Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

1291 
völkerrechtlichen Beziehungen zu machen, mit dem 
Nationalitätsprinzip die Nationen untereinander 
enger zusammen-, gegen andere aber schärfer ab- 
zuschließen, so daß man infolge der nationalen 
Hetzereien fast die Rückkehr jener Zeiten fürchten 
muß, wo jeder Angehörige einer andern Nation 
als hostis angesehen wurde. In Italien wurde 
zuerst von den Geheimbünden und Umsturzparteien 
das Nationalitätsprinzip als Losungswort unter 
die Massen geschleudert. Damit war dem Kirchen- 
staat, auf dessen Vernichtung es zumeist abgesehen 
war, das Todesurteil gesprochen, ebenso den öster- 
reichischen Besitzungen jenseits der Alpen. Wir 
sind aber noch lange nicht am Ende der Natio- 
nalitätsbewegung angekommen. Noch gehen ein- 
flußreiche Bestrebungen in Italien, Deutschland, 
Rußland auf neue „Annexionen“ national verwand- 
ter Stämme. Ja es hat den Anschein, als ob die 
nationalen Gegensätze einen immer größeren Um- 
fang, eine wachsende Intensität gewinnen sollten. 
Im Osten droht der Panslawismus, im Norden 
plant man eine Vereinigung aller skandinavischen 
Völker, im Westen und Süden ist schon die Idee 
einer Konföderation der romanischen Nationen 
gegen den Germanismus aufsgetaucht. Osterreich 
ist in Gefahr, infolge des Nationalitätenhaders 
auseinander zu fallen. Eine italienische „Irre- 
denta“ hat es im Süden, eine alldeutsche im 
Norden; das radikale Slawentum gravitiert zum 
Teil nach dem stammverwandten Rußland; dazu 
kommt der Gegensatz der Magyaren in Ungarn 
zu den andern Volksstämmen des Donaureiches. 
Bluntschli und andere glaubten oder glauben den 
nationalen Antipathien die allgemeine Verbrüde- 
rung auf Grund der Humanität als Panacee ent- 
gegensetzen zu können. Aber nimmer wird diese 
verschwommene Menschenliebe, dieses Weltbürger- 
tum die nationalen Gegensätze überwinden. Nur 
auf dem Grunde der Verbrüderung in Christus 
läßt sich wieder eine dauernde, alle Gegensätze 
überbrückende Einigung der Völker zu einer großen 
Völkerfamilie erhoffen. 
Literatur. Th. Meyer, Grundsätze der Sittlich- 
keit u. des Rechts (1868) Nr 273 ff u. desselben In- 
stitutiones iuris natur. II, n. 336 ff; Hammerstein, 
Kirche u. Staat (1883) 202 ff; Stöckl, Das Chri- 
stentum u. die großen Fragen der Gegenwart II 
(1880) 389 f; C. Frantz, Die Naturlehre des 
Staates (1871) 139; Held, Staat u. Gesellschaft 1 
(1861) 526 ff; Erdmann, Nationalitätsprinzip 
(1862); Ahrens, Naturrecht II (1871) 333; Eöt- 
vös, Die Nationalitätsfrage (1865); Dove, Der 
Wiedereintritt des nationalen Prinzips in die 
Weltgeschichte (1890); Graf Seherr-Toß in der 
Deutschen Revue 1892; Neumann, Volk u. Nation 
(1888); Jellinek, Allgemeine Staatslehre (1900 
104 ff; Urba, Der Nationalitäten= u. Verfassungs- 
konflikt in Osterreich (1900); Fried, über das 
sprachlich nationale Recht in polyglotten Staaten 
(1899); Berolzheimer, System der Rechts= u. Wirt- 
schaftsphilosophie III (1906) 199f; Cathrein, Mo- 
ralphilosophie II1709 ff. Vom sozialdemokratischen 
Standpunkt behandeln die Nationalitätenfrage: 
— 
Nationalkirche — Naturrecht usw. 
  
1292 
Rud. Springer (Karl Renner), Der Kampf der 
österreichischen Nationen um den Staat (1802); 
O. Bauer, Die Nationalitätenfrage u. die Sozial- 
demokratie (1907); Kautsky, Nationalität u. Inter- 
nationalität (1908). [Cathrein S. J.) 
Nationalkirche s. Staatskirche. 
Nationalliberale Partei s. Parteien, 
politische. 
Mationalöronomie s. Volkswirtschafts- 
lehre. 
Nativismus s. Staatsangehörigkeit. 
Naturalisation s. Staatsangehörigkeit. 
Naturrecht und Rechtsphilosophie. 
[Begriff; Charakter, Verhältnis zur Moral und 
zum positiven Recht; Naturrecht als selbständige 
Wissenschaft, seine Entwicklung nach Abstreifung 
des „theokratischen Charakters“; Einseitige Re- 
aktion gegen das Naturrecht durch die „historische 
Schule“; „Rechtsphilosophie“ an Stelle des Na- 
turrechts; Notwendigkeit der prinzipiellen Aner- 
kennung und Wiederherstellung des Naturrechts.) 
I. Begriff. 1. Wie wir Recht in subjektiver 
und objektiver Beziehung unterscheiden, so gilt dies 
auch bezüglich des Naturrechts. In subjektiver 
Bedeutung heißt Naturrecht (natürliches Recht) 
jede natürliche Rechtsbefugnis, die einer Person 
als einem Rechtssubjekte unabhängig vom posi- 
tiven Gesetze zukommt und der von anderer Seite 
entsprechende natürliche Rechtspflichten gegenüber- 
stehen. Diese beiden Korrelate, natürliche Rechte 
und entsprechende Rechtspflichten, bilden zusammen 
ein natürliches Rechtsverhältnis; dieses aber gehört 
zugleich zum Inhalt des Naturrechts in objektiver 
Bedeutung. Hier nun führt uns der objektive Be- 
griff von Recht (ius) im allgemeinen, welches nach 
dem hl. Thomas Gesetz (iussum) bezeichnet, auf 
die wahre objektive Bedeutung des Naturrechts 
als eines natürlichen Gesetzes oder des Inbegriffs 
natürlicher Gesetzesnormen, entsprechend dem iu- 
stum naturale. 
2. Allein auch unter dieser allgemeinen Wesens- 
bestimmung läßt die Bezeichnung Naturrecht, eben- 
so wie Recht überhaupt, eine weitere und eine 
engere Auffassung zu, je nachdem es auf das all- 
gemeine moralische Gebiet ausgedehnt oder auf das 
spezielle Gebiet der Gerechtigkeit beschränkt wird. 
Imweiteren Sinne ist daher das Naturrecht gleich- 
bedeutend mit dem objektiven Inhalt des gesamten 
Naturgesetzes legis naturalis), d. i. des natür- 
lichen Sittengesetzes. Es umfaßt somit alle jene 
Gesetzesnormen für das freie menschliche Handeln 
(die religiösen und ethischen sowohl wie die sozial- 
rechtlichen), welche in der vernünftigen Natur des 
Menschen begründet und in dessen Vernunft durch 
den göttlichen Schöpfungsakt promulgiert sind. 
In dieser weiteren Auffassung läßt sich also das 
Naturrecht definieren als der Inbegriff aller aus 
dem Naturgesetze durch die natürliche Vernunft 
abgeleiteten sittlichen Pflichten und Rechte. Im 
engeren Sinne beschränkt sich die Bezeichnung 
Naturrecht auf einen besonderen Teil des ersteren,
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.