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testen erreicht und zugleich die Nationen vor allzu
einseitiger Entwicklung und gegenseitiger starrer
Absperrung bewahrt. Ebensogut als wir zu sagen
berechtigt sind, die Scheidung des Menschen-
geschlechts in Nationen sei ein Werk der Vor-
sehung, können wir behaupten, die mannigfache
staatliche Vermengung derselben liege im gött-
lichen Weltplane. Hat doch Gott selbst die ganze
jüdische Nation im Dienste seiner Vorsehung unter
alle Völker der Erde zerstreut. Und ist die Tat-
sache, daß wir immer und überall in der Ge-
schichte dieser politischen Vermengung der Natio-
nalitäten begegnen, ja daß dieselbe auch heute
trotz aller Nationalitätsbestrebungen nicht aus der
Welt geschafft werden kann, nicht der beste Be-
weis, wie tief sie in den menschlichen Verhältnissen
begründet ist?
Dem Nationalitätsprinzip — und damit be-
rühren wir die eigentlichste und tiefste Quelle
dieses Irrtums — liegt eine materialistische, so-
zusagen rein naturhistorische oder zoologische
Auffassung des Menschengeschlechts zugrunde.
Im Tierreich allerdings beruht die Vereinigung
nur auf physischen Trieben und Neigungen. Trotz
aller Ahnlichkeit vereinigen sich die Bienen und
Ameisen nur immer mit Individuen desselben
Stammes. Fremde Bienen werden in einem
Bienenschwarm nie geduldet. So wird das ganze
Tierreich, soweit es eine Analogie des geselligen
Lebens bietet, nach den strengsten Forderungen des
Nationalitätsprinzips eingeteilt. In der gleichen
Weise sollte nun auch, der Forderung unserer
Gegner zufolge, das Menschengeschlecht in Stämme
eingeteilt werden. Bei der Staatenbildung sollten
der Typus und die Nationalsprache allein maß-
gebend sein. Aber gegen eine solche Auffassung
des Menschengeschlechts müssen wir uns mit aller
Entschiedenheit verwahren. Der Liberalismus
gerät auch durch dieselbe in den offensten Wider-
spruch mit sich selbst. Die Anhänger des Libera-
lismus, wenigstens in seiner älteren Form, bauen
sonst den ganzen Staat mit seiner Organisation
auf die menschliche Freiheit, und nun wollen
sie dem Nationalitätsprinzip zulieb die Staaten
nach rein physiologischen, von der menschlichen
Freiheit fast ganz unabhängigen Rücksichten ein-
geteilt sehen. Aber auch abgesehen von diesem
Widerspruch, ist die genannte Anschauung völlig
unhaltbar und des Menschen unwürdig. Die
Stammverwandtschaft wird allerdings auch bei
der Staatenbildung mitwirken. Die Menschen
werden im allgemeinen eine Neigung haben, sich
mit denen politisch zu vereinen, denen sie ver-
wandter und ähnlicher sind. Aber trotz dieser
Neigung bleiben sie in Bezug auf die konkrete Art
und Weise der Staatsbildung frei, zumal da jener
Neigung oft andere, mächtigere Ursachen entgegen-
wirken, welche eine politische Trennung derselben
Nation oder die politische Vereinigung verschie-
dener Nationen zur Folge haben. Auch in der
Ehe wird die Neigung im allgemeinen Individuen
Nation usw.
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derselben Nationalität zusammenführen; die Fa-
milie wird also vorwiegend einen nationalen Cha-
rakter zeigen. Trotzdem werden manchmal Ehen
zwischen Gatten verschiedener Nationalität ein-
gegangen, weil eben die Vereinigung unter den
Menschen sich nicht nach rein physiologischen Mo-
menten vollzieht, sondern vor allem ein Werk der
Freiheit ist. Ganz dasselbe gilt von der Ent-
stehung der Staaten. Die örtliche Lage, die Vor-
teile des Handels und des gegenseitigen Schutzes,
eine gemeinsame längere ruhmreiche Geschichte und
ähnliche Ursachen werden oft mächtiger auf die
Entstehung oder Erhaltung der Staaten wirken
als die bloße Stammverwandtschaft. Die Natio-
nalitäten werden durch diese staatliche Vereinigung
nicht zerstört, wohl aber vor egoistischer Isolierung
bewahrt und zum Zusammenwirken am Fortschritt
des Menschengeschlechts hingeführt, so daß die
Vielheit der Nationen ihre Einigung nicht hindert
und so auch in Bezug auf die Nationen das große
Weltgesetz von der harmonischen Einigung des
Mannigfaltigen sich bewährt.
Neuere Staatsrechtslehrer, wie Mohl und
Bluntschli, rechnen es dem Fortschritt der mo-
dernen liberalen Wissenschaft zugute, daß die
Nationalitätenfrage mehr in den Vordergrund der
rechtswissenschaftlichen Erörterungen getreten ist.
Wir wollen dem modernen Liberalismus dieses
Verdienst, wenn es eines ist, nicht streitig machen;
namentlich geben wir gerne zu, daß das Natio-
nalitätsprinzip eine völlig moderne Erfindung ist.
Solange die europäischen Völker sich als Glieder
einer großen christlichen Völkerfamilie
fühlten, solange das Band desselben Glaubens
alle umschlang und zu großen gemeinsamen Unter-
nehmungen für ideale Ziele vereinigte, traten die
nationalen Gegensätze zurück. Nicht als ob man
damals die Heimat mit ihrer Sprache, ihren Ge-
bräuchen und Sitten weniger innig geliebt hätte;
aber die glühendste Vaterlandsliebe war gepaart mit
dem Geiste christlicher Duldung und Nächstenliebe
gegen andere Nationen (s. Bd II, Sp. 323). Zudem
war das zentralistische Bestreben der Neuzeit, die
sich darin gefällt, alle organisch gesonderten, natur-
wüchsig aus dem Volke hervorkeimenden Gebilde
einer allgemeinen Gleichmacherei zulieb zu ver-
nichten, völlig unbekannt. Daher fehlte es auch
an jenen offenen oder geheimen Feindseligkeiten
gegen die nationale Eigentümlichkeit, die in einem
kurzsichtigen Streben nach Einheit und Macht
wurzeln und beständig nationale Abneigung und
Erbitterung wachrufen und erhalten.
Die Glaubensspaltung zerrif dieses ein-
heitliche Band des Glaubens und der Liebe und
setzte an Stelle der einen, alle Völker umfassenden
Universalkirche Territorialkirchen (ugl. Sp. 130),
deren Grenzpfähle nicht weiter reichen als die
des Staates. Mit den Gegensätzen im religiösen
Leben schärften sich auch die nationalen Gegensätze.
Doch erst dem 19. Jahrh. war es vorbehalten,
die Nationalitätenfrage zu einer Grundlage der