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dem letzteren und dem Naturrecht ein, dem es
offenbar, wenn nicht der Form, so doch dem In-
halte nach angehört, während das ius eivils dem
Inhalte und der Form nach als positives mensch-
liches Recht galt.
Die Klarstellung dieser Lehre, die übrigens
ihre Anhaltspunkte schon bei Aristoteles findet,
namentlich in seiner Einteilung des in einem
Staate geltenden Rechts (S#####ov Kol##é) in
ein solches, welches er pvo##é, (ein dem Inhalte
nach natürliches), und ein solches, welches er
vohtay' (menschlich legales) nennt (Ethic. Nic.
5, 10, 1134 b, 18), ist heute nicht ohne prak-
tisches Interesse. Gegenüber dem bereits mehr-
fach unternommenen Versuch, nämlich unter An-
rufung der Autorität des hl. Thomas gewisse
allgemein bestehende gesellschaftliche Einrichtungen,
die derselbe unter dem positiven ius gentium be-
greist, insbesondere das Privateigentum, als
gleichwertig mit jedem andern menschlichen Recht
der Willkür menschlicher Reformbestrebungen aus-
zuliefern, ist es von hoher Wichtigkeit, die wahre
Ansicht des Englischen Lehrers bezüglich des ius
gentium und seines Verhältnisses zum jus na-
turale ausdrücklich zu konstatieren. Die Aus-
führungen des hl. Thomas selbst haben uns dar-
über keinen Zweifel übrig gelassen, indem er
wiederholt eben dieses ius gentium, welches er
bezüglich der Gesetzesform dem positiven Recht
beizählte, gleichwohl inhaltlich (als iustum na-
turale) dem eigentlichen Naturrecht gleichzustellen
kein Bedenken trug, wie denn auch in dieser Eigen-
schaft allein der Grund lag, warum es als ein
allen Völkern gemeinsames dem wandelbaren be-
sondern Nationalrecht, dem ius civile, gegenüber-
gestellt wurde (S. theol. 2, 2, d. 67, a. 2 et 3;
vgl. Cathrein im Philosoph. Jahrbuch 1889, II,
Art.: Das lus gentium usw.; — vgl. Bd II,
Sp. 492).
4. Eine noch engere Fassung des Naturrechts
gegenüber dem ius gentium findet sich bei einem
Teil der römischen Juristen, doch hat dieselbe später
in der christlichen Schule keine wirkliche Geltung
erlangt. Sie gründet sich auf die materielle Ver-
schiedenheit des Inhaltes (materia) der als not-
wendig erkannten praktischen Forderungen der
Vernunft. Ausgehend von der Scheidung zwi-
schen Geist und Natur, Geistesleben und Sinnes-
leben, erkannte man im Menschen nur das als
eigentlich zur „Natur“ gehörig an, was derselbe
mit den Tieren gemein hat, mit Ausschluß dessen,
was ihn als Vernunftwesen, als Mensch kenn-
zeichnet. So kam es, daß man unter dem Namen
Naturrecht nur jene Forderungen der Vernunft
verstand, welche sich auf Gegenstände beziehen,
die zum Tierleben naturgemäß überhaupt not-
wendig, daher auch dem instinktiven Erkennen
der Tiere nahegelegt sind, während alle jene,
welche sich auf das freie menschliche Vernunftleben
beziehen, dem ius gentium beigezählt wurden.
Daraus entstand das später wenig verstandene
Naturrecht usw.
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und viel mißbrauchte Arxiom: Lus naturae est,
duod natura omnia animalia docuit, und die
Erklärung: Ius naturale zest, duod omnibus
animalibus, ins gentium, qduod solis homini-
bus inter se commune est. Damit sollte jedoch
nach der Absicht dieser Juristen lediglich eine theo-
retisch -wissenschaftliche Unterscheidung gegeben,
nicht aber das ius naturale als von der Vernunft
emanzipiert erklärt werden (vgl. St Thomas in
Aristot. Ethic. 5, lect. 12; Supplem. q. 65,
a. 1 ad 4). Es wäre daher ein schwerer Irrtum,
zu glauben, das Wesen des Naturrechts werde
hier als gleichbedeutend mit einem gänzlich recht-
losen Zustand oder als das im Tierreich herr-
schende brutale „Recht des Stärkeren“ hingestellt.
Spuren dieses Mißverständnisses lassen sich in
der Tat unschwer entdecken in der bekannten Fik-
tion jenes tierischen „Naturzustandes“, aus dem
obbes (s. Bd II, Sp. 1241) die menschliche und
bürgerliche Gesellschaft durch einen künstlichen, vom
Selbsterhaltungstrieb eingegebenen Sozialvertrag
hervorgehen läßt.
5. Ubrigens gehört die ganze der älteren Rechts-
wissenschaft so geläufige Unterscheidung zwischen
ius naturale und ijus gentium heute nur noch
der Geschichte an. Schon im 17. Jahrh. kam
dieselbe der Sache nach mehr und mehr außer
Gebrauch, wenn auch die systematischen Bearbei-
tungen des Naturrechts noch mehrfach die Über-
schrift trugen: De iure naturae et gentium,
z. B. bei Pufendorf, Heineccius u. a. Was
bisher unter dem Namen ius gentium eine Art
Mittelglied zwischen dem natürlichen und dem
positiven Recht gebildet hatte, wurde nun vielmehr
in dem Namen Naturrecht einbegriffen und so das
eigentliche positive menschliche Recht in strengere
Grenzen gefaßt. Dabei wurde jedoch nicht aus-
geschlossen, daß das an sich natürliche Recht über-
dies positiv-rechtliche Geltung erhalten und in-
sofern zugleich der einen oder der andern Ordnung
angehören kann, wie dies tatsächlich bezüglich
des größeren Teiles der natürlichen Rechte der
Fall ist. Obwohl die ältere Auffassung nicht nur
in der Sache logisch wohl begründet, sondern auch
durch die Tradition der christlichen Wissenschaft
und ihrer hervorragendsten Vertreter ehrwürdig
und beglaubigt war, so läßt sich gleichwohl ander-
seits der unter veränderten Zeitumständen er-
wachsenen Neuerung wenigstens ein gewisser Vor-
zug der Einfachheit und Klarheit schwerlich ab-
sprechen. Sie wird deshalb auch in der oben
aufgestellten Begriffsbestimmung des Naturrechts
im weiteren und engeren Sinne unbedenklich vor-
ausgesettt.
II. Charakter, VPerhältnis zur Moral
und zum positiven Recht. Aus dem wahren
Begriff des Naturrechts ergeben sich zugleich seine
charakteristischen Eigenschaften. Dabei kommen
hauptsächlich drei Momente in Betracht: 1. sein
unmittelbares Prinzip, das „Naturgesetz“ (lex
naturalis), 2. seine Beziehung zu dem in Gott