Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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Erfahrung zeigt uns nur, was geschehen ist oder 
geschieht, aber sie kann aus sich allein nie dartun, 
daß etwas immer und überall geschehen solle. Den 
Empiristen müssen auch diejenigen Rechtslehrer 
beigezählt werden, die, wie H. Post, der Neu- 
hegelianer J. Kohler u. a., die Philosophie des 
Rechts auf der Ethnologie oder der vergleichenden 
Rechtsgeschichte aufbauen wollen. So wertvoll auch 
die Aufschlüsse und Anregungen sind, welche die 
Rechtsphilosophie aus ethnologischen Studien 
schöpfen kann, so setzt doch die Rechtsvergleichung 
notwendig allgemeine Rechtsbegriffe und Rechts- 
grundsätze voraus. Um die Rechtsinstitutionen ver- 
schiedener Völker vergleichen zu können, muß man 
schon einen klaren, allgemeingültigen Rechtsbegriff 
mit sich bringen, damit man nicht Institutionen 
zum Vergleiche heranziehe, die gar nicht in das 
Rechtsgebiet gehören. 
Eine Vermittlung zwischen dem Empirismus 
und deralten Naturrechtslehre versucht R. Stamm- 
ler vom Standpunkt des Kantianismus. Es ist 
nach Stammler falsch, mit den Anhängern der 
materialistischen Geschichtsauffassung (K. Marx, 
Engels usw.) das Recht als ein Erzeugnis der 
wirtschaftlichen Verhältnisse anzusehen. Recht und 
Wirtschaft sind gleich ursprüngliche Faktoren des 
sozialen Zusammenwirkens. Das erstere bildet die 
Form, das zweite den Inhalt des sozialen Lebens. 
Das Recht ist die äußere soziale Reglung, die als 
Zwangsgebot über dem einzelnen in Geltung steht, 
während die übrigen äußern sozialen Regeln 
(Konventionalregeln) lediglich zufolge der Ein- 
willigung der Unterstellten gelten. Aber nicht jedes 
Recht ist schon richtiges Recht. Richtiges Recht 
sind diejenigen rechtlichen Sätze oder Normen, 
welche ihrem Inhalt nach dem allgemeinen Ge- 
danken der menschlichen Gemeinschaft entsprechen. 
Mit andern Worten, der Inhalt einer rechtlichen 
Norm ist richtig, wenn er in seiner besondern Lage 
dem Gedanken des sozialen Ideals entspricht, und 
dieses Ideal ist die Gemeinschaft frei wollender 
Menschen. Anzuerkennen ist Stammlers Bestreben, 
über den Rechtspositivismus hinaus zu einer 
philosophischen Erfassung des Rechts zu gelangen, 
aber der Kantische Formalismus bringt ihn in 
eine schiefe Richtung. Ein rein formaler Begriff 
ohne Inhalt ist ein Widerspruch. Tatsächlich ver- 
mag Stammler an der inhaltsleeren Form nicht 
festzuhalten. Um zu erkennen, ob ein Recht richtig 
sei, soll man die besondern Zwecke des freien In- 
dividuums mit dem Endzweck der Gemeinschaft 
vergleichen und diesem unterordnen. Damit erhält 
die allgemeine Rechtsidee einen positiven, wenn 
auch noch so unbestimmten Inhalt, und man 
nähert sich wieder dem Naturrecht, das man nur 
aus Unkenntnis oder Mißverständnis verworfen hat. 
VI. Notwendigkeit der prinzipiellen Au- 
erstennung und Wiederherstellung des Na- 
turrechts. Vom Standpunkt der christlichen 
Weltanschauung muß sich die Überzeugung von 
der Existenz eines Naturrechts jedem philosophi- 
Naturrecht ufw. 
  
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schen Denken durch folgende Erwägungen von selbst 
aufdrängen (weitere Ausführung s. Th. Meyer, 
Grundsätze der Sittlichkeit und des Rechts (18681, 
und Institutiones iuris nat. 1 (19061 436ff; 
Cathrein, Recht, Naturrecht und positives Recht 
1219091 221 ff 
1. Eine „Selbständigkeit“ des positiven mensch- 
lichen Rechts, selbst dem ewigen Gottesgesetz 
gegenüber, wie sie von Stahl gedacht wird, trägt 
ihre Verurteilung in sich selbst (s. oben). Es gibt 
weder eine Ermächtigung noch einen Auftrag 
Gottes an die Menschen zugunsten ihrer Willkür. 
Das würde der Sache nach und in seiner prakti- 
schen Folgerung notwendig auf den Hegelschen Ge- 
danken zurückführen, der den Staat zur Quelle 
alles Rechts, folglich kraft eignen unbeschränkten 
Rechts mit „bindendem Ansehen“ dem Gewissen 
der einzelnen gegenüber zur höchsten Instanz auf 
Erden erhebt. Das aber hieße von seiten Gottes 
die Verleugnung seiner absoluten Heiligkeit, die 
zeitweilige Abdankung als Gesetzgeber und Richter 
der moralischen Weltordnung, es sei denn, daß 
man mit Hegel den Staat selbst mit Gott identi- 
fiziert. Für den untergebenen Menschen aber wäre 
das die prinzipielle Vernichtung jeder persönlichen 
Würde und Freiheit, welche darin besteht, daß er 
vor keinem andern Menschen als solchem, sondern 
nur vor Gott oder einem von Gott beglaubigten 
Vertreter seines Willens sich in Gehorsam zu 
beugen braucht. Hier aber würde er, nach der 
Voraussetzung, durch Gottes allgemeine Ermäch- 
tigung, selbst „im Widerstreit gegen Gottes Welt- 
ordnung“, der menschlichen Willkür unter Ver- 
pflichtung preisgegeben. 
Nie und nimmer also kann eine bloß „mensch- 
liche Ordnung“ als solche dem mit Vernunft und 
Freiheit geschaffenen Menschen gegenüber den 
Rang einer absolut höchsten Instanz des Rechts 
in Anspruch nehmen. Es muß eine höhere, über 
dem menschlichen Willen stehende Instanz geben, 
welche dem menschlichen Recht seine objektive 
Schranke setzt, sollte dies auch keine andere reale 
Wirkung erzielen, als dem rechtmäßigen Wider- 
spruch und dem Protest der Gewissen die not- 
wendige unerschütterliche Rechtsbasis zu schaffen. 
Ein Recht wird aber nur durch ein anderes be- 
stehendes und höheres Recht objektiv beschränkt. 
Um also das mernschliche Recht objektiv zu be- 
schränken, genügen keineswegs bloße ideale „An- 
forderungen an das Recht“, deren Anerkennung 
oder Nichtanerkennung immerhin dem Belieben 
des menschlichen Gesetzgebers anheimgegeben ist; 
sondern dazu gehört ein durch sich bestehendes, in 
sich unverletzliches, göttliches Recht; und ein solches 
ist in der Ordnung der Natur, und abgesehen 
von dem übernatürlichen, positiven göttlichen 
Recht, einzig das Naturrecht. Abgesehen von miß- 
bräuchlicher Anwendung (gegen welche schon die 
älteren Vertreter des Naturrechts mit großer Vor- 
sicht bestimmte Bedingungen und Regeln auf- 
stellen), ist darum nicht jede Anrufung eines
	        
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