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(notorischen) Naturrechts gegen menschliches Recht
schon „Revolution“; sie kann unter Umständen
sogar eine höchst tonservative und notwendige
Rechtsbehauptung sein gegen eine Revolution der
allerschlimmsten Art, die Revolution von oben
wider Gottes Weltordnung und die wesentlichen
Lebensbedingungen der Gesellschaft.
Es ist wahr, die Anschauungen der „historischen
Schule“ auf spezifisch katholischem Standpunkt
unterscheiden sich hier vorteilhaft von denen, welche
Stahl von seinem Standpunkt aus folgerichtig
vertritt. Der Protestantismus kennt grundsätzlich
kein vom Staate unabhängiges kirchliches Rechts-
gebiet; wenn er daher auf ein ausschließlich posi-
tives Recht angewiesen ist, so kann er dasselbe
praktisch nur als ein im Staate und durch den
Staat bestehendes betrachten. „Denn“, sagt Stahl
(#. d. O. 8 16), „die Gebote der christlichen Offen-
barung haben ebenso wie die Gebote der Vernunft
und Gerechtigkeit .. . keine unmittelbare Geltung
als Recht, selbst nicht, wenn sie eine deutliche und
präzise Fassung haben.“ Und er fügt erklärend
hinzu: „Das beruht auf jenem einen entscheiden-
den Grundsatz, daß eben nur die menschlich auf-
gerichtete, nicht die von Gott geforderte Ordnung
Recht ist.“ (Wie man sieht, war also nicht der
angebliche Mangel an „Bestimmtheit“, sondern
dieser Grundsatz, d. i. die Befreiung des Rechts
vom „theokratischen Element“, der eigentliche und
„entscheidende“ Grund zur Ausschließung auch
des Naturrechts.)
Auf katholischem Standpunkt anderseits erkennt
der Jurist außer und über dem menschlichen noch
ein göttliches positives Recht (s. Sp. 212), welches
unabhängig vom Staat volle Rechtsgültigkeit be-
sitzt. Es bleibt ihm daher, auch ohne das Natur-
recht, eine höhere, und zwar göttliche Rechtsinstanz,
die als absolute Norm gegen die mögliche Ver-
irrung des menschlichen Rechts angerufen werden
kann, und er ist nicht genötigt, im Staat die ein-
zige oder absolute Rechtsquelle für die menschliche
Gesellschaft zu erkennen. Wäre die übernatürliche
Ordnung und das christliche Gesetz auf Erden
allgemein anerkannt, so könnte ein solcher Ersatz
für das Naturrecht vielleicht in den meisten Fällen
praktisch genügen, weil in dem positiven göttlichen
Recht tatsächlich alle hauptsächlichen Folgerungen
des Naturrechts ausgenommen sind. Das kann
jedoch der ungläubigen Verneinung der übernatür-
lichen christlichen Ordnung gegenüber weder prak-
tisch noch theoretisch genügen. Der allgemein
menschliche, rein philosophische Standpunkt schließt
überdies jede Verstümmelung der natürlichen Welt-
ordnung Gottes aus, die Integrität dieser Ord-
nung aber fordert mit Notwendigkeit, wie wir
gesehen, ein natürlich--göttliches Recht als die
oberste natürliche Rechtsinstanz auf Erden.
2. Man hat geglaubt, durch die prinzipielle
Beseitigung des alten Naturrechts ein Mittel ge-
funden zu haben, gegenüber dem politischen und
sozialen Rationalismus das positive, historische
Naturrecht usfw.
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Recht und in ihm alle konservativen Interessen
der menschlichen Gesellschaft zu festigen und zu
stärken. Das Bestreben an sich war lobenswert,
beruhte aber auf einem verhängnisvollen logischen
Irrtum. Man hat übersehen, daß ein in sich selbst
vollgültiges Naturrecht die notwendige philo-
sophische Unterlage ist für den Bestand des posi-
tiven menschlichen Rechts selbst. Gibt es kein
durch sich wirksames Naturrecht, so gibt es auch
im Staate kein positives Recht von „bindendem
Ansehen“. Jede bestehende Gewalt in der mensch-
lichen Gesellschaft „kommt von Gott“, und zwar
von Gott als dem Urheber der natürlichen Ord-
nung und des natürlichen Sitten- und Rechts-
gesetzes, d. h. sie ist selbst ein natürliches Recht
und besteht kraft eines natürlichen Rechts und
bedingt so die natürliche Pflicht des bürgerlichen
Gehorsams. Wollte man hier auch auf die mannig-
fache Mitwirkung der menschlichen Freiheit und
der menschlichen Verträge zu den betreffenden ge-
schichtlichen Resultaten hinweisen, so änderte das
nichts an der Sache. Auch das ursprüngliche
Vertragsrecht ist ein natürliches Recht und erzeugt
natürliche Rechtspflichten schon vor dem Bestand
einer staatlichen Autorität. So ruht der Staat, die
Staatsgewalt und die ganze „menschlich errichtete
Ordnung“ ursprünglich und zuletzt auf dem Natur-
recht, welches eben darum nicht bloß eine prekäre
Rechtsidee, sondern ein voraus gültiges, unver-
letzliches Recht sein muß. Auch das sog. „Ge-
wohnheitsrecht“, welches man nicht selten, wie
zu einem gewissen Ersatz für das unbewußt ver-
mißte göttliche Naturrecht, mit einem geheimnis-
vollen (zuweilen pantheistisch gedachten) Dunkel
umgeben hat, macht von dem Gesagten keine Aus-
nahme. Es ist entweder ursprünglich selbst natür-
liches Recht, dessen allgemeine Anerkennung sich
als Gewohnheit offenbart, und dann trägt es seine
Verbindlichkeit in sich selbst, oder es ist lediglich
durch die Gewohnheit erst geworden, und dann
teilt es die Natur und die Grundbedingung seines
bindenden Ansehens mit jedem andern positiven
menschlichen Recht, welches schließlich vom Staat
seine äußere Rechtskraft bezieht.
3. Aber auch abgesehen von diesem innern
Widerspruch, setzt in Wahrheit jede erst vom
Staate ausgehende Errichtung positiven Rechts
eine bereits naturrechtlich (vor dem Staat und
unabhängig vom Staat) bestehende Rechtsord-
nung voraus. Wie man sich immer das Entstehen
der organisierten bürgerlichen Gesellschaft oder des
Staates denken mag, so viel ist sicher, daß er nicht
fir und fertig aus dem Nichts hervorgeht. Wenn
er als Staat und Rechtsanstalt zum Bewußtsein
gelangt, so steht er nicht vor einer formlosen
Materie, die, um ein organisches und persönliches
Leben in sich zu haben, erst seinen schöpferischen
Hauch erwarten müßte; er findet lebendige soziale
Organismen vor als ebensoviele Stufen und Be-
standteile seiner eignen Existenz, die er selbst nicht
geschaffen, sondern für die er geschaffen wurde.