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Kriegshilfe zu leisten. Denn selbst die Lieferung
von Geld und Truppen an beide im Kriege be-
findlichen Parteien hielt man für erlaubt. Auch
Grotius statuierte für die Nichtbeteiligten nur die
Pflicht, sich dem für eine ungerechte Sache kämp-
fenden Teile gegenüber passiv zu verhalten. Noch
im 18. Jahrh. verfolgte man die feindliche Armee
oder Flotte auf neutrales Gebiet; die Rechte der
neutralen Staaten waren von dem guten Willen
der Kriegführenden abhängig, die Untertanen der
Neutralen in ihrem Tun und Lassen völlig frei;
besonders war es der Handel, der von den See-
mächten Beschränkungen und Gewaltmaßregeln
unterworfen wurde, indem sie die Frage der Be-
handlung neutralen Gutes auf feindlichem Schiffe
und feindlichen Gutes auf neutralem Schiffe ver-
schieden beantworteten und den Begriff der Konter-
bande willkürlich ausdehnten (vgl. im einzelnen d.
Art. Prise). Zwar suchte man sich hiergegen durch
spezielle Verträge zu schützen (z. B. Pyrenäen=
vertrag 1659, Utrechter Frieden 17183), aber die
Ansprüche der Neutralen konnten erst durch ein-
mütiges Vorgehen gegenüber der Willkür der
großen Seemächte wirksam durchgesetzt werden.
So bildet denn auch erst die Deklaration der
Kaiserin Katharina II. von Nußland vom 10. März
1780 (die sog. bewaffnete Neutralität) den eigent-
lichen Ausgangspunkt der rechtlichen Ausbildung
der Neutralität und zugleich die Grundlage für
den Ausbau des zurückgebliebenen Seekriegsrechts.
Gegen Spanien geplant, regte sie ein gemeinsames
Vorgehen einer Reihe von Mächten gegen Eng-
land an und brachte infolge der sich anschließenden
Bündnisse eine Einigung über die wichtigsten
Punkte des Seekriegsrechts unter den bedeutend-
sten Staaten, England ausgenommen, zustande.
Die französische Revolution und das Vorgehen
Napoleons hatte zwar einen Rückschlag zur Folge
und verhalf wieder der Gewalt zum Siege. Die
hierdurch herbeigeführte zweite bewaffnete Neu-
tralität (1800) sowie vor allem die Bemühungen
der Schweiz, aber auch die Neutralitätsprokla-
mation Washingtons vom 22. April 1793 und
der Versuch Monroes, eine Konvention zur Reg-
lung des Neutralitätsrechts zustande zu bringen
(1823), haben zwar die Anerkennung fester Neu-
tralitätsgrundsätze gefördert, eine wirkliche Weiter-
bildung erfolgte aber erst durch die Pariser See-
rechtsdeklaration vom 16. April 1856, welche die
beiden Sätze „Frei Schiff, frei Gut“ und „Un-
frei Schiff, frei Gut“ aufstellte und so den Handel
der Neutralen im Seekrieg sicherte (bgl. näher d.
Art. Prise). Eine zunächst abschließende Kodifi=
kation fand das Neutralitätsrecht dann auf der
zweiten Haager Konferenz von 1907 (Abkommen
Vuu. XIII) und der Londoner Seekriegsrechtskon-
ferenz von 1908/09 (vgl. d. Art. Krieg, Ab-
schnitt IV, 2).
II. Arten der Neutralität. 1. Dem Begriff
nach gibt es nur eine strikte Neutralität, nicht aber
Gradunterschiede innerhalb derselben. Denn jede
Neutralität usw.
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irgendwie geartete Beteiligung am Kriege verletzt
die Neutralität. Infolgedessen steht die vielfach
übliche Unterscheidung in vollkommene und
unvollkommene Neutralität im Widerspruch
mit dem Wesen derselben. Gleiches gilt von der
sog. wohlwollenden Neutralität. Diese neu-
tralité bienveillante, wie sie noch der deutsch-
österreichische Bündnisvertrag vom 7. Okt. 1879
(Art. 2) statuiert, kann sich zwar in diplomatischer
Unterstützung äußern, sobald sie aber mehr tut, ist
für den Gegner der Kriegsfall auch diesem Staate
gegenüber gegeben. Wohl aber darf die Regierung
eines neutralen Staates ihre „Sympathien“" der
einen Kriegspartei aussprechen, besonders wenn
ein unzweifelhafter Rechtsbruch oder eine bestimmte
Interessengemeinschaft vorliegt (uogl. z. B. die
Sympathiekundgebungen Deutschlands und Frank-
reichs für die Buren Ende 1900), nur darf sich
diese Sympathie nicht in wirklicher Unterstützung
äußern. Die Anbietung der „guten Dienste" ist
nicht nur nicht eine Verletzung der Neutralität,
sondern vielmehr ausdrücklich als Recht jedes
Staates anerkannt (vgl. d. Art. Krieg, Abschn.
„26b).
2. Die „bewaffnete“ Neutralität stellt sich
ebenfalls nicht als eine besondere Art der Neu-
tralität dar. Denn wenn es auch den neutralen
Mächten freisteht, ihre Neutralität durch Truppen-
ansammlungen, Hafensperre zu schützen, so sind sie
doch verpflichtet, ihre Neutralität zu wahren. Erst
wenn diese Schutzmittel zu direktem Angriffe gegen
einen der Kriegführenden benutzt werden, wird die
bewaffnete Neutralität zur Teilnahme am Kriege.
3. Ein wirklicher Artunterschied läßt sich nur
danach aufstellen, ob die Neutralität eine frei-
willige ist, d. h. ob dem betreffenden Staate
das prinzipielle Recht der freien Entscheidung,
für einen der Streitteile Partei zu ergreifen oder
nicht, gewahrt ist, oder ob er vertragsmäßig
sich zur Neutralität verpflichtet hat. Diese kon-
ventionelle Neutralität kann sich dann wieder
entweder nur auf einen bestimmten Kriegsfall bzw.
alle Kriege des Vertragsgegners mit dritten oder
auch nur einzelnen Staaten beziehen, oder aber
überhaupt auf den Ausbruch irgend eines Krieges
zwischen dritten Staaten: dauernde Neu-
tralität.
III. Rechte und Pflichten der neutralen
Staaten. Mit dem Ausbruch des Krieges ist das
Rechtsverhältnis der Neutralität eo ipso gegeben,
ohne daß es einer besondern Neutralitätserklärung
bedarf. Eine Modifizierung der Rechte und Pflich-
ten der Neutralität ist durch eine etwaige solche
Erklärung weder beabsichtigt noch auch nur mög-
lich. Die Rechte und Pflichten der neu-
tralen Mächte sind nach heutigem Recht
folgende:
1. Im Landkriege: Als oberster Grundsatz
ist von dem V. Haager Abkommen die Unver-
letzlichkeit des Gebietes der neutralen Mächte sta-
tuiert (Art. 1), die selbst mit Waffengewalt ver-
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