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völkerrechtlichen Beziehungen zu machen, mit dem
Nationalitätsprinzip die Nationen untereinander
enger zusammen-, gegen andere aber schärfer ab-
zuschließen, so daß man infolge der nationalen
Hetzereien fast die Rückkehr jener Zeiten fürchten
muß, wo jeder Angehörige einer andern Nation
als hostis angesehen wurde. In Italien wurde
zuerst von den Geheimbünden und Umsturzparteien
das Nationalitätsprinzip als Losungswort unter
die Massen geschleudert. Damit war dem Kirchen-
staat, auf dessen Vernichtung es zumeist abgesehen
war, das Todesurteil gesprochen, ebenso den öster-
reichischen Besitzungen jenseits der Alpen. Wir
sind aber noch lange nicht am Ende der Natio-
nalitätsbewegung angekommen. Noch gehen ein-
flußreiche Bestrebungen in Italien, Deutschland,
Rußland auf neue „Annexionen“ national verwand-
ter Stämme. Ja es hat den Anschein, als ob die
nationalen Gegensätze einen immer größeren Um-
fang, eine wachsende Intensität gewinnen sollten.
Im Osten droht der Panslawismus, im Norden
plant man eine Vereinigung aller skandinavischen
Völker, im Westen und Süden ist schon die Idee
einer Konföderation der romanischen Nationen
gegen den Germanismus aufsgetaucht. Osterreich
ist in Gefahr, infolge des Nationalitätenhaders
auseinander zu fallen. Eine italienische „Irre-
denta“ hat es im Süden, eine alldeutsche im
Norden; das radikale Slawentum gravitiert zum
Teil nach dem stammverwandten Rußland; dazu
kommt der Gegensatz der Magyaren in Ungarn
zu den andern Volksstämmen des Donaureiches.
Bluntschli und andere glaubten oder glauben den
nationalen Antipathien die allgemeine Verbrüde-
rung auf Grund der Humanität als Panacee ent-
gegensetzen zu können. Aber nimmer wird diese
verschwommene Menschenliebe, dieses Weltbürger-
tum die nationalen Gegensätze überwinden. Nur
auf dem Grunde der Verbrüderung in Christus
läßt sich wieder eine dauernde, alle Gegensätze
überbrückende Einigung der Völker zu einer großen
Völkerfamilie erhoffen.
Literatur. Th. Meyer, Grundsätze der Sittlich-
keit u. des Rechts (1868) Nr 273 ff u. desselben In-
stitutiones iuris natur. II, n. 336 ff; Hammerstein,
Kirche u. Staat (1883) 202 ff; Stöckl, Das Chri-
stentum u. die großen Fragen der Gegenwart II
(1880) 389 f; C. Frantz, Die Naturlehre des
Staates (1871) 139; Held, Staat u. Gesellschaft 1
(1861) 526 ff; Erdmann, Nationalitätsprinzip
(1862); Ahrens, Naturrecht II (1871) 333; Eöt-
vös, Die Nationalitätsfrage (1865); Dove, Der
Wiedereintritt des nationalen Prinzips in die
Weltgeschichte (1890); Graf Seherr-Toß in der
Deutschen Revue 1892; Neumann, Volk u. Nation
(1888); Jellinek, Allgemeine Staatslehre (1900
104 ff; Urba, Der Nationalitäten= u. Verfassungs-
konflikt in Osterreich (1900); Fried, über das
sprachlich nationale Recht in polyglotten Staaten
(1899); Berolzheimer, System der Rechts= u. Wirt-
schaftsphilosophie III (1906) 199f; Cathrein, Mo-
ralphilosophie II1709 ff. Vom sozialdemokratischen
Standpunkt behandeln die Nationalitätenfrage:
—
Nationalkirche — Naturrecht usw.
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Rud. Springer (Karl Renner), Der Kampf der
österreichischen Nationen um den Staat (1802);
O. Bauer, Die Nationalitätenfrage u. die Sozial-
demokratie (1907); Kautsky, Nationalität u. Inter-
nationalität (1908). [Cathrein S. J.)
Nationalkirche s. Staatskirche.
Nationalliberale Partei s. Parteien,
politische.
Mationalöronomie s. Volkswirtschafts-
lehre.
Nativismus s. Staatsangehörigkeit.
Naturalisation s. Staatsangehörigkeit.
Naturrecht und Rechtsphilosophie.
[Begriff; Charakter, Verhältnis zur Moral und
zum positiven Recht; Naturrecht als selbständige
Wissenschaft, seine Entwicklung nach Abstreifung
des „theokratischen Charakters“; Einseitige Re-
aktion gegen das Naturrecht durch die „historische
Schule“; „Rechtsphilosophie“ an Stelle des Na-
turrechts; Notwendigkeit der prinzipiellen Aner-
kennung und Wiederherstellung des Naturrechts.)
I. Begriff. 1. Wie wir Recht in subjektiver
und objektiver Beziehung unterscheiden, so gilt dies
auch bezüglich des Naturrechts. In subjektiver
Bedeutung heißt Naturrecht (natürliches Recht)
jede natürliche Rechtsbefugnis, die einer Person
als einem Rechtssubjekte unabhängig vom posi-
tiven Gesetze zukommt und der von anderer Seite
entsprechende natürliche Rechtspflichten gegenüber-
stehen. Diese beiden Korrelate, natürliche Rechte
und entsprechende Rechtspflichten, bilden zusammen
ein natürliches Rechtsverhältnis; dieses aber gehört
zugleich zum Inhalt des Naturrechts in objektiver
Bedeutung. Hier nun führt uns der objektive Be-
griff von Recht (ius) im allgemeinen, welches nach
dem hl. Thomas Gesetz (iussum) bezeichnet, auf
die wahre objektive Bedeutung des Naturrechts
als eines natürlichen Gesetzes oder des Inbegriffs
natürlicher Gesetzesnormen, entsprechend dem iu-
stum naturale.
2. Allein auch unter dieser allgemeinen Wesens-
bestimmung läßt die Bezeichnung Naturrecht, eben-
so wie Recht überhaupt, eine weitere und eine
engere Auffassung zu, je nachdem es auf das all-
gemeine moralische Gebiet ausgedehnt oder auf das
spezielle Gebiet der Gerechtigkeit beschränkt wird.
Imweiteren Sinne ist daher das Naturrecht gleich-
bedeutend mit dem objektiven Inhalt des gesamten
Naturgesetzes legis naturalis), d. i. des natür-
lichen Sittengesetzes. Es umfaßt somit alle jene
Gesetzesnormen für das freie menschliche Handeln
(die religiösen und ethischen sowohl wie die sozial-
rechtlichen), welche in der vernünftigen Natur des
Menschen begründet und in dessen Vernunft durch
den göttlichen Schöpfungsakt promulgiert sind.
In dieser weiteren Auffassung läßt sich also das
Naturrecht definieren als der Inbegriff aller aus
dem Naturgesetze durch die natürliche Vernunft
abgeleiteten sittlichen Pflichten und Rechte. Im
engeren Sinne beschränkt sich die Bezeichnung
Naturrecht auf einen besonderen Teil des ersteren,