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historische Recht, wenn auch in verhüllter Form,
niedergelegt. Die Folge war, daß der größte
Teil der umfangreichen naturrechtlichen und poli-
tischen Literatur während der ersten Dezennien
des 19. Jahrh. mehr oder weniger deutlich den-
selben Charakter trug, den man als die Theorie
des doktrinären Liberalismus bezeichnen kann. Es
mag hier genügen, Rotteck (1775/1840) als einen
der hervorragendsten Vertreter dieser Richtung zu
nennen.
Die Wirkung des Kantschen Rechtsindividua-
lismus wurde um so nachhaltiger, als inzwischen
im Ausland die Entwicklung des Naturrechts auf
einem ganz andern Wege ungefähr zu demselben
Resultat geführt hatte. Schon fast gleichzeitig mit
Grotius hatte der Engländer Thomas Hobbes
(1588/1679) das Naturrecht durch Fälschung der
vernünftigen Menschennatur tatsächlich auf eine
zum Teil materialistische Grundlage gestellt und
vermittels seines „Sozialvertrages“ im Interesse
des Friedens (I) die Theorie eines unbeschränkten
königlichen Absolutismus ausgebildet. Unter dem
Einfluß der von Baco von Verulam (1561/1626)
gegründeten empirischen Philosophie erhielt sich
zwar in England ein zum Sensualismus und
schließlich zum Materialismus hinneigender reali-
stischer Zug, der sich von da bald auch nach Frank-
reich verpflanzte. Allein eben diese Unterlage diente
nun Locke (1632/1704) dazu, um im Gegensatz
zu Hobbes die eigentliche Schule der modernen
Demokratie zu begründen. In Frankreich ent-
wickelte sich darauf unter der Führung von Män-
nern wie Condillac (1715/80) und J. J. Rous-
seau (1712/78) und unter dem Einfluß zahlreicher
Geistesverwandten einerseits die materialistische
Weltanschauung, anderseits das Naturrecht als
Theorie des demokratischen Rechtsindividualismus
und der Revolution, während in England der
Utilitarismus nach den Ideen von Bentham,
Stuart Mill u. a. teils als Moralprinzip teils als
Prinzip der Politik mehr und mehr zur Herrschaft
gelangte.
In Deutschland, wo nach der Kantschen Schule
die idealistische Richtung der Philosophie ihren
geeigneten Boden fand, kam endlich das Naturrecht
unter den direkten Einfluß der neuen pantheisti-
schen Spekulation durch Schelling (1775/1854)
und besonders durch Hegel (1770/1831), denen
hierin bereits Spinoza (1632/77), wenn auch in
ganz anderer Weise, vorangegangen war. Der
falsche „Obiektivismus“, durch den der Pantheis-
mus den bisher herrschenden „subjektiven Indi-
vidualismus" des Naturrechts zu überwinden und
dem monarchischen Staat ungefährlicher zu machen
suchte, war kein Heilmittel, sondern im Gegenteil
ein neuer tödlicher Schlag gegen das wahre Natur-
recht und dessen einzig wahre Objektivität, welche
durch Vermittlung der Vernunft in dem „ewigen
Gesetze" des persönlichen Gottes wurzelt. Da nun
Hegel an die Stelle des „ewigen Gesetzes“ den
unpersönlichen „Weltgeist“ oder „universalen
Naturrecht usw.
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Willen“ setzt und diesen im Staate selbst sich ver-
körpern läßt (Grundlinien der Philosophie des
Rechts 88 157/172), so ist klar, daß hier das
ganze Naturrecht zugunsten des Staats-Gottes,
der absoluten Quelle alles Rechts, einfach abzu-
danken hat. Wie durch Kants „autonome Ver-
nunft“ das Privatleben des einzelnen Menschen,
so war durch Hegels Staatslehre auch das öffent-
liche Leben der gesamten Menschheit von jedem
Gesetz eines überirdischen Gottes emanzipiert.
Damit war nicht nur jede Anlehnung an die
schützende Garantie der von Gott, dem Urheber
des Naturrechts, eingesetzten kirchlichen Lehrgewalt,
sondern überhaupt jede höher Berufungsinstanz
beseitigt, das Ergebnis war Atheismus in Wissen-
schaft und Leben, Revolution und Gewaltrecht in
der Politik. (Uber Hegels Stellung zum Natur-
recht s. Bd II, Sp. 1198 f.)
IV. Einseitige Reaktion; die historische
Schule. Nach all dem ist es begreiflich, wenn das
Naturrecht überhaupt in den Augen ordnungs-
liebender und christlich-konservativer Menschen
mehr und mehr in Mißkredit und Verachtung
geriet. Es war freilich nur eine lügenhafte An-
maßung, wenn die Vertreter des sozialen und
politischen Radikalismus ihre destruktive Theorie
und berückenden Schlagwörter schlechthin „das
Naturrecht“ nannten. Statt nur den Mißbrauch
des Naturrechts zu verurteilen, konnte man in
konservativen Leitartikeln und in Büchern die
großen Parteien jener Zeit nach dem dreifachen
Recht: dem Naturrecht, dem geschichtlichen Recht
und dem göttlichen Recht, klassifiziert sehen, wobei
dem Radikalismus das Naturrecht, dem spezifisch
katholischen Standpunkt das göttliche Recht und
der protestantisch-konservativen Anschauung das
historische Recht als Basis und eigenstes Feld zu-
gewiesen wurde. Auch die Regierungen teilten
nun die konservative Furcht vor dem „Naturrecht“
und beeilten sich, fast allenthalben auf den Hoch-
schulen diesen Zweig aus der Reihe der philo-
sophischen Fächer zu streichen und es den Pro-
fessoren der Jurisprudenz anheimzustellen, dem-
selben etwa in der Einleitung eine dürftige Be-
rücksichtigung zuzuwenden.
Diein Deutschland gegen die Mittedes 19. Jahrh.
aufblühende historische Schule der Rechts-
wissenschaft (s. Bd II, Sp. 1603) war an sich
eine höchst wirksame Reaktion gegen jene beklagens-
werten Auswüchse des Naturrechts. Es bleibt ihr
unbestrittenes Verdienst, die Geister von den leeren
Abstraktionen der sog. „reinen Vernunft“ wieder
mehr der geschichtlich-empirischen Grundlage zu-
gewandt und dadurch denchristlichen Anschauungen
wesentlich näher gebracht zu haben. Dahin zielten
auch unzweifelhaft die edlen Bestrebungen des
eigentlichen Gründers der Schule, F. K. v. Sa-
vigny (1779/1861), der es unternahm, vermittels
der Geschichte die Rechtswissenschaft geistig zu er-
neuern. Seine Lehrtätigkeit wie seine Schriften,
namentlich sein Hauptwerk: „System des heutigen