Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

1315 
Kriegshilfe zu leisten. Denn selbst die Lieferung 
von Geld und Truppen an beide im Kriege be- 
findlichen Parteien hielt man für erlaubt. Auch 
Grotius statuierte für die Nichtbeteiligten nur die 
Pflicht, sich dem für eine ungerechte Sache kämp- 
fenden Teile gegenüber passiv zu verhalten. Noch 
im 18. Jahrh. verfolgte man die feindliche Armee 
oder Flotte auf neutrales Gebiet; die Rechte der 
neutralen Staaten waren von dem guten Willen 
der Kriegführenden abhängig, die Untertanen der 
Neutralen in ihrem Tun und Lassen völlig frei; 
besonders war es der Handel, der von den See- 
mächten Beschränkungen und Gewaltmaßregeln 
unterworfen wurde, indem sie die Frage der Be- 
handlung neutralen Gutes auf feindlichem Schiffe 
und feindlichen Gutes auf neutralem Schiffe ver- 
schieden beantworteten und den Begriff der Konter- 
bande willkürlich ausdehnten (vgl. im einzelnen d. 
Art. Prise). Zwar suchte man sich hiergegen durch 
spezielle Verträge zu schützen (z. B. Pyrenäen= 
vertrag 1659, Utrechter Frieden 17183), aber die 
Ansprüche der Neutralen konnten erst durch ein- 
mütiges Vorgehen gegenüber der Willkür der 
großen Seemächte wirksam durchgesetzt werden. 
So bildet denn auch erst die Deklaration der 
Kaiserin Katharina II. von Nußland vom 10. März 
1780 (die sog. bewaffnete Neutralität) den eigent- 
lichen Ausgangspunkt der rechtlichen Ausbildung 
der Neutralität und zugleich die Grundlage für 
den Ausbau des zurückgebliebenen Seekriegsrechts. 
Gegen Spanien geplant, regte sie ein gemeinsames 
Vorgehen einer Reihe von Mächten gegen Eng- 
land an und brachte infolge der sich anschließenden 
Bündnisse eine Einigung über die wichtigsten 
Punkte des Seekriegsrechts unter den bedeutend- 
sten Staaten, England ausgenommen, zustande. 
Die französische Revolution und das Vorgehen 
Napoleons hatte zwar einen Rückschlag zur Folge 
und verhalf wieder der Gewalt zum Siege. Die 
hierdurch herbeigeführte zweite bewaffnete Neu- 
tralität (1800) sowie vor allem die Bemühungen 
der Schweiz, aber auch die Neutralitätsprokla- 
mation Washingtons vom 22. April 1793 und 
der Versuch Monroes, eine Konvention zur Reg- 
lung des Neutralitätsrechts zustande zu bringen 
(1823), haben zwar die Anerkennung fester Neu- 
tralitätsgrundsätze gefördert, eine wirkliche Weiter- 
bildung erfolgte aber erst durch die Pariser See- 
rechtsdeklaration vom 16. April 1856, welche die 
beiden Sätze „Frei Schiff, frei Gut“ und „Un- 
frei Schiff, frei Gut“ aufstellte und so den Handel 
der Neutralen im Seekrieg sicherte (bgl. näher d. 
Art. Prise). Eine zunächst abschließende Kodifi= 
kation fand das Neutralitätsrecht dann auf der 
zweiten Haager Konferenz von 1907 (Abkommen 
Vuu. XIII) und der Londoner Seekriegsrechtskon- 
ferenz von 1908/09 (vgl. d. Art. Krieg, Ab- 
schnitt IV, 2). 
II. Arten der Neutralität. 1. Dem Begriff 
nach gibt es nur eine strikte Neutralität, nicht aber 
Gradunterschiede innerhalb derselben. Denn jede 
Neutralität usw. 
  
1316 
irgendwie geartete Beteiligung am Kriege verletzt 
die Neutralität. Infolgedessen steht die vielfach 
übliche Unterscheidung in vollkommene und 
unvollkommene Neutralität im Widerspruch 
mit dem Wesen derselben. Gleiches gilt von der 
sog. wohlwollenden Neutralität. Diese neu- 
tralité bienveillante, wie sie noch der deutsch- 
österreichische Bündnisvertrag vom 7. Okt. 1879 
(Art. 2) statuiert, kann sich zwar in diplomatischer 
Unterstützung äußern, sobald sie aber mehr tut, ist 
für den Gegner der Kriegsfall auch diesem Staate 
gegenüber gegeben. Wohl aber darf die Regierung 
eines neutralen Staates ihre „Sympathien“" der 
einen Kriegspartei aussprechen, besonders wenn 
ein unzweifelhafter Rechtsbruch oder eine bestimmte 
Interessengemeinschaft vorliegt (uogl. z. B. die 
Sympathiekundgebungen Deutschlands und Frank- 
reichs für die Buren Ende 1900), nur darf sich 
diese Sympathie nicht in wirklicher Unterstützung 
äußern. Die Anbietung der „guten Dienste" ist 
nicht nur nicht eine Verletzung der Neutralität, 
sondern vielmehr ausdrücklich als Recht jedes 
Staates anerkannt (vgl. d. Art. Krieg, Abschn. 
„26b). 
2. Die „bewaffnete“ Neutralität stellt sich 
ebenfalls nicht als eine besondere Art der Neu- 
tralität dar. Denn wenn es auch den neutralen 
Mächten freisteht, ihre Neutralität durch Truppen- 
ansammlungen, Hafensperre zu schützen, so sind sie 
doch verpflichtet, ihre Neutralität zu wahren. Erst 
wenn diese Schutzmittel zu direktem Angriffe gegen 
einen der Kriegführenden benutzt werden, wird die 
bewaffnete Neutralität zur Teilnahme am Kriege. 
3. Ein wirklicher Artunterschied läßt sich nur 
danach aufstellen, ob die Neutralität eine frei- 
willige ist, d. h. ob dem betreffenden Staate 
das prinzipielle Recht der freien Entscheidung, 
für einen der Streitteile Partei zu ergreifen oder 
nicht, gewahrt ist, oder ob er vertragsmäßig 
sich zur Neutralität verpflichtet hat. Diese kon- 
ventionelle Neutralität kann sich dann wieder 
entweder nur auf einen bestimmten Kriegsfall bzw. 
alle Kriege des Vertragsgegners mit dritten oder 
auch nur einzelnen Staaten beziehen, oder aber 
überhaupt auf den Ausbruch irgend eines Krieges 
zwischen dritten Staaten: dauernde Neu- 
tralität. 
III. Rechte und Pflichten der neutralen 
Staaten. Mit dem Ausbruch des Krieges ist das 
Rechtsverhältnis der Neutralität eo ipso gegeben, 
ohne daß es einer besondern Neutralitätserklärung 
bedarf. Eine Modifizierung der Rechte und Pflich- 
ten der Neutralität ist durch eine etwaige solche 
Erklärung weder beabsichtigt noch auch nur mög- 
lich. Die Rechte und Pflichten der neu- 
tralen Mächte sind nach heutigem Recht 
folgende: 
1. Im Landkriege: Als oberster Grundsatz 
ist von dem V. Haager Abkommen die Unver- 
letzlichkeit des Gebietes der neutralen Mächte sta- 
tuiert (Art. 1), die selbst mit Waffengewalt ver- 
— 
—
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.