Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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1815 hatten die Niederlande eine neue Ver- 
fassung mit Zweikammersystem erhalten. Die 
Mehrheit hatten die Konservativen, die Regierung 
blieb jedoch der Krone. Das Jahr 1848 brachte 
den Übergang zum parlamentarischen Regierungs- 
system und (mit der neuen Verfassung vom 3. Nov.) 
zur direkten Wahl, welche die Liberalen ans Ruder 
brachte. Unter ihrem begabten Führer Thorbecke 
(Ministerpräsident 1849/53) wurde der ganze 
Staatsorganismus in liberalem Sinne reformiert. 
Auch die Katholiken, eine starke Minderheit im 
Staate, hielten anfangs zu den Liberalen und er- 
reichten 1848 die Freigebung des Unterrichts und 
1853 die Wiederherstellung der katholischen Hier- 
archie, worüber das Ministerium Thorbecke ge- 
stürzt wurde. In den nächsten Jahrzehnten wech- 
selten konservative und liberale Kabinette. Luxem- 
burg und Limburg schieden 1866 aus dem damals 
aufgelösten Deutschen Bund aus, ersteres wurde 
1867 neutralisiert. Die Verwaltung der ostindi- 
schen Kolonien wurde durch allmähliche Abschaf- 
fung des auf Zwangsarbeit beruhenden Kultur- 
svstems reformiert. 1873 wurde die heute noch 
nicht ganz beendete Unterwerfung von Sumatra 
begonnen. Da der Kronprinz Alexander 1884 
starb und keine männlichen Erben aus dem orani- 
schen Hause vorhanden waren, wurde 2. Aug. 
1884 die Thronfolge in dem Sinne geregelt, daß 
zunächst Wilhelms III. Tochter Wilhelmine, dann 
seine Schwester, die Großherzogin von Sachsen- 
Weimar und ihre Deszendenz, endlich die Ge- 
schwister Wilhelms II. und deren Deszendenz erb- 
berechtigt sein sollten. 
Die alte konservative Partei wurde allmählich 
aufgesogen von der antirevolutionären Partei, die 
von dem frommen und tiefsinnigen kalvinistischen 
Historiker Groen van Prinsterer gegründet wor- 
den war und das ganze Staatsleben mit christ- 
lichem Geiste durchtränken wollte. Ihr real- 
politischer Führer Kuyper schloß 1887 mit der 
vom genialen Dichter und Gelehrten Schaepman 
(gest. 1903) geführten katholischen Partei das 
folgenreiche Bündnis, das 1893 durch Beitritt 
der kleinen orthodox-kalvinistischen „christlich- 
historischen“ Partei erweitert wurde. Durch die 
Ausdehnung des Wahlrechts 1887 kam diese 
„christliche Koalition“ erstmals ans Ruder (1888 
bis 1891 Ministerium Mackay), dann wieder 
1901/05 unter Kuyper und seit 1908 unter 
Heemskerk. Der politische Kampf drehte sich haupt- 
sächlich um das Schulwesen. Die liberale Schul- 
gesetzgebung von 1848, 1857 und 1878 ignorierte 
das Christentum und subventionierte die religions- 
losen Gemeindeschulen, daneben gestattete sie kon- 
fessionelle Privatschulen. 1889 wurde auch für 
letztere eine staatliche Unterstützung bewilligt und 
seitdem öfters erhöht; da ihre Anhänger auch zu 
den Kosten der Gemeindeschulen beitragen müssen, 
stimmte auch ein Teil der Liberalen dafür. Als 
König Wilhelm III. 1890 starb, löste sich die 
Personalunion mit Luxemburg; in den Nieder- 
Niederlande. 
  
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landen folgte seine Tochter Wilhelmine (geb. 1880, 
bis 1898 unter Regentschaft ihrer Mutter Emma, 
1901 vermählt mit Prinz Heinrich von Mecklen- 
burg-Schwerin). Unter der Regierung der „libe- 
ralen Union“, die Goeman Borgesius der christ- 
lichen Koalition gegenüber gründete, wurde 1896 
das allgemeine Wahlrecht (an geringen Zensus 
und Bildungsnachweis geknüpft), 1899 eine Un- 
fallversicherung und 1900 die allgemeine Schul- 
pflicht eingeführt. Im Vordergrunde des Inter- 
esses stehen Heeresfragen (Einführung der all- 
gemeinen Wehrpflicht und des Milizsystems), von 
wirtschaftlichen Unternehmungen die Austrocknung 
der Zuidersee und die Entwicklung des Kolonial- 
besitzes. 
II. Fläche und Pevölklkerung. Das König- 
reich hat (einschließlich der Kolonien) einen Flächen- 
inhalt von 2078 647 qkm mit rund 44,9 Mill. 
Einwohnern, 21,6 auf 1 qkm. Das Mutter- 
land umfaßt ohne die Zuidersee und die Watten 
(5250 qkm) sowie ohne den Anteil am Dollart 
(95,5 qkm) 33.078 (nach der Katastervermessung 
ohne Wege und Flüsse 32 538) qkm mit (31. Dez. 
1899) 5 104 137 (2520 602 männlichen und 
2583 553 weiblichen) Einwohnern, 154 auf 
1 qkm. Nach der Berechnung der Standesämter 
stiegdie Bevölkerung bis Ende 1908 auf 5 825 198. 
Die Bevölkerung nahm von 1830 (2613 487) 
bis 1879 (4012 693) um 53% zuz sie betrug 
1890: 4511 415 Seelen und stieg bis 1899 um 
13,94% , am stärksten (20,65 /) in Südholland, 
am schwächsten (2 %% ) in Friesland. In den Ge- 
meinden mit über 20 000 Einwohnern betrug der 
Zuwachs seit 1880: 165,7, in denen unter 
20000 Einwohnern 69,5% , im ganzen Reiche 
95,29% . Am dichtesten besiedelt sind Südholland 
(380 auf 1 qkm) und Nordholland (346,5), 
am dünnsten Overyssel (99,6) und Drenthe 
(55,8). Der Konfession nach unterschied die Zäh- 
lung von 1899: 1 790 161 (35,1 % ) Katholiken, 
3068 129 (60,3%) Protestanten, 8754 „Ult- 
Römische“, 103 988 (2 %%) Juden, 17 926 anderer 
und 115 179 ohne Konfession (2,25%). Ganz 
katholisch sind Limburg, Nordbrabant und das 
südliche Geldern, ganz protestantisch die nördlich- 
sten, gemischt die mittleren und westlichen Pro- 
vinzen. Von den Protestanten bekannten sich 
2471 021 (48,4% der Einwohner) zur niederlän- 
dischen reformierten Konfession, 861 129 (7,08%) 
zur reformierten, 70 246 (1,38% ) zur evange- 
lisch-lutherischen; 57 789 (1,13 %) waren Men- 
noniten, 20 807 (0,41 % ) Remonstranten, 54629 
(1,07%) christlich -reformierte Remonstranten, 
22 651 (0,44 % ) Hersteld-Lutheraner usw. Die 
Bevölkerung ist durchaus germanisch; 1899 zählte 
man 5.051 148 Niederländer (71 % Holländer, 
14% Friesen, 13 % Flamländer und 2 % Nie- 
derdeutsche), 31 865 Deutsche, 14 903 Belgier, 
1018 Franzosen, 1307 Engländer, 3626 andere 
Fremde. — Die Verfassung kennt seit 1851 keinen 
Unterschied zwischen Städten und Dörfern, son-
	        
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