 
Doch erst dem 19. Jahrh. war es vorbehalten, 
die Nationalitätenfrage zu einer Grundlage der
	        
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