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Erfahrung zeigt uns nur, was geschehen ist oder
geschieht, aber sie kann aus sich allein nie dartun,
daß etwas immer und überall geschehen solle. Den
Empiristen müssen auch diejenigen Rechtslehrer
beigezählt werden, die, wie H. Post, der Neu-
hegelianer J. Kohler u. a., die Philosophie des
Rechts auf der Ethnologie oder der vergleichenden
Rechtsgeschichte aufbauen wollen. So wertvoll auch
die Aufschlüsse und Anregungen sind, welche die
Rechtsphilosophie aus ethnologischen Studien
schöpfen kann, so setzt doch die Rechtsvergleichung
notwendig allgemeine Rechtsbegriffe und Rechts-
grundsätze voraus. Um die Rechtsinstitutionen ver-
schiedener Völker vergleichen zu können, muß man
schon einen klaren, allgemeingültigen Rechtsbegriff
mit sich bringen, damit man nicht Institutionen
zum Vergleiche heranziehe, die gar nicht in das
Rechtsgebiet gehören.
Eine Vermittlung zwischen dem Empirismus
und deralten Naturrechtslehre versucht R. Stamm-
ler vom Standpunkt des Kantianismus. Es ist
nach Stammler falsch, mit den Anhängern der
materialistischen Geschichtsauffassung (K. Marx,
Engels usw.) das Recht als ein Erzeugnis der
wirtschaftlichen Verhältnisse anzusehen. Recht und
Wirtschaft sind gleich ursprüngliche Faktoren des
sozialen Zusammenwirkens. Das erstere bildet die
Form, das zweite den Inhalt des sozialen Lebens.
Das Recht ist die äußere soziale Reglung, die als
Zwangsgebot über dem einzelnen in Geltung steht,
während die übrigen äußern sozialen Regeln
(Konventionalregeln) lediglich zufolge der Ein-
willigung der Unterstellten gelten. Aber nicht jedes
Recht ist schon richtiges Recht. Richtiges Recht
sind diejenigen rechtlichen Sätze oder Normen,
welche ihrem Inhalt nach dem allgemeinen Ge-
danken der menschlichen Gemeinschaft entsprechen.
Mit andern Worten, der Inhalt einer rechtlichen
Norm ist richtig, wenn er in seiner besondern Lage
dem Gedanken des sozialen Ideals entspricht, und
dieses Ideal ist die Gemeinschaft frei wollender
Menschen. Anzuerkennen ist Stammlers Bestreben,
über den Rechtspositivismus hinaus zu einer
philosophischen Erfassung des Rechts zu gelangen,
aber der Kantische Formalismus bringt ihn in
eine schiefe Richtung. Ein rein formaler Begriff
ohne Inhalt ist ein Widerspruch. Tatsächlich ver-
mag Stammler an der inhaltsleeren Form nicht
festzuhalten. Um zu erkennen, ob ein Recht richtig
sei, soll man die besondern Zwecke des freien In-
dividuums mit dem Endzweck der Gemeinschaft
vergleichen und diesem unterordnen. Damit erhält
die allgemeine Rechtsidee einen positiven, wenn
auch noch so unbestimmten Inhalt, und man
nähert sich wieder dem Naturrecht, das man nur
aus Unkenntnis oder Mißverständnis verworfen hat.
VI. Notwendigkeit der prinzipiellen Au-
erstennung und Wiederherstellung des Na-
turrechts. Vom Standpunkt der christlichen
Weltanschauung muß sich die Überzeugung von
der Existenz eines Naturrechts jedem philosophi-
Naturrecht ufw.
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schen Denken durch folgende Erwägungen von selbst
aufdrängen (weitere Ausführung s. Th. Meyer,
Grundsätze der Sittlichkeit und des Rechts (18681,
und Institutiones iuris nat. 1 (19061 436ff;
Cathrein, Recht, Naturrecht und positives Recht
1219091 221 ff
1. Eine „Selbständigkeit“ des positiven mensch-
lichen Rechts, selbst dem ewigen Gottesgesetz
gegenüber, wie sie von Stahl gedacht wird, trägt
ihre Verurteilung in sich selbst (s. oben). Es gibt
weder eine Ermächtigung noch einen Auftrag
Gottes an die Menschen zugunsten ihrer Willkür.
Das würde der Sache nach und in seiner prakti-
schen Folgerung notwendig auf den Hegelschen Ge-
danken zurückführen, der den Staat zur Quelle
alles Rechts, folglich kraft eignen unbeschränkten
Rechts mit „bindendem Ansehen“ dem Gewissen
der einzelnen gegenüber zur höchsten Instanz auf
Erden erhebt. Das aber hieße von seiten Gottes
die Verleugnung seiner absoluten Heiligkeit, die
zeitweilige Abdankung als Gesetzgeber und Richter
der moralischen Weltordnung, es sei denn, daß
man mit Hegel den Staat selbst mit Gott identi-
fiziert. Für den untergebenen Menschen aber wäre
das die prinzipielle Vernichtung jeder persönlichen
Würde und Freiheit, welche darin besteht, daß er
vor keinem andern Menschen als solchem, sondern
nur vor Gott oder einem von Gott beglaubigten
Vertreter seines Willens sich in Gehorsam zu
beugen braucht. Hier aber würde er, nach der
Voraussetzung, durch Gottes allgemeine Ermäch-
tigung, selbst „im Widerstreit gegen Gottes Welt-
ordnung“, der menschlichen Willkür unter Ver-
pflichtung preisgegeben.
Nie und nimmer also kann eine bloß „mensch-
liche Ordnung“ als solche dem mit Vernunft und
Freiheit geschaffenen Menschen gegenüber den
Rang einer absolut höchsten Instanz des Rechts
in Anspruch nehmen. Es muß eine höhere, über
dem menschlichen Willen stehende Instanz geben,
welche dem menschlichen Recht seine objektive
Schranke setzt, sollte dies auch keine andere reale
Wirkung erzielen, als dem rechtmäßigen Wider-
spruch und dem Protest der Gewissen die not-
wendige unerschütterliche Rechtsbasis zu schaffen.
Ein Recht wird aber nur durch ein anderes be-
stehendes und höheres Recht objektiv beschränkt.
Um also das mernschliche Recht objektiv zu be-
schränken, genügen keineswegs bloße ideale „An-
forderungen an das Recht“, deren Anerkennung
oder Nichtanerkennung immerhin dem Belieben
des menschlichen Gesetzgebers anheimgegeben ist;
sondern dazu gehört ein durch sich bestehendes, in
sich unverletzliches, göttliches Recht; und ein solches
ist in der Ordnung der Natur, und abgesehen
von dem übernatürlichen, positiven göttlichen
Recht, einzig das Naturrecht. Abgesehen von miß-
bräuchlicher Anwendung (gegen welche schon die
älteren Vertreter des Naturrechts mit großer Vor-
sicht bestimmte Bedingungen und Regeln auf-
stellen), ist darum nicht jede Anrufung eines