Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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(notorischen) Naturrechts gegen menschliches Recht 
schon „Revolution“; sie kann unter Umständen 
sogar eine höchst tonservative und notwendige 
Rechtsbehauptung sein gegen eine Revolution der 
allerschlimmsten Art, die Revolution von oben 
wider Gottes Weltordnung und die wesentlichen 
Lebensbedingungen der Gesellschaft. 
Es ist wahr, die Anschauungen der „historischen 
Schule“ auf spezifisch katholischem Standpunkt 
unterscheiden sich hier vorteilhaft von denen, welche 
Stahl von seinem Standpunkt aus folgerichtig 
vertritt. Der Protestantismus kennt grundsätzlich 
kein vom Staate unabhängiges kirchliches Rechts- 
gebiet; wenn er daher auf ein ausschließlich posi- 
tives Recht angewiesen ist, so kann er dasselbe 
praktisch nur als ein im Staate und durch den 
Staat bestehendes betrachten. „Denn“, sagt Stahl 
(#. d. O. 8 16), „die Gebote der christlichen Offen- 
barung haben ebenso wie die Gebote der Vernunft 
und Gerechtigkeit .. . keine unmittelbare Geltung 
als Recht, selbst nicht, wenn sie eine deutliche und 
präzise Fassung haben.“ Und er fügt erklärend 
hinzu: „Das beruht auf jenem einen entscheiden- 
den Grundsatz, daß eben nur die menschlich auf- 
gerichtete, nicht die von Gott geforderte Ordnung 
Recht ist.“ (Wie man sieht, war also nicht der 
angebliche Mangel an „Bestimmtheit“, sondern 
dieser Grundsatz, d. i. die Befreiung des Rechts 
vom „theokratischen Element“, der eigentliche und 
„entscheidende“ Grund zur Ausschließung auch 
des Naturrechts.) 
Auf katholischem Standpunkt anderseits erkennt 
der Jurist außer und über dem menschlichen noch 
ein göttliches positives Recht (s. Sp. 212), welches 
unabhängig vom Staat volle Rechtsgültigkeit be- 
sitzt. Es bleibt ihm daher, auch ohne das Natur- 
recht, eine höhere, und zwar göttliche Rechtsinstanz, 
die als absolute Norm gegen die mögliche Ver- 
irrung des menschlichen Rechts angerufen werden 
kann, und er ist nicht genötigt, im Staat die ein- 
zige oder absolute Rechtsquelle für die menschliche 
Gesellschaft zu erkennen. Wäre die übernatürliche 
Ordnung und das christliche Gesetz auf Erden 
allgemein anerkannt, so könnte ein solcher Ersatz 
für das Naturrecht vielleicht in den meisten Fällen 
praktisch genügen, weil in dem positiven göttlichen 
Recht tatsächlich alle hauptsächlichen Folgerungen 
des Naturrechts ausgenommen sind. Das kann 
jedoch der ungläubigen Verneinung der übernatür- 
lichen christlichen Ordnung gegenüber weder prak- 
tisch noch theoretisch genügen. Der allgemein 
menschliche, rein philosophische Standpunkt schließt 
überdies jede Verstümmelung der natürlichen Welt- 
ordnung Gottes aus, die Integrität dieser Ord- 
nung aber fordert mit Notwendigkeit, wie wir 
gesehen, ein natürlich--göttliches Recht als die 
oberste natürliche Rechtsinstanz auf Erden. 
2. Man hat geglaubt, durch die prinzipielle 
Beseitigung des alten Naturrechts ein Mittel ge- 
funden zu haben, gegenüber dem politischen und 
sozialen Rationalismus das positive, historische 
Naturrecht usfw. 
  
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Recht und in ihm alle konservativen Interessen 
der menschlichen Gesellschaft zu festigen und zu 
stärken. Das Bestreben an sich war lobenswert, 
beruhte aber auf einem verhängnisvollen logischen 
Irrtum. Man hat übersehen, daß ein in sich selbst 
vollgültiges Naturrecht die notwendige philo- 
sophische Unterlage ist für den Bestand des posi- 
tiven menschlichen Rechts selbst. Gibt es kein 
durch sich wirksames Naturrecht, so gibt es auch 
im Staate kein positives Recht von „bindendem 
Ansehen“. Jede bestehende Gewalt in der mensch- 
lichen Gesellschaft „kommt von Gott“, und zwar 
von Gott als dem Urheber der natürlichen Ord- 
nung und des natürlichen Sitten- und Rechts- 
gesetzes, d. h. sie ist selbst ein natürliches Recht 
und besteht kraft eines natürlichen Rechts und 
bedingt so die natürliche Pflicht des bürgerlichen 
Gehorsams. Wollte man hier auch auf die mannig- 
fache Mitwirkung der menschlichen Freiheit und 
der menschlichen Verträge zu den betreffenden ge- 
schichtlichen Resultaten hinweisen, so änderte das 
nichts an der Sache. Auch das ursprüngliche 
Vertragsrecht ist ein natürliches Recht und erzeugt 
natürliche Rechtspflichten schon vor dem Bestand 
einer staatlichen Autorität. So ruht der Staat, die 
Staatsgewalt und die ganze „menschlich errichtete 
Ordnung“ ursprünglich und zuletzt auf dem Natur- 
recht, welches eben darum nicht bloß eine prekäre 
Rechtsidee, sondern ein voraus gültiges, unver- 
letzliches Recht sein muß. Auch das sog. „Ge- 
wohnheitsrecht“, welches man nicht selten, wie 
zu einem gewissen Ersatz für das unbewußt ver- 
mißte göttliche Naturrecht, mit einem geheimnis- 
vollen (zuweilen pantheistisch gedachten) Dunkel 
umgeben hat, macht von dem Gesagten keine Aus- 
nahme. Es ist entweder ursprünglich selbst natür- 
liches Recht, dessen allgemeine Anerkennung sich 
als Gewohnheit offenbart, und dann trägt es seine 
Verbindlichkeit in sich selbst, oder es ist lediglich 
durch die Gewohnheit erst geworden, und dann 
teilt es die Natur und die Grundbedingung seines 
bindenden Ansehens mit jedem andern positiven 
menschlichen Recht, welches schließlich vom Staat 
seine äußere Rechtskraft bezieht. 
3. Aber auch abgesehen von diesem innern 
Widerspruch, setzt in Wahrheit jede erst vom 
Staate ausgehende Errichtung positiven Rechts 
eine bereits naturrechtlich (vor dem Staat und 
unabhängig vom Staat) bestehende Rechtsord- 
nung voraus. Wie man sich immer das Entstehen 
der organisierten bürgerlichen Gesellschaft oder des 
Staates denken mag, so viel ist sicher, daß er nicht 
fir und fertig aus dem Nichts hervorgeht. Wenn 
er als Staat und Rechtsanstalt zum Bewußtsein 
gelangt, so steht er nicht vor einer formlosen 
Materie, die, um ein organisches und persönliches 
Leben in sich zu haben, erst seinen schöpferischen 
Hauch erwarten müßte; er findet lebendige soziale 
Organismen vor als ebensoviele Stufen und Be- 
standteile seiner eignen Existenz, die er selbst nicht 
geschaffen, sondern für die er geschaffen wurde.
	        
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