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Diese primitiven gesellschaftlichen Organismen,
vom Individuum durch die Familie zur Gemeinde
aufsteigend, haben aber ein eignes persönliches
Dasein und Leben nur durch die objektiven Rechts-
verhältnisse, auf denen sie beruhen. Es ist also
logisch vor dem ordnenden Staate eine wirksame
Rechtsordnung zu denken, welche notwendig war,
den Staat selbst organisch zu erbauen, eine Ord-
nung, welche sich unmittelbar an die Existenz der
Individuen, der Familie und der Gemeinde an-
schließt und mit ihr sich verwirklicht, kurz, ein
seinem Inhalt und Bestande nach natürliches
Recht. Die Mission des mit der Rechtsordnung
betrauten Staates hat also damit zu beginnen,
das durch die Natur Bestehende als solches anzu-
erkennen, mit seiner Macht zu schützen, bevor er
zur Förderung und zum vollkommeneren Ausbau
des Gegebenen seine weitere positive Tätigkeit
im Geiste und nach Anforderung eben dieses Ge-
gebenen hinzufügt. So ist zwar die natürlich fest-
gestellte wie die „menschlich errichtete“ Ordnung
im Staate; aber sie sind nicht beide durch den
Staat; sie sind im Staate, die erstere, um diesem
selbst seine formelle Existenz und Berechtigung zu
sichern und dafür als Gegenleistung von ihm
äußern Schutz und Garantie zu fordern, die
letztere, um ihm zugleich die Verwirklichung und
das rechtliche Bestehen zu verdanken.
Literatur. St Thomas von Aquin, 8. theol.
2, 1 et 2; Suarez, De legibus; Lessius, De iusti-
tia et iure; De Lugo, Tract. de justitia et iure;
Molina, De iustitia et jure 1; H. Grotius, De
iure belli ac pacis (1625); Pufendorf, De jure
naturae et gentium (1672); Chr. Thomasius,
Instit. iurisprudentiae divinae (1688); Sam. de
Cocceji, Tract. iuris gent. de principio iuris nat.
unico, vero et adaequato (1702); Fleischer, Instit.
iuris nat. et gent. (1722); Heineccius, Elementa
iuris nst. et gent. (1738); Chr. Wolfius, Ius
nat. methodo scientifica pertractatum (1741/49);
davon ein Auszug: Instit. juris nat. et gent.
(1750); Martini, De iure nat. positiones (1772
u. ö.); Zallinger, Instit. iuris nat. et ecclesiastici
publici (1784; anlehnend an Pufendorf u. Wolf,
unter Wahrung des katholischen Standpunktes);
Kant, Metaphyfische Anfangsgründe der Rechts-
lehre (1797); J. G. Fichte, Grundlage des Natur-
rechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (1796);
Groß, Lehrbuch des Naturrechts (1802); Kru
Dikäologie oder philos. Rechtslehre (1817); Rotteck,
Lehrbuch des Vernunftrechts (1829) usw. Hegel,
Erundlinien der Philosophie des Rechts oder Natur-
recht u. Staatswissenschaft im Grundrisse (1821);
I. Stahl, Philosophie des Rechts (1830, 21854);
Warnkönig, Rechtsphilosophie (1839); Ahrens,
Die Rechtsphilosophie oder das Naturrecht (fran-
zösisch 1838, deutsch von ihm selbst 1852); Röder,
Grundzüge des Naturrechts (1846); Trendelenburg,
Naturrecht auf dem Grunde der Ethik (1860);
Bierling, Juristische Prinzipienlehre (3 Bde, 1894
bis 1905); Bergbohm, Jurisprudenz u. Rechts-
philosophie 1 (1892); Stammler, Wirtschaft u.
Recht (1896); ders., Die Lehre vom richtigen Recht
(1902); Kohler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie
(1909; steht auf dem Boden des Neuhegelianismus).
Staatslexikon. UI. 3. Aufl.
rKFx
Neuguinea — Neutralität ufw.
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Vom kathol. Standpunkte: Taparelli, Saggio
teoretico di diritto naturale appogiato sul fatto
(deutsch 1845); Moy de Sons, Grundlehre einer
Philosophie des Rechts aus kathol. Standpunkt
(1854); Walter, Naturrecht u. Politik im Lichte
der Gegenwart (21871; der „historischen Schule“
zugetan; im dritten Teil ausgiebige Literatur);
Stöckl, Lehrbuch der Philosophie (1868 u. ö.);
Costa-Rossetti, Philosophia moralis (1886); Th.
Meyer, Die Erundsätze der Sittlichkeit u. des
Rechts (1868); derf., Institutiones iuris nat. 1
(1885), II (1900); Rothe, Droit naturel (1884);
v. Hertling, Naturrecht u. Sozialpolitik (1893);
ders., Recht, Staat u. Gesellschaft (1906); Cathrein,
Moralphilosophie (1893, 1904).
Annähernd vollständiges Verzeichnis der älteren
juristischen u. rechtsphilosophischen Literatur von
Vering im Literarischen Handweiser, Jahrgang
1876/79; für die neuere Zeit vgl. Cathrein, Recht,
Naturrecht u. positives Recht (21909) u. Berolz-
heimer, System der Rechts= u. Wirtschaftsphilo-
sophie, Bd II (1905): Die Kulturstufen der Rechts-
u. Wirtschaftsphilosophie; ferner ders., Die deutsche
Rechtsphilosophie im 20. Jahrh., im Archiv für
Rechts- u. Wirtschaftsphilosophie 1 130 ff.
[ITh. Meyer S. J., rev. V. Cathrein S. J.
Neuguinea s. Deutsches Reich (Bd 1,
Sp. 1271 #..
Neutralität, Neutralisierung.
LA. Neutralität (Begriff und geschichtliche Ent-
wicklung; Arten; Rechte und Pflichten der neu-
tralen Staaten; Rechte und Pflichten der Unter-
tanen neutraler Staaten; Konterbande). —
B. Neutralisierung (Begriff; Wirkungen; Ande-
rung und Aufhebung; neutralisierte Staaten;
neutralisierte Gebiete).)
A. Neutralität. I. Begriff und seine ge-
schichtliche Entwicklung. Im Gegensatze zur
dauernden Neutralisierung einzelner Staaten oder
Gebietsteile versteht man unter Neutralität die
Nichtbeteiligung eines Staates an einem gegen-
wärtigen, zwischen dritten Staaten ausgebrochenen
Kriege. Die Neutralität ist aber nicht bloß eine
reine Tatsache, sondern vielmehr ein juristischer
Begriff; der Krieg erzeugt, weil unter der Ord-
nung des Völkerrechts stehend, im Augenblick
seines Ausbruches einmal ein Rechtsverhältnis
zwischen den Kriegführenden selbst, sodann aber
auch ein Rechtsverhältnis zwischen diesen einer-
seits und den am Kriege nicht beteiligten Mächten
anderseits. Doch ist diese Auffassung der Neutrali-
tät als eines Rechtsverhältnisses mit bestimmten
Rechten und Pflichten für beide Seiten erst das Re-
sultat einer geschichtlichen Entwicklung.
Das Altertum kennt eine Neutralität nicht; die
Kriegführenden dulden die Nichtteilnahme am
Kriege nur, soweit sie ihnen Vorteile bringt. Auch
im Mittelalter müssen dritte Staaten Freund oder
Feind sein. Nur langsam machte sich dann der
Gedanke der Neutralität tatsächlich dadurch gel-
tend, daß man sich aus Klugheitsrücksichten Be-
schränkungen auferlegte oder sich in Verträgen
verpflichtete, den Feinden der Kontrahenten keine
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